Deutsche Ausgabe des wöchentlichen Pressedienstes lateinamerikanischer Agenturen Nr. 186 vom 28.03.1995
Inhalt
GUATEMAL/USA
GUATEMALA
MEXIKO
Subcommandante Marcos: Die Geschichte der kleinen Antonietta
EL SALVADOR
DOMINIKANISCHE REPUBLIK
HAITI
BOLIVIEN
KUBA
PERU
ARGENTINIEN
KOLUMBIEN
GUATEMAL/USA
CIA in Morde verwickelt
(Guatemala, 24. März 1995, cerigua-POONAL).- Der nordamerikanische Geheimdienst CIA ist offensichtlich in den Mord an dem US-Bürger Michael Devine im Jahr 1990 und das Verschwindenlassen des Guerillakommandanten Efraín Bámaca im Jahr 1992 verwickelt. Beide Fälle hatten in den vergangenen Jahren wiederholt für Aufsehen gesorgt. Nachforschungen des demokratischen US-Kongreßabgeordneten Robert Torricelli haben den guatemaltekischen Oberst Julio Roberto Alpírez schwer belastet, für die Verbrechen verantwortlich zu sein. Er stand zur Zeit der Morde auf der Gehaltsliste des CIA. Nach Torricellis Informationen wurde auch Bámaca nach seiner Gefangennahme und Folter am 12. März 1994 umgebracht.
Mutmaßlicher Mörder stand auf der Gehaltsliste der CIA
Obwohl der CIA – nach den derzeitigen Informationen – sofort von den Morden erfuhr, hüllte sich der Geheimdienst in Schweigen. Er zahlte dem Oberst sogar noch Monate später 44.000 Dollar für Informationen über den internen Krieg in Guatemala. Später wurden das Außenministerium und der Nationale Sicherheitsrat der USA unterrichtet. Diese hielten es jedoch nicht für nötig, ihre Kenntnisse der Anwältin Jennifer Harbury, Ehefrau des Guerillakommandanten Bámaca, mitzuteilen. Diese trat wiederholt in den Hungerstreik, um etwas über den Verbleib ihres Mannes zu erfahren, an dessen Tod sie nicht glaubte. Im Oktober und November des vergangenen Jahres führte sie einen 32tägigen Hungerstreik vor dem guatemaltekischen Nationalpalast durch. Zu diesem Zeitpunkt lagen den erwähnten US-Institutionen die CIA-Unterlagen bereitsvor.
In den USA haben die Erklärungen von Torricelli hohe Wellen geschlagen. Sogar Präsident Bill Clinton äußerte sich zu dem Vorfall. Er kündigte die Entlassung der CIA-Mitglieder an, die die Informationen lange Zeit vorenthielten. Jennifer Harbury forderte die guatemaltekische Armee auf, ihr den Leichnam ihres Mannes zu übergeben. Von ihrer eigenen Regierung verlangte sie Sanktionen gegen die guatemaltekischen Militärs, die in Menschenrechtsverletzungen verwickelt sind. Die Militärs selber halten sich bedeckt. Verteidigungsminister General Mario Enríquez gab bisher nur zu, daß der für die Morde verantwortliche Oberst Alpírez 1990 in der Provinz Petén stationiert war, in der der US- Bürger Devine ums Leben kam. Heute ist der Oberst stellvertretender Chef der wichtigen Militärbase „La Aurora“ mitten in Guatemala-Stadt. Seit die Anklagen gegen ihn bekannt sind, ist er „verschwunden“. Zu einem ersten Anhörungstermin bei der guatemaltekischen Staatsanwaltschaft erschien er nicht. Von weiteren Schritten gegen ihn ist nichts bekannt.
GUATEMALA
Fortschritte bei Friedensverhandlungen
(Mexiko-Stadt, 26. März 1995, cerigua-POONAL).- Nach monatelangem Tauziehen kamen die guatemaltekische Regierung und die Guerilla in Mexiko-Stadt zu einer Einigung über das Thema „Identität und Rechte der Indígena-Völker“. Das Abkommen, an dem lange Zeit die gesamten Friedensverhandlungen zu scheitern drohten, soll offiziell erst am 31. März unterzeichnet werden. Über seinen genauen Inhalt ist noch nichts bekannt. Es wird jedoch mit Sicherheit Verfassungsreformen beinhalten, die politische und kulturelle Rechte der Maya-Bevölkerung behandeln. Héctor Rosada, Leiter der Regierungsdelegation bei den Verhandlungen, wies darauf hin, die Vereinbarung werde erst in Kraft treten, wenn das endgültige Friedensabkommen unterzeichnet sei.
Dies kann noch länger dauern, auch wenn der UNO-Vorschlag von einem Verhandlungsende zum 31. Juli ausgeht. Bis dahin müßte jedoch noch Übereinstimmung über mehrere Themen mit einer Vielzahl von Unterpunkten erzielt werden. UNO-Generalsekretär Boutros Ghali wird am 2. April persönlich nach Guatemala reisen, um den Stand der Friedensverhandlungen zu bewerten. Den Abschluß des Abkommens über die Indígena-Bevölkerung, die die Mehrheit in Guatemala stellt, bewerten die Konfliktparteien unterschiedlich. Rosada schreibt das Erreichte dem „inneren und äußeren internationalen Druck“ (auf die Guerilla) sowie der „professionellen Arbeit der UNO“ zu. Die Guerilla dagegen macht für den Fortschritt „die äußerst schwache Position von Regierung und Militär“ verantwortlich. Luis Becker von der politischen Kommission der Revolutionären Nationalen Einheit Guatemalas (URNG) verwies insbesondere auf den kürzlich veröffentlichten Bericht der UNO- Mission zur Internationalen Überprüfung der Menschenrechte in Guatemala (MINUGUA) und die Enthüllungen über die von einem Armeeoberst begangenen Morde.
Noch wenige Tage vor der Einigung über die Rechte der Indígenas deutete vieles auf einen Abbruch der Gespräche. URNG-Kommandant Pablo Monsanto hatte angedeutet, die Guerilla stelle sich bereite auf ein Scheitern der Verhandlungen und ein erneutes Aufflammen des Krieges vor. „Wir müssen uns auf einen eventuellen Abbruch der Verhandlungen vorbereiten, denn die Regierung will die grundsätzlichen Veränderungen, die wir vorschlagen, nicht aktzeptieren“, sagte Monsanto vor der Einigung. Seinen Angaben zufolge beträgt die Truppenstärke der Guerilla mehr als 3.000 Kämpfer*innen. General Marco Antonio Taracena, Chef des Oberkommandos der offiziellen Armee, hatte auf die Äußerungen geantwortet, seine Soldaten seien vorbereitet, „eine Militäroffensive zu stoppen, denn die Armee zählt auf die Unterstützung der Bevölkerung“.
82jähriger Anwalt ermordet
(Guatemala, 24. März 1995, NG-POONAL).- Auf einer Finca in der Nähe des Ortes Villa Canales wurde die Leiche des 82jährigen Anwaltes Ruben Luarca gefunden. Luarca war wenige Zeit vorher entführt worden. Sein Körper wies Brandwunden und Folterspuren auf. Drohungen hatte der Anwalt bereits seit einigen Monaten erhalten. Er selber informierte die Nationalpolizei darüber. Luarca beriet ein Gruppe von Campesinos in Landkonflikten. Dies könnte ein mögliches Motiv für seine Ermordung sein. Der Anwalt ist eines von 262 Mordopfer, die die Gruppe für gegenseitige Hilfe von Familienangehörigen Verhafteter und Verschwundener (GAM) seit Anfang des Jahres in Guatemala gezählt hat.
Bäuer*innen klagen über anhaltende Waldzerstörungen
(Guatemala, 23. März 1995, NG-POONAL).- Die guatemaltekische Waldschutzbehörde DIGEBOS fürchtet um die Uferbewaldung längs des Chiquimulilla-Kanales. Im Zuge von Tourismusprojekten holzen dort Baufirmen die Baumbestände ab. Bisher sollen 40 Hektar Wald an den Uferrändern des Kanals dem Tourismus zum Opfer gefallen sein. Das Komitee für BäuerInneneinheit (CUC) klagte die zunehmende Abholzung in den Provinzen Quiche und Chimaltenango an. Dort werde der Wald einfach niedergebrannt, so die Sprecherin des CUC auf einer Pressekonferenz. Sie forderte Campesino-Organisationen und Umweltschützer*innen auf, die „Verbrechen gegen die Natur“ zu verhindern.
MEXIKO
Hoffnung auf neue Friedensverhandlungen
(Mexiko-Stadt, 26. März 1995, POONAL).- Gut sechs Wochen, nachdem die mexikanische Regierung und die Bundesarmee zum offenen Krieg gegen die Nationale Zapatistischen Befreiungsarmee (EZLN) übergegangen war, gibt es nun wieder Anzeichen, daß die Regierung zur Aufnahme neuer Verhandlungen bereit sein könnte. Bereits seit Tagen stehen die beiden Parteien indirekt über die Nationale Vermittlungskommission (CONAI) unter dem Vorsitz von Bischof Samuel Ruiz García in Kontakt. In der Presse wird bereits darüber spekuliert, ob die Gespräche – wie bei den ersten direkten Verhandlungen im Februar und März des vergangenen Jahres – erneut in der Kathedrale von San Cristóbal stattfinden werden.
Diskussionsgrundlage bei der ersten direkten Kontaktaufnahme kann das „Gesetz für den Dialog, die Versöhnung und den würdigen Frieden in Chiapas“ sein. Der mexikanische Senat und das Parlament haben es mit großer Mehrheit verabschiedet. Der ursprüngliche Entwurf stammte von Präsident Ernesto Zedillo. Dieser betrachtete ihn in erster Linie als Amnestiegesetz. Allerdings blieb von dem Entwurf des Präsidenten nicht allzu viel übrig, der Entwurf erfuht so starke Veränderungen, daß Zedillo kaum mehr als Autor genannt werden kann. Einige der Änderungen gingen direkt auf Einwände der Zapatisten ein. So waren in Zedillos Text weder die EZLN noch die CONAI namentlich erwähnt. Dies erschien selbst den Parlamentariern der Regierungspartei PRI als wenig tragfähig für ernsthafte Verhandlungen. Inwischen haben die Zapatisten trotz nicht ausgeräumter Vorbehalte die Friedensanstrengungen, die in dem Gesetz zum Ausdruck kommen, begrüßt.
Im Konfliktgebiet beendete die Bundesarmee mit einigen Tagen Verspätung ihren kleinen Rückzug auf Positionen außerhalb der Ortschaften. Es scheint nicht mehr völlig ausgeschlossen, daß sie im Zuge von Verhandlungen ihre Truppen aus einigen Gebieten wieder ganz abzieht. Die zivilen Gesellschaftsgruppen nutzen wiedergewonne Spielräume in Chiapas. Am 20. März richteten die Nationale Demokratische Konvention (CND), die Nationale Vermittlungskommission, die NGO-Koordination CONPAZ und das Menschenrechtszentrum der Diözese von San Cristóbal neun ständige „Zivile Camps für den Frieden“ im Aufstandsgebiet ein. Sie sollen humanitäre Hilfe leisten und Beobachtungs- sowie Schutzfunktion für die Menschenrechte haben. Mit ihrer Hilfe ist auch an die Schaffung „neutraler Räume“ für mögliche Treffen zwischen der EZLN und der Regierung gedacht. Die Zahl der Camps soll mit Hilfe nationaler und internationaler Freiwilliger in den kommenden Wochen erhöht werden.
Subcommandante Marcos: Die Geschichte der kleinen Antonietta
Nachtrag zum Internationalen Frauentag (Auszug aus einem Komuniqué
des Subcomandante Marcos vom 11. März 1995, veröffentlicht am 17.
März 1995 in La Jornada)
„Am 8. März stiegen die Bewohner*innen von Prado aus den Bergen herunter. Die Familie der kleinen Antonietta gehörte zur letzten Gruppe. Als sie zu dem kommen, was von ihrem Häuschen übrig bleibt, wiederholt sich in der Familia der kleinen Antonietta das Bild wie bei allen Familien aus Prado: die Männer überprüfen ohnmächtig und wütend das wenige, was stehen geblieben ist. Die Frauen weinen und raufen sich die Haare, sie beten und wiederholen „Ogottogott“ während sie die zerrissenen Wäschestücke zusammensuchen, die wenigen Möbel – zerbrochen -, die verstreuten und mit Kot beschmierten Lebensmittel, die zerissenen Bilder der Jungfrau von Guadalupe, die weggeworfenen Christuskreuzen neben „fast food“-Frischhaltefolien der US-Armee. Dieses Bild ist fast schon ein Ritual bei den Einwohner*innen von Prado. Sie haben es in den letzten Tagen 108mal wiederholt, ein Mal für jede Familie. 108mal die Ohnmacht, die Wut, die Tränen, die Schreie, die „Ogottogotts“…
Aber diesmal ist irgendetwas anders. Es gibt eine kleine Frau, die nicht weint. Die kleine Antonietta sagte nichts, sie weinte nicht, sie schrie nicht. Sie stieg über die ganze Verwüstung hinweg bis in einen Winkel des Häuschens, als ob sie etwas suchen würde. Dort in einer vergessenen Ecke war die kleine Teetasse, zerbrochen, weggeworfen wie eine aufgelöste Hoffnung. Diese kleine Tasse war ein Geschenk, irgendjemand hatte sie geschickt, damit die kleine Antonietta-Alice eines Tages Tee mit dem verrückten Hütemann und dem Märzhasen trinken könnte (Marcos bezieht sich hier wie in anderen seiner Texte auf die Geschichte von Alice im Wunderland; die Red.). Aber dieses Mal ist es kein Hase, den die kleine Antonietta im März findet. Es ist ihr zerstörtes Haus – auf Befehl desjenigen, der angibt, die Souveränität und die Legalität zu verteidigen. Die kleine Antonietta weint nicht, schreit nicht, sagt nichts. Sie hebt die Stücke der kleinen Teetasse und des kleinen Tellers, der als Untertasse diente, auf. Die kleine Antonietta geht nach draußen, vorbei an der zerrissenen und dreckigen Wäsche auf dem Boden, den zwischen den Zerstörungen verstreuten Bohnen und dem Mais, vorbei an ihrer Mama, ihren Tanten und Schwestern, die weinen und schreien und „Ogottogott“ rufen. Draußen, in der Nähe eines Guajavenbaumes, setzt sich die kleine Atonietta auf den Boden. Und mit Lehm und Spucke fängt sie an, die Stücke der kleinen Teetasse zusammenzukleben. Die kleine Atonietta weint nicht, aber es gibt einen eisigen und harten Glanz in ihrem Blick.
Abrupt, wie die Indígena-Frauen seit 500 Jahren, hört die kleine Antonietta auf, ein Kind zu sein und wird zur Frau. Es ist der 8. März 1995, Internationaler Frauentag, und die kleine Antonietta ist 5 Jahre alt, wird bald 6. Der kalte und schneidende Glanz ihres Blickes läßt von der kleinen zerbrochenen Teetasse Strahlen wiederscheinen, die verletzen. (…) Als ob sie ein zerbrochenes Herz wieder zusammensetzen würde, rekonstruiert die kleine Antonietta ihre kleine zerbrochene Teetasse. Irgendjemand vergißt in der Entfernung für einen Moment, daß er ein Mann ist. Die salzigen Tropfen, die ihm aus dem Gesicht fallen, können die bleibestückte Brust nicht zum Oxidieren bringen…
EL SALVADOR
Ehemalige FMLN-Guerilleros gründen neue sozialdemokratische Partei
(Mexiko-Stadt, 25. März 1995, POONAL).- Die ehemaligen Guerillakommandanten Joaquín Villalobos und Eduardo Sancho gaben am 24. März die Auflösung ihrer Parteien ERP beziehungsweise RN bekannt. Beide Gruppierungen gehörten bis zu ihrer Abspaltung vor einigen Monaten zur Nationalen Befreiungsfront Farabundi Martí (FMLN), dem früheren Guerillabündnis. Mit dem 28. März entsteht aus den beiden alten Parteien die Demokratische Partei (PD), die eine Mitte-Links-Tendenz haben soll. Ihr wird sich auch die sozialdemokratische Revolutionäre Nationalbewegung anschließen.
Villalobos sprach von einem „historischen Schritt“. Die Parteigründung bedeute die Suche nach einem „neuen politischen Angebot“. Zu den Zielen der Demokratischen Partei gehöre es, 1997 an den Kommunal- und Parlamentswahlen teilzunehmen. Eduardo Sancho betonte, die „Türen und Fenster“ seien für alle geöffnet, die sich anschließen wollten. Dies sei unabhängig davon, welche Rolle sie während des Krieges gespielt hätten. Die Parteigründung ist keine Überraschung mehr. Der „historische Schritt“ – die Spaltung der FMLN – geschah schon vor Monaten, als das Ende der Nationalen Befreiungsfront Farabundi Marti (FMLN) in ihren alten Zusammensetzung deutlich wurde. Bis 1997 wird sich zeigen, ob eine Partei sozialdemokratischer Ausrichtung einen Platz in El Salvador findet.
DOMINIKANISCHE REPUBLIK
Tote nach Demonstrationen
(Mexiko-Stadt, 25. März 1995, POONAL).- Proteste gegen Fahrpreiserhöhungen in der Dominikanischen Republik haben mindestens vier Todesopfer gefordet. Als die Menschen am 19. März in der Hauptstadt auf die Straße gingen, kam es zu Straßenschlachten mit Einheiten von Polizei und Armee. Dabei kamen zwei Demonstrant*innen ums Leben. Das dritte Opfer war ein Polizist. Er wurde erschossen, als er versuchte, Demonstrant*innen zu verhaften, die Autos mit Steinen bewarfen. Bei anschließenden Razzien der Nationalpolizei und der Armee wurde eine weitere Person unter nicht geklärten Umständen in dem Stadtviertel Capotillo erschossen. Die Polizei hat dazu bisher keine Stellungnahme abgegeben. Ein möglicher Racheakt wird jedoch nicht ausgeschlossen. Die Regierungseinheiten hatten in dem Viertel Haus für Haus durchsucht und auch Kinder von der Razzia nicht ausgenommen. Die Lage in der Haupststadt Santo Domingo ist nach wie vor angespannt. Die Transportunternehmer verzichteten vorerst auf die Tariferhöhungen im Personenverkehr.
Traurige Bilanz: Grundversorgung hat sich verschlechtert, Armut wächst
(Santo Domingo, März 1995, adopal-POONAL).- Der Jahresbericht 1994 der Panamerikanischen Gesundheitsorganisation beschreibt ein düsteres Bild von den Lebensbedingungen und Entwicklungschancen der Bevölkerung in der ersten Hälfte der 90er Jahre. Danach haben 70 Prozent der Bevölkerung Einkünfte, die unterhalb der Armutsgrenze liegen. Der Anteil der Armen stieg seit dem Beginn des Jahrzehnts um 57 Prozent, der reale Mindestlohn ist im gleichen Zeitraum um mehr als 40 Prozent gesunken. Die Arbeitslosenrate stieg um 27 Prozent, der Kalorienverbrauch pro Kopf ging um 7 Prozent zurück. Mehr als 600.000 Heranwachsende leben in extremer Armut auf. Die Preise für den Grundwarenkorb einer Familie erhöhten sich um 400 Prozent. Jährlich werden 0,6 Prozent des Waldbestandes abgeholzt. Die Wasserquellen sind zunehmend verseucht. 40 Prozent der Haushalte haben keinen direkten Wasseranschluß. Die öffentlichen Gesundheitsausgaben sanken real und pro Kopf um 40 Prozent, was eine geringere Qualität der Gesundheitsdienste mit sich brachte. Fazit: Die Grundversorgung der Bevölkerung auf der Dominikanischen Republik hat sich in den 90er Jahren beträchtlich verschlechtert, Hunger und Armut sind erheblich gewachsen.
HAITI
„Die Menschen glauben an Aristide“
Interview mit Gotson Pierre
(Port-au-Prince, Februar 1995, alai-POONAL).- Gotson Pierre koordiniert die Aktionsgruppe für Pressefreiheit (GRALIP).
Frage: Welche Veränderungen siehst Du zwischen den Aristide- Regierungen von 1991 und 1994?
Pierre: Allgemein gesprochen, ist die Umgebung anders. 1991 gab es einen anderen Kontext. Da war ein Bevölkerungsteil, der einen Mann an die Macht brachte, der diese Macht im Laufe von zwei Jahren begründet hatte. Dessen war er sich bewußt. Jetzt ist Aristide wieder an der Macht, aber als ein Präsident, der nach vier Jahren im Exil zurückkehrte. Es hat sich zum Nutzen der ausländischen Präsenz, speziell der US-amerikanischen, geändert. Ich glaube, das gibt einen absolut anderen Kontext. Früher gab es ein Bewußtsein von der Kraft der Bevölkerung als Unterstützung Aristides. Jetzt würde ich sagen, haben die drei Jahre der Unterdrückung diese Kraft geschwächt, es bleibt beim (guten) Willen. Das Ausland hat mehr Gewicht als vorher.
Was sich nicht geändert hat, ist das Vertrauen der Massen, was den zurückgekehrten Aristide angeht. Erstaunlicherweise machen die Intellektuellen, besonders die der Linken, die einen Verrat Aristides sehen, ziemlich erfolglose Anstrengungen in dieser Hinsicht. Denn die Leute weigern sich, das zu glauben. Sie antworten, es habe keine andere Möglichkeit gegeben. Aristide habe nicht das getan, was er tat, um die US-amerikanische Invasion auf Haiti zu erlauben. Die Leute sind immer bereit zu glauben, was er sagt. Im wirtschaftlichen Bereich kann es sein, daß sich das ändern wird.
Frage: Was ist an den Gerüchten über die Unterdrückung von Organisationen und der Bevölkerung im Norden des Landes und in den ländlichen Zonen?
Pierre: Das sind keine Gerüchte. Es handelt sich um bestätigte Ereignisse, dokumentierte Berichte durch Institutionen wie die Kommission Justicia y Paz, die eine sehr wichtige Arbeit hinsichtlich der Untersuchung und Dokumentierung der Unterdrückung seit einigen Monaten macht. In der Tat sehen wir in den aufgeführten Fällen eine Zusammenarbeit zwischen den ausländischen Kräften auf Haiti und den Putschisten. Es sind viele Personen verhaftet worden, die dem Lavalas-Sektor nahe stehen.
„Die USA könnten ihr Gewicht in die Waagschale legen, um die Putschisten zu begünstigen“
In Petit Guave im Westen des Landes haben die Amerikaner sogar Aktivist*innen der Volksorganisationen verfolgt. Sie wurden des Vandalismus und ähnlicher Dinge angeklagt. Das ist schwerwiegend, es läßt befürchten, daß die Amerikaner sich bei den kommenden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen mit den Anhängern des Status Quo zusammentun könnten. Sie könnten ihr ganzes Gewicht in die Waagschaale werfen, um die Putschisten zu begünstigen. Eine weitere Sorge: Wie kann die Justiz funktionieren, wenn Personen, die in terroristische Akte gegen die Bevölkerung verwickelt waren, verhaftet werden und später durch die Amerikaner freikommen?
Frage: Ist die Versöhnung in Haiti möglich?
Pierre: Ich würde nicht sagen, daß sie unmöglich ist. Aber ich glaube, die Frage muß anders formuliert werden. Im allgemeinen sind es gerade die Menschen aus den Volksorganisationen, die sich für eine Versöhnung aussprechen. Aber sie sind auch der Meinung, daß Versöhnung eine allgemeine Gerechtigkeit voraussetzt, eine soziale Gerechtigkeit. Wenn ich die Frage nach Versöhnung stelle, fragen sie zurück: Was machen Sie mit jemand, der ihre Mutter vergewaltigt hat? Was tun, wenn in einer Familie von fünf oder sechs Personen nur zwei übrig bleiben, weil man die anderen drei verschwinden ließ oder sie von Leuten ermordet wurden, die bekannt sind oder identifiziert wurden? Angesichts dieser Fragen kann die einzige Antwort sein, daß es Gerechtigkeit geben muß.
„Versöhnung setzt Gerechtigkeit voraus“ Sogar der Präsident hat das zugegeben, aber dafür muß eine Entwicklung anfangen. Dies erweist sich als schwierig, denn es ist ein Rechtssystem notwendig, das die Proteste ernst nimmt. Genau deshalb kämpfen die Volksorganisationen für eine grundlegende Reform des haitianischen Justizwesens. Es hat auch interessante Initiativen wie die kürzliche Schaffung der Wahrheitskommission gegeben. Dies wird ein bißchen mehr zur Entwicklung beitragen. Dennoch, die Versöhnung kann nicht ohne Gerechtigkeit zustandekommen. Sonst ist sie unmöglich. Man kann doch keine herzliche Versöhung zwischen dem Mörder und dem Opfer fordern.
Frage: GRALIP existiert praktisch seit dem Putsch 1991. Welche Änderungen haben sich seitdem für die Pressefreiheit ergeben?
Pierre: Viele Dinge haben sich geändert. Unter der Putschregierung war der Informationszugang sehr schwierig, wenn nicht unmöglich. Man hatte direkt mit den Militärs oder ihnen nahestehenden Personen zu tun. Jetzt herrscht ein ganz anderes Klima, kein Klima der Verfolgung, kein Klima der Angst, ermordet oder verhaftet zu werden. Was jedoch unsere Aufmerksamkeit erregt, ist die Behandlung der Journalist*innen durch die Sicherheitskräfte des Präsidenten und allgemeiner, der Informationszugang. Die Herrschenden wollen Informationen verbergen. Natürlich, die Sicherheitskräfte machen ihre Arbeit, aber das kann unserer Meinung nach nur gemacht werden, indem das Recht der Journalist*innen auf Information, auf die Berufsausübung geschützt wird.
„Jetzt herrscht ein ganz anderes Klima, kein Klima der Verfolgung, kein Klima der Angst, ermordet oder verhaftet zu werden“
Auf Haiti hat die Schwierigkeit des Quellenzugangs Tradition. Einerseits hängst dies mit der schlechten Infrastruktur zusammen, das heißt, es handelt sich um Ursachen technischer Art. Doch es gibt auch politischen Ursachen. Die früheren Regierungen wollten niemals Informationen über bestimmte Ereignisse zirkulieren lassen. Das war der Fall mit Francois und Jean Claude Duvalier und ging mit den Militärregimen nach dem 7. Februar 1996 weiter. Wir haben den Eindruck, daß diese Mentalität fortbesteht. Natürlich glauben wir nicht, daß sich das auf einen Schlag oder in wenigen Monaten ändert.
BOLIVIEN
Generalstreik: Erste Machtprobe für neue Regierung
(Mexiko-Stadt, 27. März 1995, POONAL).- In Bolivien steht in den kommenden Tagen eine Kraftprobe zwischen der Regierung von Gonzalo Sánchez de Lozada und der gewerkschaftlich organisierten Bevölkerung bevor. Am Montag begann der von der Bolivianischen ArbeiterInnenzentrale (COB) verkündete unbefristete Generalstreik. Die staatlichen Minenarbeiter*innen und die Lehrer*innen haben bereits am vergangenen Donnerstag die Arbeit auf unbestimmte Zeit niedergelegt. Die Regierung hat mit der Verhängung des Ausnahmezustands gedroht, der zuletzt 1985 ausgerufen wurde.
Die Zuspitzung des Konfliktes kündigte sich schon vor einiger Zeit an. Die Lehrer*innen protestieren seit längerem gegen die von der Regierung durchgesetzte Bildungsreform, die ihrer Auffassung nach eine verdeckte Privatisierung darstellt. Sie wollen eine Anullierung der Reform, die Anfang des Jahres in Kraft getreten ist. Als sich in den ersten Tagen der vergangenen Woche die Lehrer*innen in verschiedenen Teilen des Landes aufmachten, auf die Hauptstadt La Paz zuzumarschieren, reagierte der Staat mit Gewalt. Um die Demonstrant*innen nicht ins Hauptstadtzentrum gelangen zu lassen, attackierten kombinierte Einheiten aus Polizei und Armee die Demonstrant*innen mit Gummigeschossen und Tränengas. Etwa 100 Lehrer*innen wurden verhaftet, darunter 27 Gewerkschaftsführer*innen. Ihnen wird „Aufruhr“ und „Aufruf zur Gewalt“ vorgeworfen. Die Beschuldigten blieben nach der Verhaftung zunächst in völliger Isolation, Anwält*innen, Familienangehörige und Menschenrechtsverteidiger*innen durften sie nicht besuchen.
Gewerkschaft: Die Regierung hat den Dialog mit uns abgebrochen
Oscar Salas, der Generalsekretär der bolivianischen ArbeiterInnenzentrale (COB), kommentierte das Vorgehen der offiziellen Seite mit den Worten: „Die Regierung hat den Dialog mit uns abgebrochen“. Die Gewerkschaftszentrale hat weitere Demonstrationen angekündigt, die von den wichtigsten Städten des Landes ausgehen und in La Paz enden sollen. Über die ursprünglichen Forderungen der Lehrer*innen hinaus geht es jetzt auch um die Freilassung der Gewerkschaftsführer*innen, Lohnerhöhungen und andere soziale Fragen. Inwieweit die Arbeiter*innen Erfolg haben werden, hängt davon ab, ob der ausgerufene Generalstreik vom Großteil der Bevölkerung befolgt wird. In jedem Fall hat die Regierung in den 18 Monaten ihrer Amtszeit noch nicht so unter Druck gestanden wie im Moment.
KUBA
US-Unternehmer entdecken kubanischen Markt
Von Mariana Ramírez und Dalia Acosta
(Havanna, 10. März 1995, sem-POONAL).- Während Dutzende ausländischer Firmen vorteilhafte Investitionsmöglichkeiten auf Kuba suchen, zeichnen sich die USA weitgehend durch Abwesenheit aus. Dabei ist sich der US-Unternehmer John S. Kavulich II. sicher: „Jedes nordamerikanische Produkt hat große kommerzielle Chancen auf dem kubanischen Markt haben“. Denn trotz ihres traditionellen Unabhängigkeitsgefühls ist vielen Kubaner*innen allein der Stempel „made in USA“ ein Signum höchster Qualität. Kavulich II. ist Vorsitzender der privaten Organisation „Handels- und Wirtschaftsrat USA-Kuba“. In den ersten Monaten 1994 gegründet, will der Rat Handelsbrücken zwischen beiden Ländern herstellen.
US-Konzerne haben trotz Blockade seit 1980 4,5 Milliarde Dollar auf Kuba umgesetzt
Obwohl er die Wirtschaftssanktionen der USA gegen Kuba natürlich kennt, hält Kavulich nichts vom Wort Embargo oder Blockade. Der Handels- und Wirtschaftsrat weist eigene Zahlen vor: Danach machten Tochterunternehmen von US-Firmen zwischen Anfang 1980 und Ende 1992 mit der Karibikinsel Geschäfte im Gesamtvolumen von gut 4,5 Milliarden US-Dollar. Unter den Firmen befinden sich nordamerikanische Großkonzerne wie AT&T, Campbell Investment, Dupont, Ford Motor und IBM Word Trade. Das Torricelli-Gesetz verringerte 1992 noch einmal die Aktionsmöglichkeiten für die US- Firmen, auch wenn ihnen eine Reihe direkter und indirekter Handelsmöglichkeiten blieben. So fürchten die nordamerikanischen Geschäftsleute um ihre Marktchancen. Nach den Quellen von Kavulichs Organisation operieren derzeit 115 Joint Ventures auf Kuba. Ausländische Geschäftsleute repräsentieren ihre Unternehmen mit 538 Büros auf der Insel. Die Liste der beteiligten Länder ist lang: Spanien hat Kapital in der Tourismusindustrie, Kanada will den kubanischen Nickel ausbeuten, beim Öl mischen neben Kanada inzwischen auch Frankreich, Großbritanien und Schweden mit. Japanische Firmen wie Mitsubishi eröffnen ihre Büros in Havanna. Israel investiert in die Textilindustrie, Mexiko in den Kommunikationsbereich. Holland richtet sich im Bankensektor ein.
Der kubanische Parlamentspräsident Ricardo Alarcón verspricht „ausländischen Investitionen jeden Tag mehr Spielraum“. Alarcón äußerte sich sogar optimistisch über „die neuen republikanischen Gesichter und neue Einstellungen“ im nordamerikanischen Kongreß. Da könnte er jedoch enttäuscht werden. Die Republikaner arbeiten eher darauf hin, das Embargo zu verschärfen. Dennoch besuchten 1994, so die Zeitung „USA Today“, etwa 200 US-Unternehmer*innen Kuba und unterzeichneten 69 Absichtserklärungen über eine mögliche Zusammenarbeit. Die Gesellschaft des Amerikanischen Gesundheitswesens, die Handelskammer der USA und Publikationen wie die „New York Times“, „The Wall Street Journal“, „The Washington Post“ und „The Financial Times“ haben sich für einen Wechsel in den politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Ländern ausgesprochen. Die Generalversammlung der Vereinten Nationen forderte drei Jahre hintereinander die Aufhebung der Wirtschaftssanktionen gegen Kuba durch die USA.
Der Verlust ist beidseitig. Eine Studie der John Hopkins- Universität schätzt den möglichen jährlichen Handelsaustausch auf 6,5 Milliarden Dollar. Vor der Revolution kamen nach Aussagen des kubanischen Finanzministers José Rodriguez 70 Prozent der Importe aus den USA. Die Exporte gingen zu 65 Prozent dort hin. Nicht wenige Geschäftsleute in den USA wünschen sich diesen Zustand zurück. Der US-Unternehmer Peter Blyth drückt die Stimmung aus: „Wir warten nur auf den Moment, um unsere Dienstleistungen in alle Winkel der Insel zu bringen.“
PERU
Die Kriegsvertriebenen
Von Zoraida Portillo
(Lima, 15. März 1995, sem-POONAL).- In der Zeit vom ersten Schuß am 26. Januar bis zur Feuerpause, die fünf Wochen später in der uruguayischen Hauptstadt Montevideo unterzeichnet wurde, verloren etwa 100 Menschen im Grenzkrieg zwischen Ecuador und Peru ihr Leben, 200 wurden verletzt. Schätzungsweise 300 Tonnen Bomben zerstörten einen 72 Kilometer langen Streifen im Amazonas-Urwald. Die Auswirkungen des Grenzkrieges sind jedoch beträchtlich größer, als die Daten über die Zerstörung des Gebiets, das von Indígenas beider Länder bewohnt wird, dokumentieren. Sie kämpften in einem Konflikt gegeneinander, der als absurd und unnütz qualifiziert wird. Der Chef des Internationalen Roten Kreuzes in Peru, George Comninos, spricht von 2.000 vertriebenen Siedler*innen im Land, die von den Behörden versorgt werden. Allerdings werden nicht alle Kriegsopfer erreicht. Die genaue Zahl der Menschen, die in dem Kriegsgebiet gewohnt haben, ist gar nicht bekannt. Allein auf ecuadoreanischer Seite, so schätzt das Rote Kreuz, sind vermutlich rund 9000 Menschen durch die Gefechte aus ihren Dörfern vertrieben worden.
Für die Betreuung der Vertriebenen ist in der Stadt Piura, nahe der Konfliktzone, ein Notzentrum eingerichtet worden. Dort werden sie vom Internationalen Roten Kreuz untergebracht und verpflegt. Die Behörden befürchten, Epedimien wie Cholera, Typhus, Malaria und Weiße Lepra könnten wieder auftauchen. In Piura soll es bereits neun neue Cholerafälle gegeben haben. Dort sind nur die Vertriebenen von der Nordküste. Über die Lage der Indígena-Völker im Amazonasgebiet ist jedoch wenig bekannt. In dieser Region gab es die heftigsten Gefechte und offensichtlich finden trotz der Feuerpause noch Gefechte statt. In der Zone befindet sich das Militärlager Tiwinza, das am stärksten umkämpft war und deren Einnahme sich beide Länder zuschreiben.
Das Gebiet ist der traditionelle Lebensraum zweier Indígena- Völker, der Huambisas und der Aguarunas. Die erstgenannte Bevölkerung umfaßt etwa 7.000 Personen, die zweite etwa 45.000. Über ihre Evakuierung ist nichts bekannt, doch berichteten Journalist*innen über die schwierigen Lebensbedingungen. Durch die Verminung des Gebietes ist die Versorgung mit lebenswichtigen Gütern nicht möglich gewesen. Von ecuadoreanischer Seite wird ähnliches berichtet. Dort leiden die Völker der Shuar und Achuar unter den Auswirkungen des Krieges. Viele mußten genauso wie die Bevölkerung auf der anderen Seite der Grenze ihre Wohnorte zeitweise verlassen. Für Ecuador nennt das Internationale Rote Kreuz die Zahl von ungefähr 9.000 Vertriebenen.
ARGENTINIEN
Frauen drängen in die Armee
Von Valeria Zapesochny
(Buenos Aires, 13. März 1995, sem-POONAL).- Vor wenigen Monaten schaffte Argentinien den Zwangswehrdienst ab und wandelte ihn in einen freiwilligen Dienst um. Anlaß war der Todesfall eines jungen Rekruten, der von seinen Vorgesetzten beim „Tanz“ zu Tode geprügelt wurde. In der Militärsprache bedeutet das Wort Tanz „übermäßig gewalttätige körperliche Übungen“. Der Proteststurm brachte mit der Abschaffung des alten Wehrpflichtssystems eine weitere Neuerung: auch Frauen können jetzt freiwillig Dienst leisten. Die Gewalt in der Armee scheint viele Frauen nicht abzuschrecken. In den ersten Monaten nach der Gesetzesänderung meldeten sich mehr als 5.000 von ihnen für den Militärdienst an. Doch neben der Abenteuerlust gibt es andere handfeste Gründe für diese Entscheidung: Das Militär bietet bezahlte Arbeit, Unterkunft und Verpflegung und soziale Dienstleistungen für ein ganzes Jahr. Der Sold schwankt je nach Region. Im Süden nahe der Antarktis werden 700 Pesos (etwa 700 US-Dollar) gezahlt, im Hauptstadtdistrikt von Buenos Aires sind es 400 Pesos.
Seit der Gründung der Armee vor fast 100 Jahren hat der Militärdienst den Spitznamen „Colimba“. Das Wort setzt sich aus den spanischen Abkürzungen für „Laufe, Putze, Fege“ zusammen. Viele fragen sich nun, ob damit die künftigen Hauptbeschäftigungen der Frauen in der Armee bezeichnet sind oder ob diese die gleiche Behandlung wie die männlichen Rekruten erfahren werden. Die Militärexpert*innen stimmen weitgehend darüber überein, daß die Armee auf die Aufnahme von Frauen in ihren Reihen nicht vorbereitet ist. Vielleicht hat das Oberkommando der Streitkräfte aus diesem Grund bisher kaum 10 Prozent der 5.000 Anwärterinnen akzeptiert. Sie werden ins Heer eingegliedert. Marine und Luftwaffe werden keine Frauen aufnehmen.
Bei den abgewiesenen Bewerberinnen ist die Enttäuschung groß, denn der Dienst in der Armee verhieß vielen einen Ausweg aus wirtschaftlicher und sozialer Not. Bezeichnend der Kommentar einer 19jährigen: „Seit ich die Sekundarschule beendet habe, bin ich ohne Arbeit gewesen. Ich sah im Wehrdienst eine Möglichkeit, wenigstens ein Jahr lang Geld zu bekommen.“ Für die Mehrheit der Militäreinheiten wird von den Frauen ein Eintrittsalter von 18 bis 24 Jahren verlangt. Die Frauen dürfen nicht verheiratet sein. Auch die Schulbildung spielt eine Rolle. Sie ist nach offiziellen Angaben bei den Bewerberinnen durchschnittlich jedoch höher als bei den männlichen Rekruten. Bisher leisten Frauen nur in dem Bataillon 601 in der Stadt City Bell Dienst. Die Erfahrungen aus diesem Pilotprojekt sollen auf andere Einheiten übertragen werden.
Für einige Frauen erfüllt sich mit dieser Reform nun endlich ein Lebenstraum. Die 19jährige Alejandra hatte schon als kleines Kind keinen sehnlicheren Wunsch als in der Armee zu marschieren. „Von klein auf wollte ich zum Militär und beneidete meine Brüder, die da hin durften. Ich verstand nicht, daß sie an der Musterung nicht teilnehmen wollten. Für mich ist es eine Ehre, in die Armee einzutreten.“ Die junge Frau denkt sogar an eine Berufskarriere im Militär. Auf ins Gefecht.
KOLUMBIEN
Gewerkschaftsführer und Menschenrechtsaktivisten ermordet
(Bogotá, 21. März 1995, AC-POONAL).- Gewerkschafter*innen und Menschenrechtler*innen sind in Kolumbien nach wie vor größten Gefahren ausgesetzt. In den vergangenen Wochen wurden zwei Aktivistinnen ermordet, einer wurde verschleppt und ist seitdem verschwunden.
Ernesto Fernández Fezter, Gewerkschaftsführer der Vereinigung der Erzieher*innen im Departements Cesar wurde von drei Männern auf dem Heimweg in seinem Auto erschossen. Der 42jährige Gewerkschafter und Menschenrectsaktivist wurde von zwoölf Kugeln getroffen, seine beiden Kinder, die ebenfalls in dem Fahrzeug waren, blieben unverletzt. Die Täter konnten entkommen, was erstaunlich ist, da der Ort Pailitas von dem Operationskommando 7 des Armeebataillons San Mateo besetzt ist. Die Vereinigung für alternative soziale Förderung (MINGA) vermutet daher, daß die Tat von einer paramilitärischen Gruppe begangen wurde, die mit der Armee zusammenarbeiten. In der Region wurden in den vergangenen Monaten mehrere prominente Führer von Gewerkschaften, Bürgerinitiativen und Menschenrechtsgruppen ermordet.
Am 16. Februar wurde der Präsident der Gewerkschaft SINTRA- PROACEITAS von der Sektion Copey ebenfalls im Departement Cesar in der Stadt Baranquilla von bewaffneten Männern verschleppt. Nach Zeugenaussagen wiesen sich die Täter als Mitglieder der Polizeieinheit UNASE, einer Spezialeinheit gegen Entführung und Erpressung, aus. Sie zwangen Rodriguez mit Waffengewalt, in ein Auto einzusteigen, seitdem fehlt von dem Gewerkschaftsführer jede Spur.
Am 24 Februar wurde der Rechtsanwalt Oscar García Solís in der Gemeinde Envigado im Großraum Medellí ermordet. Der 28jährige Anwalt war bereits 1987 einem Attentat paramilitärischer Gruppen zum Opfer gefallen und seitdem gelähmt und an den Rollstuhl gefesselt. García arbeitete für verschiedene Basisorganisationen, vertrat die Klagen von Opfern von Menschenrechtsverletzungen und war in den vergangenen zwei Jahren Direktor der Vertriebenenorganisation ASCODAS, Sektion Antioquia.
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