Poonal Nr. 210-211

Deutsche Ausgabe des wöchentlichen Pressedienstes lateinamerikanischer Agenturen Nr. 210/211 vom 20. September 1995

Inhalt


HAITI

MEXIKO

NICARAGUA

HONDURAS

ARGENTINIEN

PUERTO RICO

PARAGUAY

EL SALVADOR

DOMINIKANISCHE REPUBLIK

PANAMA

VENEZUELA

BOLIVIEN

GUATEMALA

LATEINAMERIKA

URUGUAY


HAITI

Der Michel-Bericht

(Port-au-Prince, August 1995, hib).- „Neun Monate Regierungszeit, um den Notstand hinter sich zu lassen“ heißt der Bericht, den Premierminister Smarck Michel präsentierte. Das Dokument bekräftigt den neoliberalen Kurs der Regierung und das Strukturelle Anpassungsprogramm (SAP), das seit der Rückkehr von Präsident Jean-Bertrand Aristide im vergangenen Herbst angewandt wird. Bei der Präsentation des Berichtes erwähnte Michel weder das Gesundheitswesen noch das Bildungssystem. Das Thema Gerechtigkeit fand nur am Rande Erwähnung. Stattdessen legte der Premierminister den Schwerpunkt auf „finanzielle“, „institutionelle“ und makro- ökonomische Aspekte. Er listete die Geldversprechungen an Haiti, überwiegend von den USA und den multilateralen Banken, auf und betonte die Notwendigkeit, die Privatisierung der staatlichen Industrien voranzutreiben. Wiederholt betonte Michel, nicht für die Wirtschaftspolitik seiner Regierung verantwortlich zu sein und verteilte quasi als Beweis Kopien des neu gefassten „Parplans“ (im August 1994 trafen sich haitianische Regierungsfunktionäre mit Vertreter*innen von Weltbank, Internationalem Währungsfonds, der USA, Frankreichs und anderer Geldgeber; damals wurde im wesentlichen die heute Wirtschaftspolitik festgelegt). Er versuchte jedoch, die Politik damit zu rechtfertigen, die Haitianer*innen hätten am 16. Dezember 1990 das Mandat zum „Wechsel“ gegeben. Dabei wären Reformen wie Handelsliberalisierung, Privatisierung, Reduzierung des Staatsanteils eingeschlossen gewesen

Der Premierminister begann mit Zahlen: Das Budget für das am 30. September endende Haushaltsjahr betrug 4 Milliarden Gourdes (267 Millionen US-Dollar). Die Regierung hat bisher 1,8 Milliarden Gourdes eingenommen und erwartet insgesamt Einnahmen von etwas über 2 Milliarden. Die ausländische „Hilfe“ soll 2 Milliarden Gourdes erreichen und damit die Hälfte des Budgets ausmachen. Dennoch zeichnet sich ein Defizit von 341 Millionen Gourdes ab. Für das kommende Haushaltsjahr sind 4,5 Milliarden Gourdes eingeplant. Michel erwähnte die Stabilität der einheimischen Währung gegenüber dem Dollar (obwohl der Gourdes kürzlich einige Prozentpunkte absackte – unter anderem, weil die Regierung im Juni einen größeren Geldumlauf erlaubte). Den Schwerpunkt des Berichtes waren die Programmpunkte, die nach Michel aus dem „Notstand“ herausführen sollen. Er nannte schnelle Reformen wie Zollsenkungen und Arbeitsbeschaffungsprogramme, um die langfristigen, strukturellen Veränderungen wie die Privatisierung, ein neues Steuersystem und die „Modernisierung“ des Staates, die Reform des Zoll- und des staatlichen Finanzwesens sowie die Dezentralisierung der staatlichen Bürokratie vorzubereiten. Neue Kredite der multilateralen Institutionen sollen dazu benutzt werden, die schlimmsten Auswirkungen des Strukturellen Anpassungsprogrammes zu lindern – Michel sagte 180 Millionen Dollar an „SAP-Anleihen“ voraus. In den über 80 Ländern, in denen die SAPs angewandt worden sind, haben sie überwiegend zu höherer Arbeitslosigkeit, mehr Unterbeschäftigung und der Kürzung von Dienstleistungen, bzw. deren Preiserhöhung geführt. Die Inflation dagegen wird oft unter Kontrolle gebracht und das jeweilige Land kommt peinlich genau seinen Zahlungen der Auslandsschuld nach.

Michel kommentierte: „Wir wissen, daß die SAPs in allen Ländern Schaden verursachen. Doch wir haben etwas, was uns von anderen Ländern unterscheidet. Drei Jahre Staatsstreich haben bereits 60 Prozent der Anpassung bewirkt.“ Der Premierminister sprach erstaunlicherweise aus, was Mitglieder der Volksbewegung lange Zeit versicherten: Das dreijährige löchrige Embargo währenddessen das de facto-Regime staatliche Fabriken schloß und Ersatzprodukte importierte, war ein erster Schritt, die Wirtschaft Haitis neu zuorganisieren und zu orientieren, um sie den Bedürfnissen des Weltmarktes besser dienlich zu machen. Michel ging noch weiter: Die Haitianer*innen würden nicht leiden, da „die Regierung … für niemanden etwas tut… [daher] wird das SAP keine einzige Dienstleistung abschaffen“. Er kündigte die Wiedereröffnung der staatlichen Minen- (!!!!flour mill, bitte Übersetzung nachprüfen!!!!) und Zementwerke in Vorbereitung auf ihren Verkauf oder ihre langfristige Vermietung an. Im Minenwesen (!! !flou mill!!!) sei die endgültige Entlassung von 500 der 677 Arbeiter*innen möglich. Die Regierung zieht ebenfalls den Verkauf von Anteilen an der Telefongesellschaft, Privatverträge für das Management der Häfen und Flughäfen sowie den Verkauf der staatlichen Elektrizitätsgesellschaft in Betracht.

In Voraussicht der Kontroverse über die Privatisierung und die allmähliche Mobilisierung gegen den Neoliberalismus unterstrich Michel, es werde keine Privatisierungen geben, bevor das Parlament über ein entsprechendes Gesetz abgestimmt und die Öffentlichkeit nach einer Aufklärungskampagne der Regierung zugestimmt habe. Der Premier sagte zwar, Haiti könne einen „anderen Weg“ wählen. Sofort fügte er aber bedeutungsvoll hinzu, das Land solle sich „der Konsequenzen bewußt sein“. Falls die internationale Gemeinschaft die Zurückweisung des Parisplans nicht für gerechtfertigt halte, könne sich alle Hilfe. Er endete mit einer Drohung gegenüber Parlament und Öffentlichkeit: „Eins ist klar: Wenn alle Teile nicht ihre Rollen spielen und wenn es keine strukturelle Anpassung gibt… wird die Regierung enormen Haushaltsproblemen gegenüberstehen, deren Folgen auf wirtschaftlicher und sozialer Ebene unkalkulierbar sind….“

Weil sie vom negativen Image des Internationalen Währungsfonds und der Unbeliebtheit seiner strukturellen Maßnahmen wissen, wollen weder Michel noch Aristide die Verantwortung für diese Politik in der Öffentlichkeit übernehmen. Sie reichen den Ball weiter: Michel macht den Parisplan verantwortlich, während Aristide Michel und seine Minister verantwortlich macht. Ürberraschenderweise verteidigt Michel jedoch die Kritik seines Präsidenten. „Ich habe kein Problem damit, daß der Präsident das 'politische Management' übernimmt, während ich dem 'verwaltungstechnischen Management' vorstehe“. Nach Michels Interpretation hat Aristide eine Pflicht zur abweichenden Meinung, wenn er glaubt, die Leute würden eine Sache nicht verstehen. „Der Präsident muß sagen 'ich bin noch nicht mit dem Programm einverstanden'. Das verpflichtet mich, das verwaltungstechnische Management, es zu verteidigen. Das ist keine Konflikt. Das ist Pädagogik.“ Als ein Journalist die Frage stellte, ob es nicht „Demagogie“ sei, wenn der Präsident Opposition zur Regierungspolitik vorgebe, obwohl er tatsächlich mit ihr übereinstimme, nannte Michel dieses Verhalten erneut „politisches Management“ und rechtfertigte es.

Urteil gegen „Zimbabwe“

(Port-au-Prince, 28. August 1995, hib-POONAL).- Für seine Beteiligung an dem Mord an Antoine Izmery vor zwei Jahren wurde der 38jährige Gerald Gustave zu lebenslanger Zwangsarbeit verurteilt. Für die Verurteilung nach einem 14stündigen Prozeß waren zwei Zeugenaussagen entscheidend. Gustave, unter dem Spitznamen „Zimbabwe“ bekannt, hat danach Izmery aus der Menge gezerrt, als er an einer Messe teilnahm und ihm dem ausführenden Todesschützen gezeigt. Ausserdem soll er eine andere Person frühzeitig gewarnt haben, wegzugehen, „weil etwas passieren wird und Du ein Opfer sein könntest“. Der Prozess wurde unter anderem von der Internationalen Zivilen Mission aus OAS und UNO sowie dem früheren haitianischen Premierminister Robert Malval beobachtet. Weitere elf in den Mord verwickelte Personen sollen vor Gericht gebracht werden, doch gab es keine konkrete Ankündigung, wie die Regierung ihrer habhaft werden will. Viele von den Tatverdächtigen sind in der Dominikanischen Republik.

MEXIKO

Neuer Schwung in San Andrés – Zapatisten und Regierung

haben sich etwas zu sagen

(San Andrés Larráinzar, 11. Septebmer 1995, POONAL).- Und sie bewegen sich doch – wenigstens ein bißchen. Nach sechstägigen Verhandlungen einigten sich die Delegationen der Zapatistischen Armee für die Nationale Befreiung (EZLN) und der mexikanischen Regierung am frühen Montagmorgen auf ein erstes inhaltliches Treffen im Oktober. Dann soll eine Arbeitsgruppe über die Rechte der Indígenas sprechen. Beide Seiten schienen von Anfang an das sechste Treffen in San Andrés Larráinzar nicht verlassen zu wollen, ohne endlich die Regeln des weiteren Dialogvorgehens festgelegt zu haben. Der Abbruch der Gespräche durch die Zapatisten, wie ihn einige Medien nach einem scharfen Kommuniqué des Subcomandante Marcos Ende August angekündigt hatten, stand überhaupt nicht zur Debatte. Zeitweise war bereits von Flitterwochen zwischen den Kontrahenten die Rede. Soweit ist mit Sicherheit weder jetzt gekommen noch wird es in absehbarer Zeit so sein. Doch ein neues Verhandlungsklima war in San Andrés spürbar. Die Regierung scheint die EZLN im Gegensatz zu ihrem Verhalten bei früheren Treffen wieder wesentlich ernster zu nehmen.

Ein Grund dürfte die landesweite Befragung sein, zu der die EZLN aufgerufen hatte und die am 27. August stattfand. Nach dem vor wenigen Tagen von der für die Organisation zuständigen Alianza Cívica bekanntgegebenen Endergebnis nahmen daran knapp 1,1 Millionen Menschen teil. Die Zapatisten bekamen dabei eine breite Rückendeckung für ihre mögliche Umwandlung in eine politische Kraft. Sie haben zwar noch keine eingehende offizielle Reaktion gezeigt, können die Befragung aber als Erfolg für sich verbuchen. Die Comandantes Tacho und David der EZLN sprach davon, die Befragung habe der Regierung „die Augen geöffnet“. Ein weiterer Punkt auf der Habenseite der Zapatisten ist ein während der Gespräche in San Andrés zusammen mit der Abgeordnetenkommission Cocopa unterschriebenes Dokument. Darin verpflichten sich die Parlamentarier, sich für eine Beteiligung der Aufständischen am Nationalen Dialog über eine Staatsreform einzusetzen. Auch die Kommissionsmitglieder der herrschenden PRI sowie die Abgeordten der konservativen PAN unterzeichneten. Bisher war die Cocopa als reines Gegengewicht der Regierung zur Nationalen Vermittlungskommission Conai unter dem Vorsitz von Bischof Samuel Ruiz angesehen worden. Die Regierung wirft der Conai vor, mit den Zapatisten zu sympathisieren. Jetzt wurde die Regierungsdelegation in Zugzwang gebracht. Sie hatte anfangs schon alle Hände voll damit zu tun, eine Äußerung von Präsident Ernesto Zedillo zu dementieren, der laut Abgeordneten der Partei der Demokratischen Revolution (PRD) die EZLN beim Nationalen Dialog bereits akzeptiert haben soll. Der Verhandlungsführer der Regierung, Marco Antonio Bernal und seine „graue Eminenz“, Gustavo Iruegas, gestehen den Zapatisten inzwischen zu, über nationale Themen zu sprechen, wenn auch nicht zu verhandeln. Eine solche Aussage wäreihnen vor Monatsfrist kaum zu entlocken gewesen. Auch der neue PRI-Vorsitzende Santiago Oñate erwähnt „nationale Dimensionen der Probleme in Chiapas“. Möglicherweise kann die Regierung ihre Haltung, die Themen Politik, Wirtschaft, Soziales und Kultur nur lokal begrenzt zu diskutieren, nicht mehr lange durchhalten.

Bei aller neuen Dynamik fehlten in den Kommuniqués der beiden Delegationen nicht die üblichen Seitenheibe und Beschuldigungen. So warf die EZLN, für die hauptsächlich der Comandante Tacho und der Comandante David sprachen, der Regierungsseite vor, vorschnell eine erste inhaltliche Arbeitsgruppe angekündigt zu haben. Die Regierungsdelegation ihrerseits ließ zwischen den Zeilen durckblicken, die Zapatisten bedienten sich der „Vorwände“, um den Verhandlungsfortgang zu verlangsamen. Generell scheinen die Zeitbegriffe beider Seiten auseinanderzugehen. Doch am Ende stand diesmal die Einigung. Selbst wenn die Regierung bei der Diskussion des Indígena-Themas auf dem regionalen Charakter der Forderungen bestehen sollte, so ist die landesweite Bedeutung dieses Anliegens allen politischen Akteuren klar.

NICARAGUA

Vergewaltigungsfall löst große Diskussion aus

– von Lidia Hunter

(Managua, 28. August 1995, sem-POONAL).- Die Stimme der gerade zehnjährigen Britania war nur als Flüstern im Radio zu hören. Sie erzählte einem Journalisten, wie sie von ihrem Stiefvater vergewaltigt wurde. Der Fall dieser Vergewaltigung hat in Nicaragua landesweit Aufsehen erregt. Denn der Stiefvater des Mädchen wurde von dem Polizisten und Rechtsstudenten Marvin Torres getötet. Dieser nahm die Justiz in die eigenen Hände und erschoß den Vergewaltiger im Juni dieses Jahres. In einem in der Geschichte des Landes beispiellosen Fall ergriffen tausende Menschen die Verteidigung des Polizisten, der jetzt im Gefängnis sitzt und auf eine Verurteilung wartet. Am Tag des Interviews wurden zwei Radiostationen mit Telefonanrufen bombardiert. Die Bevölkerung lobte das Verhalten von Torres und verlangte seine Beförderung. Innerhalb von 24 Stunden äußerten schätzungsweise 3.000 Personen über die Radiomikrophone ihre Meinung. Alle Zeitungen widmeten dem Vorgehen des Polizisten breiten Raum.

Der Fall löste auch andere ungewöhnliche Vorkommnisse in dem mittelamerikanischen Land aus. Zahlreiche Frauen, die vergewaltigt wurden und dies für sich behalten hatten, riefen die Radiosender an, sprachen öffentlich über ihre Erfahrungen und benannten ihre Peiniger. Die Behörden mußten sogar die Aussage des angeklagten Polizisten vor einem Hauptstadtgericht absagen, weil tausende Personen den Gerichtssaal besetzten, um Marvin Torres zu unterstützen. Ein Familienmitglied der kleinen Britania verteidigte allerdings den Stiefvater: „Wir sind sicher, daß er (der Stiefvater) sich weigerte, etwas zuzugeben, was er nicht tat. Darum übte der Polizist Druck auf ihn auf, steckte ihm die Pistole in den Mund und drückte ab.“ Marvin Torres seinerseits erklärte gegenüber Journalist*innen. „Ich bereue meine Tat. Ich habe wie ein angeekelter Familienvater gehandelt, als ich mich solchen zynischen Erklärungen gegenübersah, diesem Sarkasmus, mit dem er mir erklärte, er habe sie (das Mädchen) festgebunden, bevor er sie mißbrauchte…“ Der Fall löste auch eine Welle von Kritik an der Justizanwendung im Land aus. Hunderte von Vergewaltigern werden zeitweise festgehalten und bleiben dann trotz der Anklage gegen sie in Freiheit. Die offiziell bekannten Sexualdelikte in Nicaragua haben stark zugenommen. In den ersten sechs Monaten dieses Jahres wurden 1.110 Fälle von Vergewaltigungen angezeigt. Im Vorjahreszeitraum gab es 967 Anklagen. Die Mehrheit der Opfer sind Minderjährige, die aus armen und konfliktiven Verhältnissen kommen. Expert*innen vertraten gegenüber SEM die Meinung, der spezielle Fall sei der auslösende Knall in einer machistischen Gesellschaft gewesen, die in einer moralischen und wirtschaftlichen Krise steckt und vor der Arbeitslosigkeit Angst hat. Der Soziologe Juan Morales erklärt: „Die Tatsache, daß in der Mehrheit der nicaraguensischen Haushalte das tägliche Brot fehlt läßt den Mann, der sich als Familienoberhaupt ansieht, sich unnütz, aggressiv, verbittert, verzweifelt fühlen.“ Unter der Regierung der Sandinisten von 1979 bis 1990, so Morales „gab es wenigstens minimale soziale Bedingungen, um persönliche Sorgen zu kompensieren. Es gab kulturelle, künstlerische Alternativen. Jetzt werden die Arbeitsstätten geschlossen. Die Hoffnung der Leute, irgendeine Aktivität zum Überleben zu finden, schwindet. Die Frau nimmt heute in Nicaragua wieder ihre traditionellen Rollen ein und der Mann kehrt zur Arbeitslosigkeit zurück. Sie wird wie die Kinder zum Hauptopfer der Gewalt.“

Die derzeitige wirtschaftliche Lage des Landes ist chaotisch. Die Arbeitslosigkeit beträgt etwa 60 Prozent, der Mindeslohn liegt bei umgerechnet kaum 37 Dollar monatlich. Der Dekan der kommunikationswissenschaftlichen Fakultät der Universidat Centroamericana (UCA), Guillermo Rothschuh, sieht Nicaragua in der „schlimmsten moralischen und geistigen Krise der letzten 100 Jahre“. Einen Reflex davon sieht er auch im Verhalten der Journalist*innen in Fällen wie dem von Britania, denn „es wurden die Mikrofone eingeschaltet, ohne daß man vollständig davon überzeugt war, ob wirklich er (der Stiefvater) der Vergewaltiger des Mädchens war“. Die Psychologin Auxiliadora Marenco spricht sich für Sexualerziehung in den Medien aus: „Hier wird täglich eine Beisbolspiel übertragen. Warum nicht auch ein liberales Programm, das über Sexualität spricht, wie mit ihr umgehen, welches die verschiedenen Entwicklungsphasen des Kindes sind, wie die Fragen beantworten… Das alles würde diese so überaus hohe Rate von Sexualdelikten verringern, denn die Leute würden den Sex nicht als etwas Schmutziges ansehen, etwas, was nur unter der Bettdecke, hinter den Türen oder an dunklen Orten passiert.“

Die Nicht-Regierungsorganisation „Puntos de Encuentro“ (Treffpunkte) veröffentlichte einen Brief mit dem Titel „Gedanken über den Tod eines Vergewaltigers durch die Hand eines Polizisten“. Darin geht sie davon aus, daß die soziale Zensur inner- und ausserhalb der Familie dafür sorgt, daß viele Vergewaltigungen ungestraft bleiben. Die „schmerzlichen“ Vorkommnisse würden (in der Öffentlichkeit) eher das Opfer als den Aggressor diskreditieren. Genauso würden die Gesetze letzteren mehr begünstigen als das Opfer. Die Medien würden die Opfer eher als „Nachrichtenwert“ gebrauchen anstatt bei der Aufklärung zu helfen und die Bevölkerung zu sensibilisieren, um weitere solcher Delikte zu verhindern.

HONDURAS

Maquila – Allheilmittel für die Wirtschaft?

– von Doris Benavides T.

(Honduras, September 1995, POONAL).- Erst kamen die englischen Eisenbahnen, dann nisteten sich die Bananengesellschaften der USA ein. Jetzt ist es die nordamerikanische und asiatische Maquila (Teilfertigungsindustrie), die zusammen mit den ständigen internationalen Krediten den verzweifelten Ausweg für die Regierung und die Privatwirtschaft darstellen, die zerrüttete honduranische Wirtschaft aufrechtzuerhalten. Im Dezember dieses Jahres wird der Verhandlungsabschluß für einen bilateralen Vertrag zwischen den USA und Honduras im Rahmen der Freien Amerikanischen Handelszone (ALCA) erwartet. Die ALCA wurde auf dem Amerikagipfel im Dezember 1994 in Miami vereinbart. Für den Verhandlungsbeginn mußte die honduranische Regierung vier Grundvoraussetzungen erfüllen: Eine klar definierte Politik, die auf die Harmonie zwischen der ArbeiterInnenklasse und den Unternehmen abzielt; Regierungsstabilität; Respekt vor dem Teil des Urheberrechts- Gesetzes der USA, und die Anerkennung des Eigentums von Unternehmen und Personen aus den USA in Honduras. Der Vertrag soll angeblich die Handelsbilanz ausgleichen. Für einige Beobachter*innen sind jedoch die Maquilas die eigentlichen Nutzniesser. Durch das besagte Abkommen geschützt, können sie sich den Zugang zum US-Markt sichern und müssen keine der momentan noch gültigen Zölle entrichten.

Auf nationaler Ebene ist die Teilfertigungsindustrie durch das sogenannte ZIP-Gesetz (ZIP steht für Teilfertigungs-Industriezone) geschützt. Es entbindet die Unternehmen von Steuerzahlungen, die andere einheimische Firmen nicht vermeiden können. Um Existenz und Fortdauer der Maquila im Land zu rechtfertigen, reden Regierung und Unternehmer ständig von dem Nutzen auf wirtschaftlicher Ebene. Offensichtlich ist, daß der Großteil der Gewinn des Maquila- Exports in die Taschen der Unternehmer wandert, die unter dem Schutz des ZIP-Gesetzes nach Honduras kommen. Von den Verletzungen der Arbeitsrechte – darunter den niedrigen Löhnen – und den in einigen Fällen körperlichen Schädigungen wird nicht gesprochen. So verweigerte beispielsweise im März 1994 das Arbeitsministerium dem Priester Luis Barbarén, Vizepräsident des Komitees für die Rechte des Kindes der UNO, eine Genehmigung, die Maquila-Fabriken zu betreten. Barbarén hatte ständige Verletzungen der Kinderrechte in dem Industriezweig angeklagt.

Von Menschenrechtsorganisationen wird bezüglich des Mißbrauchs vor allem auf die koreanischen Unternehmen hingewiesen. Einige honduranische Unternehmer dagegen sprechen von „Kulturschock“. „Dafür gibt es bereits einen 'Rat der koreanischen Unternehmen', der die Geschäftsführung und das Fabrikpersonal über die Eigenschaft der einheimischen Arbeiterschaft instruiert“, sagt Emilio Murillo, Manager für die Industriezone „San Miguel“. Dieser Industriepark in San Pedro Sula etwa 200 Kilometer nördlich der Hauptstadt Tegucigalpa, ist einer von sieben im ganzen Land. Er besteht seit fünf Jahren und bietet elf Fabriken Platz, die sich der Fertigung und/oder Vermarktung von Kleidung widmen. Jeweils drei der Fabriken sind in koreanischer Hand und us-amerikanischer Hand. Die übrigen Investoren kommen aus dem Libanon, Taiwan, Pakistan und Hong Kong. Eine einzige Fabrik hat honduranische Besitzer. Die ZIPs entstanden 1988. Sie waren einen Antwort der Privatindustrie, um mit den staatlichen „Freien Zonen“ zu konkurrieren. Vorher waren in der Teilfertigungsindustrie 15.000 Menschen beschäftigt. Jetzt sind es mehr als 120.000 Personen, die dort arbeiten. Diese Art Industrie konzentriert sich Norden des Landes, mit Expansionsplänen für das Zentrum und den Süden. Das ZIP-Gesetz verbietet den Verkauf der Maquila-Produkte im Landesinnern, es sei denn, es wird ein Zoll von 100 Prozent bezahlt. Dennoch wird gelegentlich der Schmuggel der Ware berichtet, durchgeführt von den Fabrikbesitzern selbst. Die einheimischen Verbraucher*innen sind nicht als Nutznießer*innen der Maquila-Industrie vorgesehen. Auch nicht vom bilateralen Vertrag zwischen den USA und Honduras. „Es wird versucht, einen Dollarfluß zu schaffen, um auf internationaler Ebene wettbewerbsfähig zu sein und die Handelsbilanz auszugleichen“, sagt Manager Emilio Murillo. „Honduras importiert mehr als es exportiert und fast alle importierten Produkte sind Ausrüstung, Maschinen und Nahrungsmittel. Wir führen Getreide und manchmal sogar Reis und Bohnen ein, obwohl wir diese hier produzieren. Darum haben wir eine so große Auslandsschuld, nach Costa Rica die größte in der Region.“ Doch obwohl die honduranische Zentralbank über eine Erhöhung der Exporterlöse von 113,3 Millionen Dollar im ersten Quartal 1995 im Vergleich zu 1994 berichtet, scheint es für die einheimische Industrie kein Atemholen zu geben.

Die Auslandsschuld stieg 1994 weiter an. Die Devisenknappheit und die Dollarnachfrage sind jedes Mal arlamierender. Die Inflation galoppiert, die Lempira, die honduranische Währung wird auf dem Schwarzmarkt inzwischen fast 1:10 gehandelt. Die Wirtschaft hält sich mit Auslandskrediten über Wasser. Laut Funktionären der Zentralbank werden dieses Jahr noch 70 Millionen Dollar erwartet, die allein der Bedienung der Auslandsschuld zugedacht sind. Das Land bleibt weiterhin Agraexporteur. Nach wie vor ist die Banane das Hauptexport-Produkt. Dieser Markt ist seit Beginn des 20. Jahrhunderts in den Händen der US-Gesellschaften United Brands und Standard Fruit Company. Honduras bleibt eine anfällige Wirtschaft. Im Gegensatz yu seinen mittelamerikanischen Nachbarn Guatemala und El Salvador gibt es keine größere Umwandlung in der Industrie, sprich, eine Modernisierung, die Effizienz und Wettbewerbsfähigkeit erlaubt.

Die Maquila erscheint daher wie ein Allheilmittel. Aber gerade jetzt drohen die USA mit der Aussetzung der Importquote für Kleidung, die sie gerade erst für Honduras festlegten. Damit wäre praktisch die gesamte Vorjahresproduktion betroffen. Doch der Blick des Maquila-Marktes ist weiter in Richtung USA ausgerichtet. „Jeder will von diesem Kuchen ein Stück abbeißen“, sagt Murillo. Die Hauptaktivität besteht darin, Kunden in diesem Land zu suchen. Dessen Regierung, Unternehmer und Industrielle sind dabei, sich von den wichtigsten Grossgrundbesitzern in Honduras zu den Hauptaufkäufern der Maquila-Produktion zu wandeln. Wenn die Tendenz anhält, wird dieser Industriezweig bereits bis zum Jahr 2005 die Agrarexporte vom ersten Platz verdrängt haben.

ARGENTINIEN

Wachsender Protest

(Montevideo, 8. September 1995, comcosur-POONAL).- Präsident Menem erlebte am 6. September die größte Gewerkschaftsdemonstration, seit er es geschafft hat, die mächtige Allgemeine ArbeiterInnenzentrale (CGT) zu kontrollieren. Ein Aufruf zum befristeten Streik fand in den Provinzen des Landesinneren, besonders in Córdoba, Rosario und Neuquén grossen Zulauf. In der Provinz Tucumán verhaftete die Polizei Dutzende von demonstrierenden Menschen. Der Tag schloss mit einer Massenkundgebung von etwa 50.000 Personen mitten im Stadtzentrumvon Buenos Aires. Daran nahmen ausser der CGT zwei eindeutig oppositionelle Gewerkschaftsorganisationen teil. Letztere zogen sich jedoch von der Demonstration aus Protest gegen die laue Rede des CGT-Vorsitzenden zurück, der jede Anspielung gegen Präsident Menem vermied.

Klerus fürchtet Weltfrauenkonferenz

(Buenos Aires, September 1995, fempress-POONAL).- Der argentinische Kardinal Antonio Quarracino gab seinem christlichen Entsetzen Ausdruck, das er angesichts der realen Bedrohung der IV. Weltfrauenkonferenz in Peking empfindet. Während seines regelmäßig ausgestrahlten Fernsehprogrammes „Schlüssel für eine bessere Welt“ sprach er davon, von Dokumenten und Vorgeschichten zu wissen, die ihn düstere Ergebnisse des Treffens voraussehen lassen. Sichtlich irritiert, klagte derselbe Kardinal, der vor einigen Monaten die Homosexuellen als degeneriertes oder krankhaftes Produkt des menschlichen Daseins bezeichnet hatte, die Theorie von der „Generus-Perspektive“ an, über den Feminismus die Moral dieser Welt für immer zu beenden. Falls Sex nicht etwas biologisches sei, sondern eine durch die Kultur bestimmte persönliche Wahl, werde sich die Gesellschaft in einen „menschlichen Ameisenhaufen“ wandeln. „Dann muß man sich fragen, wo die Ehe enden wird, wenn sich das neue Königreich der Homosexualität und des Lesbentums gründet“, ergänzte Quarracino. Der argentinischen Delegation für Peking und speziell deren Chefin Zelmira Regazzoli riet er, sich nicht von einem „verrückt gewordenen Feminismus“ anwerben zu lassen.

PUERTO RICO

Männer für häusliche Gewalt

(Pürto Rico, September 1995, fempress-POONAL).- Eine Gruppe von Männern organisiert sich – aber nicht um Rechte zu verteidigen, sondern um Rechte anderer einzuschränken. Die „Kommission für Angelegenheiten von Vätern und Ehemännern für den Familienverbund“ gründete sich mit dem ausdrücklichen Ziel, das Gesetz 54 zu ändern. Dieses stuft die häusliche Gewalt als Vergehen ein. Geschickt rekrutierten verschiedene Männer, die zu Alimentenzahlungen verpflichtet sind oder deren Frauen und Kinder vor ihnen behördlich geschützt werden, eine alte Sozialarbeiterin im Ruhestand, um sich von ihr vor den Feministinnen „verteidigen“ zu lassen. Die alte Strategie, eine Frau mit anderen Frauen streiten zu lassen. Die Männer schützen sich mit Doña Trina Rivera und geben vor, an den Familienbund zu glauben. Sie wollen nicht einsehen, daß eine Frau zur Polizei und zu den Gerichten geht, um Schutz vor dem Lebenspartner zu suchen, eben weil das Familienleben nicht funktioniert. Die Gegner des erwähnten Gesetzes sagen, es schütze mehr die Frau als den Mann. Zur Verteidigung des Gesetzes 54, das ein Ergebnis ständiger Kämpfe der Frauenbewegung Puerto Ricos ist, ist eine große Gruppe aus Männern und Frauen zusammengekommen. Auf einem Plakat schrieben sie: „Die Männer, die die Frauen respektieren, fürchten das Gesetz 54 nicht.“

PARAGUAY

Generalstreik angekündigt

(Mexiko-Stadt, 11. September 1995, POONAL).- Die wichtigsten Gewerkschaften des Landes haben für den 25. September zu einem Generalstreik aufgerufen. Auslöser ist das brutale Vorgehen der Polizei gegen eine Gruppe von Campesinos am 7. September. Bei der Konfrontation zwischen den Polizisten und den Bäuer*innen in dem Ort Santa Rosa 300 Kilometer nordöstlich der Hauptstadt starb eine Person, mehrere Personen wurden verletzt. Die Campesinos hatten eine sofortige Antwort der Regierung auf ihre Landforderungen verlangt. Nach den gewalttätigen Ereignissen vereinbarten Bäuer*innen und Regierung einen „Waffenstillstand“. Die Regierung handelte sich unterdessen scharfe Kritik von kirchlicher Seite ein. Der Bischof Mario Medina beschuldigte sie, den Streitkräften, „die nichts produzieren“, zum Nachteil der ländlichen Gegenden Vorrang zu geben. Die für 1996 vorgesehene Erhöhung des Militärhaushaltes um 24 Prozent bezeichnete der Bischof als „Absurdität“ und ein „Desinteresse gegenüber den wirklichen Problemen des Landes“.

EL SALVADOR

Späte Enthüllungen

(Mexiko-Stadt, 11. September 1995, POONAL).- Ein Interview besonderer Art fand in El Salvador statt. Carlos Enríquez Consalvi, während des Bürgerkrieges unter dem Namen Santiago bekanntester Moderator des Guerillasenders „Radio Venceremos“, sprach mit dem ehemaligen Generalstabschef der regulären Armee, General Adolfo Blándon. Einen Großteil des Interviews nahmen die Anfangsjahre des Krieges ein. Blándon, der heute mit Brot handelt, gab zum ersten Mal größere Niederlagen der Armee gegen die Guerilleros der FMLN zu Beginn des Krieges 1980 zu. So hätten sich in den Provinzen Morazán und La Unión komplette Bataillone und Kompanien der Guerilla ergeben. Dies hätte jedoch der Öffentlichkeit zu großen Teilen verschwiegen werden können. 1982 und 1983 habe die FMLN fast wie ein normale Armee agiert. Erst mit der Militärhilfe der USA sei es gelungen, die Guerilla zu zwingen, wieder in kleinen Einheiten zu operieren und die sogenannte Taktik des „verlängerten Volkskrieges“ anzuwenden. Blandón, der von 1984 bis 1989 der starke Mann der Armee war, sagte, das Opfer der offiziellen Soldaten und der ehemaligen Kämpfer*innen der Guerilla werde heute nicht genügend anerkannt. „Wenn wir bei diesem demokratischen Übergang und auf dem politischen Feld vorankommen, dann nicht nur wegen des Opfers der Soldaten, sondern auch der Kämpfer der FMLN. Denn das Land brauchte Veränderungen, die ohne die Aktion der Frente Farabundo Martí und die Aktion der Streitkräfte nicht möglich gewesen wären.“ Der General im Ruhestand berichtete auch über ein Dokument des Militärs im Jahr 1984 an den damaligen Präsidenten José Napoleón Duarte. Darin hätten die Streitkräfte ihrer Meinung Ausdruck verliehen, ein militärischer Sieg über die Guerilla sei nicht möglich.

DOMINIKANISCHE REPUBLIK

Soldaten ins Zuckerrohr

(Mexiko-Stadt, 11. September 1995, POONAL).- Die dominikanische Regierung ließ die Zuckerrohrplantagen militarisieren, um die Proteste der Arbeiter*innen zu unterdrücken. Diese hatten sich in den vergangenen Tagen intensiviert, nachdem ein Demonstrant – wahrscheinlich durch einen Soldaten – erschossen wurde. Bereits wenige Tage zuvor starb eine Arbeiterin an den Wirkungen der von der Polizei abgeschossenen Tränengasbomben. Die Arbeiter*innen verlangen die Zahlung ausstehender Löhne und protestieren gegen die geplante Entlassung von 13.000 Beschäftigten auf den staatlichen Zuckerrohrfeldern, wie es der staatliche Zuckerrat vorsieht. Dessen Geschäftsführer Hugo Kunhart nannte die Entlassung nur temporär mit dem Ziel, angesichts der Schulden von 50 Millionen Dollar der staatlichen Zuckerindustrie einzusparen. Von anderen Seiten wird jedoch bezweifelt, daß die Entlassungen zeitlich begrenzt sein werden. Vielmehr wird des endgültige Kollaps des Zuckerrates befürchtet.

PANAMA

Amnestie durch stellvertretenden Präsidenten

(Mexiko-Stadt, 9. September 1995, POONAL).- Der stellvertredende panamaische Präsident Tomás Altamirano verabschiedete einen Gnadenerlaß für 139 Personen. Unter den Begünstigten befinden sich auch der ehemalige Generalstabschef unter General Manuel Noriega und der ehemalige Zentralbankchef Rodrigo Arosemena, der in Mexiko im Exil ist. Andere bekannte Amnestierte sind die Oberste Arnulfo Castrellón und Lorenzo Purcell sowie die Direktoren von drei Zeitungen. Der Generalstaatsanwalt José Sosa bezeichnete die Maßnahme als „Exzess“. Altamirano dagegen rechtfertigte sich mit dem Hinweis, es seien „Ungerechtigkeiten gegen Bürger begangen worden, die zu einem gegebenen Zeitpunkt durch eindeutige politische Aktione bestimmt gewesen waren“. Panamas gewählter Präsident Ernesto Balladares befand sich zur Zeit der Amnestie auf Auslandsreise in den USA und Asien.

VENEZUELA

Ruhe nach Treibstofferhöhungen

(Mexiko-Stadt, 11. September 1995, POONAL).- Die venozolanische Regierung erhöhte am Sonntag die Treibstoffpreise zwischen 70 und 130 Prozent. Befürchtete Unruhen blieben aus. Ein Grund dafür dürfte darin liegen, daß die Preise immer noch zu den niedrigsten in der Welt gehören. Vor der Erhöhung kostete ein Liter Benzin in Dollar gerechnet durchschnittlich drei Cents. Diese Preis hielt sich seit der letzten Erhöhung vom 27. Februar 1989, die vom Ex- Präsidenten Carlos Andrés Pérez verabschiedet wurde. Damals hatte es allerdings einen sozialen Aufstand gegeben, der als „Caracazo“ bekannt wurde.

BOLIVIEN

Kokaanbauer will nicht ins Kabinett

(Mexiko-Stadt, 7. September 1995, POONAL).- Die bolivianische Regierung machte ein ungewöhnliches Angebot: Sie lud Evo Morales, den Führer der Koka-Anbauer*innen ein, als stellvertretender Minister für Alternative Entwicklung ins Kabinett einzutreten. Dies geschah einem Tag, nachdem die Koka-Produzent*innen nach wochenlangen Konfrontationen zustimmten, ihren Anbau freiwillig zu vernichten. Kurz zuvor war Morales von der Regierung noch beschuldigt worden, die Drogenhändler zu schützen und zu einem bewaffneten Aufstand in der „Koka-Provinz“ El Chapare aufzustacheln. Morales selber nannte den Regierungsvorschlag „Erpessung und Spott“. Er werde sich niemals dem Neoliberalismus verschreiben. „Ich würde mir nicht gefallen, Angestellter der Regierung zu sein“, kommentierte er.

GUATEMALA

Durchsuchung des Cerigua-Büros

(Guatemala-Stadt, 5. September 1995, cerigua-POONAL).- Die Frühstückspause benutzten Unbekannte, um am 3. September die Büroräume der guatemaltekischen Nachrichtenagentur Cerigua zu durchsuchen. Sie nahmen einen Computer mit, dessen Archive Daten über die Menschenrechte im Land, den Verhandlungsprozeß mit der Guerilla, die Armee und die Wahlen vom kommenden 12. November enthalten. Cerigua-Korrespondentin Rosalinda Hernández schloß einen einfachen Raub aus, da die Diebe beispielsweise 890 Dollar in Bar nicht mitnahmen und auch drei weitere Computer und Arbeitsmaterial zurückliessen. Die Agentur spricht bezüglich der gestohlenen Archive von der „historischen Erinnerung Ceriguas“. Cerigua konnte lange Zeit nur aus dem Exil arbeiten. Seit die Agentur in Guatemala selbst ein Büro eröffnet hat, muß sie mit Schwierigkeiten kämpfen. Erst vor zwei Monaten reichte sie einen Protest gegen die guatemaltekische Staatsanwaltschaft ein. Diese versucht, die Agentur in einen Gerichtsprozeß gegen Aufständische wegen „Erpressung, Sabotage und Terrorismus“ hineinzuziehen. Der guatemaltekische Präsident Ramiro de León Carpio verurteilte inzwischen den Einbruch in den Büroräumen. Der Armeeoberst Guillermo Caal dementierte Vorwürfe, die Streitkräfte könnten etwas mit dem Vorfall zu tun haben. Journalist*innen des Landes und internationale Organisationen drückten ihre Solidarität mit Cerigua aus. Die Polizei- und Rechtsbehörden begannen mit Untersuchungen, um Motiv und Einbrecher festzustellen.

Repression gegen Stromgewerkschaft

(Guatemala, 13. September 1995, cerigua-POONAL).- García Rivera, Generalsekretär der Stromgewerkschaft „Luz y Fuerza“ wurde von mehreren schwerbewaffneten Männern mehr als einen Tag lang entführt. Den Berichten zufolge zerrten die Unbekannten ihn in den Morgenstunden des 12. September aus seinem Haus. Die Tat geschieht zu einem Zeitpunkt, zu dem die staatliche Stromgesellschaft EEGSA auf Anordnung der Regierung militarisiert ist. Die Besetzung der Büroräume sowie der Stromanlagen durch Polizei und Soldaten richtet sich gegen die Proteste der Gewerkschaft. Diese fordert unter anderem die Absetzung verschiedener leitender Angestellter der EEGSA wegen verschiedener Unregelmässigkeiten in dem Unternehmen. Nach der Entführung ihres Vorsitzenden lehnte die Gewerkschaft jegliche Verhandlung mit der Regierung und den EEGSA- Funktionären ab, bevor García Rivera nicht lebend wieder auftauche. Dieser gab nach seiner Freilassung in der Nähe einer Station der Feürwehr vorerst keinen Kommentar ab.

LATEINAMERIKA

Erklärung der Frauen-NGO's aus Lateinamerika und der Karibik in Peking

(Peking, 12. September 1995, alai-POONAL).- „Im I Ching, dem tausendjährigen Buch der chinesischen Kultur, gibt es ein Hexagram, das uns von der Kontinuität erzählt. Dieses Forum ist Teil davon, Teil eines Prozesses, den wir 1975 begannen, die intime und persönliche, akademische, öffentliche und institutionelle Etappen durchlaufen hat. Auf dem Weg nach Peking haben wir mit unseren Kämpfen die Herausforderungen und Vorschläge vollständiger gemacht, um auf die jedesmal komplexeren Entwicklungen in unseren Gesellschaften zu antworten. Wir haben erreicht, uns als soziale Subjekte zu gründen, wir haben neues Wissen über die Realität produziert. Wir haben die Führung auf verschiedenen Ebenen geschaffen und demokratische Kräfte angeregt, die die Grenzen des Öffentlichen wesentlich erweitert haben. Und wir haben etwas noch wichtigeres gemacht: Wir haben uns vorangebracht und dabei die Köpfe und die Gefühle von allen revolutioniert.

Innerhalb dieser Entwicklung haben wir die Generus-Frage auf die Tagesordnung gestellt, die immer mehr Bestandteil der öffentlichen Tagesordnung wird und die dazu diente, Politik zu entwerfen. Ihre Inhalte nehmen die weitreichende Erfahrung der Frauenbewegung der vergangenen Jahrzehnte auf. Unsere Forderungen und unsere Vorschläge sind heute von allgemeinem Interesse und die Geschlechtergleichheit ist ein unersetzbarer Bestandteil der Demokratie.

Aber niemand schenkt uns etwas, Frauen, hinter jeder Verhandlung (das wird heutzutage 'Lobby' genannt), hinter jeder Eroberung sind die Treffen für die Selbsterkennung, die unendlichen Märsche, die ewigen Diskussionen, die wissenschaftlichen Analysen und die brillianten Institutionen; da ist der Kampf von Juana um ihr Stück Land und der Kampf von Julieta in der Universität. Der Kampf von der ermordeten Maria Elena, weil sie ihren Frieden nicht wollten, der von Margot, die an jeder Ecke der großen Avenida steht, der von Ana, die sich in Irene verliebt und der Kampf von Domitila in den Minen, der hoffentlich im 21. Jahrhundert nicht mehr nötig ist. Da ist die Konfrontation und der geduldige Dialog. Und das sind, natürlich die geraubten Stunden Schlaf WEGEN DER TRÄUME, die verlorenen und eroberten Lieben, die Brüche und die Komplizinnenschaften. Wir waren tausende und wir sind tausende, die an dieser Kontinuität teilnehmen

Wir haben erreicht, daß unser Anliegen die nationalen Räume überschreitet, und einen regionalen und weltweiten Charakter hat, der der internationalen Frauenbewegung und den Aktionen und Forderungen der fortschrittlichen Kräfte Stärke und Macht gibt. Dieses Anliegen wird von den konservativen und fundamentalistischen Kräften angegriffen. Die auf den internationalen Foren erreichten Vereinbarungen werden in Frage gestellt und es gibt starken Druck, von dem bereits Eroberten zurückzugehen. Wo wir gerade dabei sind, zu diesem Punkt haben wir Frauen einen ganz konkreten Vorschlag: WICKELT DEN VATIKAN EIN (im spanischen Original: „Que se encorchete al Vaticano“).

Antonio Machado sagte 'wir sind viele Wege gegangen und haben beim Gehen Weg gemacht“, aber uns bleiben noch viele Wege, die wir gehen müssen. In keinem Land der Welt gibt es Gleichheit zwischen Männern und Frauen. In unserer Region bleibt die Gleichheit der Allgemeinen Menschenrechte, für die wir immer gekämpft haben, bedroht. Einige unserer demokratischen Institutionen sind schwach und die Demokratie selbst befindet sich in einer ständigen Gefahrdurch den Militarismus, den Autoritarismus, die Ungerechtigkeit und die Diskriminierung.

Die in den verschiedenen Ländern adoptierte Politik der strukturellen Anpassung, mag zwar die Geissel der Inflation kontrolliert haben, aber sie hat enorme soziale Kosten, die auf der Konzentration des Reichtums beruhen und sie fördert die Zersplitterung und den Ausschluß breiter Teile der Bevölkerung, indem sie das soziale Netz schwächt. Die tiefgreifende Veränderung der Produktionsstrukturen (Folge dieser Politik), die Verfeinerung der Technik und die Form des Zugangs zu einer immer homogeneren, monopolisierteren und umfassenderen Information schädigt die Subjektivität, die Werte, die Lebensformen sowie die persönliche und kollektive Geschichte unserer Gesellschaften.

Darum gehört es heute mehr als je zuvor zu den größten Herausforderungen, zu erreichen, daß wir Frauen aller sozialen Schichten und aller Kulturen unser Bürgerinnenrecht aktiv ausüben können. Auf den Ausschluß der sozialen Akteur*innen mit weniger Macht müssen wir mit der Gründung breiter Allianzen antworten, die ihre Präsenz auf den verschiedenen sozialen, öffentlichen und politischen Bühen garantieren. Wir müssen denen eine Stimme sichern, die keine haben, damit diese Stimme im von der Globalität vorgeschlagenen und so mißtimmigen Konzert der Kommunikationsmedien deutlich zu hören ist.

Auf die Ratlosigkeit, die Ungewissheit, die Gefühle der Frustration und des Mißtrauens, die wichtige Teile unserer Gesellschaft überkommen, antworten wir mit Werten und Aktionen. Von jedem Spielraum aus, den wir besetzen, setzen wir uns für eine Entwicklung ein, die von einer sozialen, demokratischen, gerechten Ordnung bestimmt ist und die eine Kultur der Geschlechtergleichheit einschließt. Wir haben keine Antwort auf alles, aber unsere Tagesordnung ist offen für die neuen Themen und die aktuellen Probleme, für die Besonderheiten jedes Landes und für die Zukunft.

Die in Pluralität gewandelte Unterschiedlichkeit hat die Demokratie bereichert und die Anerkennung von zivilen, politischen, sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Rechten erlaubt. Aber die Unterschiedlichkeit bringt auch das Risiko des Korporativismus mit sich, die Gefahr der Auflösung eines kollektiven Diskurses in eine Summe von verschiedenen Diskursen und Aktionen, die miteinander im Wettbewerb liegen. Die Unterschiedlichkeit birgt das Risiko der Ungleichheit, der Kräftekonzentration und Macht auf einige Gruppen zum Nachtteil von anderen. Diesen Gefahren zu begegnen erfordert an neue Artikulationsformen und -Kanäle zwischen den verschiedenen Identitäten und Strömungen der Bewegung zu denken. Es erfordert, die Gesellschaft auf neue Art zu denken. Es erfordert, Spielräume sicherzustellen, damit jede Gruppe sich entwickelt und sich in ihren Besonderheiten wiederfindet; Regeln zu schaffen, die den Respekt vor den Identitäten und der Mittelverteilung garantieren.

Wir sind zu dieser IV. Konferenz gekommen, um Lobby zu machen, das stimmt. Wir sind gekommen, intrigieren, aber wir machen das von der Kontinuität unserer Kämpfe aus und mit der Kraft der tausenden, die wir hier sind und der Millionen, die von unserer Region aus erwarten, daß wir von den Regierungen fordern, die Aktionsplattform zu verabschieden, konkrete Instrumente, dieunseren Gesellschaftsbeitrag sicherstellen. In dieser Aktionsplattform müssen die Regierungen unsere Beteiligung im Moment der Richtliniendiskussionen und des Politikentwurfs sowie bei deren Anwendungs- und Auswertungsprozessen garantieren. Und sie müssen sich natürlich verpflichten, die dazu notwendigen Mittel möglich zu machen, in Demokratie und Zukunft zu investieren.

Wir brauchen öffentliche Institutionen, die die soziale Gleichheit garantieren. Mit Regeln und Vorgehensweisen, die transparent sind und die Beteiligung der BürgerInnenschaft sichern. Wir müssen zu aktiven Akteurinnen der Neugründung des sozialen Netzes und neuer kollektiver und solidarischer Praktiken werden. Eine Zukunft, die uns nicht einschließt, ist nicht möglich, die Zukunft ohne unsere Beteiligung kann nicht einmal gedacht werden.

Der Weg nach Peking hat jede von uns mit Frauen der ganzen Region zusammengebracht, auf eine bisher nicht bekannte Art. Wenn wir von 'Lateinamerika und der Karibik' sprechen, meinen wir nicht einfach nur eine Landkarte. Wir sind mehr als eine geographische Region. Wir sind Bewegung, Praxis und Theorie, die zusammen gehen. Unsere Kraft wird immer darin bestehen, dieses Geflecht aus Unterschiedlichkeiten und Übereinstimmungen lebendig zu halten. Lateinamerika und die Karibik, Produzentin von Mais, Kupfer, Kaffee, Zucker und Kartoffeln. Lateinamerika und die Karibik, Produzentin der Träume und des magischen Realismus, wird neue Utopien produzieren, die die Unzufriedenheit in Übereinstimmung, in Energien für die Bildung einer besseren Welt transformieren. Von Peking kehren wir in unsere Häuser bereichert mit den Träumen der Frauen aus aller Welt zurück und mit der Verpflichtung, daß wir nur die Vermittlerinnen dieser Utopien sein werden. Denn es gibt keinen Zweifel Compañeras, das wir Frauen eine Waffe sind, die mit Zukunft beladen ist.“

URUGUAY

Mißtände in der Psychatrie

(Montevideo, 8. September 1995, comcosur-POONAL).- Wie so viele andere Gesellschaften hat auch die uruguayische ihre Augen traditionellerweise vor dem „Irresein“ verschlossen. Das Thema wird gefürchtet und verborgen. Daher ist es nicht erstaunlich, daß sich der überwiegende Teil der psychatrischen Krankenhäuser in entlegenen Zonen befindet. Ihre alltägliche Realität wird von der Mehrheit nicht wahrgenommen und wird nur dann zur Nachricht, wenn ein tragisches Ereignis passiert. Aber hinter dieser Unwissenheit oder Gleichgültigkeit verbirgt sich eine tägliche Tragödie. Nach einem Bericht der uruguayischen Institutes für Rechtliche und Soziale Untersuchungen (IELSUR), der zusammen mit der US- Organisation Mental Disability Rights International au sgearbeitet wurde, werden in Uruguay die Menschenrechte der psychisch Kranken verletzt. Die Untersuchungen, die Ende des Jahres 1993 gemacht wurden ergaben, „daß für die Mehrheit der Patient*innen die psychatrischen Dienste nicht das Gebot erfüllen, ihre persönliche Selbstständigkeit zu stärken oder ihre Rehabilitierung und Wiedereingliederung in die Gesellschaft zu fördern“. In einigen Psychatriezentren wird dem Dokument zufolge die Elektrokonvulsions- oder Elektroschocktherapie unangemessen angewandt. Die Untersucher*innen berichten auch darüber, daß „diepsychatrischen Institutionen überhaupt keine Psychotherapie anbieten“. Und weiter: „Die Unterkunftsbedingungen erfüllen im allgemeinen nicht den Respekt vor der Würde, mit heruntergekommenen Gebaeuden und anti-hygienischen Bedingungen.“ In der Anstalt im Stadtviertel Etchepare beispielsweise „überschwemmt das Wasser aus den verstopften Toiletten die Gänge und einige Patienten schlafen auf den schmutzigen Böden“. Aufgrund fehlender Rehabilitierungsprogramme bleiben die Patienten nicht weniger als zehn Jahre interniert. Das widerspricht den neueren Tendenzen der internationalen Forschung. „Die Trennung dieser Personen von der Gemeinschaft bricht ihre persönlichen, familiären und wirtschaftlichen Verrbindungen mit der Aussenwelt“, so die Diagnose. Das Personal weist der Studie nach Mängel auf, ist schlecht ausgebildet, wird schlecht bezahlt und bekommt keine Anreize und Berufsperspektiven. Gesundheitsminister Dr. Alfredo Solari reagierte schnell: Vor einer Parlamentskommission leugnete er die Verletzung der Rechte psychisch Kranker. Seiner Auffassung nach lässt der Bericht „durchschein, daß es in Uruguay Gulags gibt… das ist nicht so'. Dennoch gab er die fehlende Ausstattung zu. Die Abgeordneten wollen persönlich die psychatrischen Krankenhäuser besuchen, um die Situation zu überprüfen.

CC BY-SA 4.0 Poonal Nr. 210-211 von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.

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