(Ocosingo, 1. Januar 2024. desinformémonos).- „Wir versuchen nicht, ein Museum der Erinnerung an uns zu schaffen“, so Subkommandant Moisés, Sprecher und Befehlshaber der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung EZLN (Ejército Zapatista de Liberación Nacional). In der Rede am 30. Jahrestag des bewaffneten Aufstandes der Mayavölker im Südosten Mexikos erklärt Moisés auch die aktuelle Absicht einer kraftvollen Bewegung: „Eigentum muss dem Volk gehören und der Gemeinschaft. Das Volk muss sich selbst regieren, wir brauchen die da oben nicht.“
Die zapatistischen Kinder und Jugendlichen waren die Protagonist*innen einer generationenübergreifenden Bewegung. Es waren die Leute unter 30, die in Theaterstücken und Chorgesängen von ihrem Kampf berichteten. Die in zapatistischen Paraden aufmarschierten, protestierten, tanzten, zu den Klängen der Bands Panteón Rococo und Los Ángeles Azules. Immer umgeben von einer unterstützenden Community, Besucher*innen aus Mexiko sowie fast zwei dutzend Ländern.
„Das Gemeinsame“, diese Worte hörte man immer wieder während der zweitägigen Feierlichkeiten. Diese Worte
erklärten sie in Theaterstücken, Liedern und Sprechgesängen. Ihr entschiedenes „Wir sind allein, wie schon seit 30 Jahren“ zeigt die Lebensrealität und Gefühle, ließ aber die Tür offen für ihre nachdrückliche Forderung nach Organisation. „Wir laden alle Brüder und Schwestern ein, herzukommen und sich unsere Ideen anzuhören, zu schauen, welche die beste im Leben ist. Wir sagen: Wer arbeitet, soll auch essen, und wer nicht arbeitet, der soll seine Scheine und Münzen essen, mal schauen, ob er davon satt wird.“
Erneut zeigte sich der paradoxe Friedenswillen einer Armee, die sich bewaffnet für Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit erhoben hat. “Wir müssen die Soldaten und schlechten Regierungen nicht töten, aber wenn sie kommen, werden wir uns verteidigen”, stellte Moisés auf der Veranstaltung klar, auf der es nicht eine Waffe gab, dafür aber Tausende mit grünen Hosen und braunen Hemden, der Uniform der zapatistischen Miliz.
Am letzten Tag des Jahres 2023 um 22.30 Uhr begann das Gedenken an den Aufstand vor 30 Jahren. Es folgte ein ungewöhnlich fröhlicher und festlicher Umzug tausender Zapatistas, die zu einer Generation gehören, die sicher zehn Jahre nach dem Aufstand geboren wurde. Danach erhob Subkommandant Moisés das Wort, auf Tzeltal, einer hiesigen indigenen Sprache. Er richtete sich an die Menge der Unterstützer*innen, die sich in das Caracol (zapatistisches Verwaltungszentrum) Dolores Hidalgo begeben hatte. Das Caracol befindet sich auf wiedererlangten Ländereien und wurde erst vor drei Jahren eröffnet.
Gedenken an die Verschwundenen und Ermordeten
Ganz vorne im Pavillon stand eine Reihe leerer Stühle. „Die Abwesenden“ stand auf einem Schild. „Heute fehlen die Verschwundenen. Die politischen Häftlinge. Auch die Ermordeten sind nicht hier. Weder die jungen ermordeten Menschen, noch die ermordeten Kinder. Und auch nicht unsere Urahnen, die vor mehr als 500 Jahren kämpften. Aber auch unsere gefallenen Kamerad*innen fehlen, die ihre Aufgabe schon erfüllt haben“, erläuterte Moisés. Vor 30 Jahren hatte er den Rang eines Kapitäns, dann stieg er zum Oberstleutnant auf und inzwischen hat er den Oberbefehl in der EZLN übernommen.
Dem letzte Vortrag der Veranstaltung ging ein langes Kulturprogramm voraus. Kinder und Jugendliche der rebellischen Gemeinschaften in Chiapas stellten die Geschichte ihrer schrittweisen Autonomie dar, sowie die Initiative, an der sie bereits arbeiten: „Gemeinsames Land. Land von Niemandem“. Zu diesem besonderen Ereignis fehlte diesmal das Wort und die Anwesenheit des Kommandanten Marcos, der vor drei Jahrzehnten und für lange Zeit als Subkommandant die Philosophie der Zapatistas in die Welt trug. Mit ganz eigenem Narrativ kommunizierte er nicht nur Motive und Schmerzen, sondern er erreichte es auch, eine neue Art der Politik zu propagieren, die nicht darauf aus ist, an die Macht zu gelangen, sondern sich zu organisieren.
„Kameraden und Kameradinnen der unterstützenden Basis, wir sind jetzt entschlossen. Wir sind allein, wie schon vor 30 Jahren. Und allein haben wir bisher diesen neuen Weg entdeckt, den wir weiterhin gehen werden: den gemeinsamen Weg. Noch müssen wir abwarten, ob unsere Genoss*innen vom Nationalen Indigenen Kongress CNI und die mexikanische Bevölkerung mit uns übereinstimmen“. Mit diesen Worten beendete der zapatistische Sprecher seine Rede, und direkt danach begann der Tanz, der sich bis in die ersten Stunden des neuen Jahres hinzog.
„Weil wir hier sind“
Die lang erwartete 30-Jahres-Feier verlief in perfekter Organisation. Hunderte Veranstaltung gingen ihr voraus. Diejenigen drinnen und diejenigen draußen lernen und alles verläuft in harmonischem Frieden. Für einige Momente vergisst man, dass diese grünen Berge und in Nebel gebadete Landschaften Teil eines Bundesstaates sind, der vom Organisierten Verbrechen, Paramilitärs und Regierungen gekapert wurde, die seit Jahrzehnten an der Spitze der Enteignung stehen. Drinnen spürt man keinerlei Bedrohung. Ganz im Gegenteil.
Der Schriftsteller Juan Villoro, die Schauspielerin Ofelia Medina, die Produzentin Berta Navarro, der Schauspieler Daniel Jiménez Cacho, die Filmschaffenden Valentina Leduc und Juan Carlos Rulfo, die Philosophin Fernanda Navarro. Alle nehmen sie strahlend an den Feierlichkeiten teil. Sie und viele weitere wie sie feiern das 30-jährige Jubiläum des Dabeiseins.
Auch die ersten Ansprechpersonen des zapatistischen Kampfes waren hergekommen, die indigenen Völker Mexikos: Die Nahua, Purhépecha, Naayeri, Binnizá, Mephá, Na Savi, Amuzgo, Mazateco, Popoluco, Chinanteco, Otomíe, Mayo, Yoreme, Zoque, Totonaco und die Maya kamen, um sich zu informieren, was das Projekt „Gemeinsames Land. Land von Niemandem“ genau besagt.
„Wir brauchen niemanden, der uns Workshops gibt oder Vorträge hält, wie das System funktioniert. Es ist so einfach zu sehen, wie der Kapitalismus funktioniert. Wenn das jemand nicht sehen will, ist das seine eigene Verantwortung“, hört man Moisés’ Stimme aus dem Mikrophon. „Es geht doch nur darum zu sehen, dass wir das Gute machen und das Gute denken müssen. Das ist unsere Aufgabe.” Hinter ihm sitzen dutzende Mitglieder des Revolutionären Untergrundkomitees der Indigenen CCRI (Comité Clandestino Revolucionario Indígena), der obersten Autorität der zapatischen Struktur.
„Gemeinsames Land. Land von Niemandem“
„Zu dem, was wir gemeinsam machen wollen: Vielleicht gibt es Brüder und Schwestern, die anders denken. Aber nein, es gibt Dinge, die gemeinschaftlich sind, und Dinge, die es nicht sind. Dafür haben wir unseren Kopf, um nachzudenken. Dafür haben wir Augen, um das wahrzunehmen. Dafür haben wir einen Geruchssinn, um zu wissen, was in welche Kategorie fällt”, so Moisés weiter. Es gebe kein Buch oder keine Gebrauchsanweisung für das, was komme, fügt er hinzu, und wie immer müsse man Praxiserfahrung sammeln.
„Wir müssen niemanden töten“, wiederholt der Befehlshaber der Zapatistas. „Aber dafür brauchen wir Organisation. Die, die dort regieren, wollen wir nicht mehr, denn das ist die kapitalistische Welt.“ Dann fragt er: Glaubt jemand, dass sich der Kapitalismus vermenschlichen lässt? Das Publikum verneint im Chor. Und Moisés spricht weiter: „Der Kapitalismus wird niemals sagen: ‘Ich höre auf mit dem Ausbeuten’. Keiner, nicht mal der Kleinste, wird aufhören zu Überlisten, zu Klauen und auszubeuten, von den Großen ganz zu schweigen. Dafür braucht man nicht viel Wissen. Was wir brauchen, ist nachzudenken, wie man das ändern kann. Das wird uns keiner sagen. Wir sind es, die Völker, Frauen und Männer, die diesen Weg weiter gehen und uns verteidigen werden.“
Die Organisation, die Geschichte und die 4T
Während der beiden Tage der Feierlichkeiten führten die Zapatistas Stücke zu den verschiedenen Etappen der Autonomie auf; beginnend mit der Geburt der sogenannten Aguascalientes in 1994, der Umwandlung in fünf Caracoles in 2003, dann die Erweiterung auf zwölf Caracoles. In der Gegenwart setzt sich die EZLN für das Gemeindeland ohne Eigentümer*innen ein und lädt sogar Nicht-Zapatistas dazu ein, an dieser kollektiven Arbeit teilzunehmen.
„Es ist nicht leicht gewesen, denn die schlechte Regierung des Landes wollte uns fertigmachen. Sie haben die Gegend militarisiert und wollten uns spalten. In ihren Medien sagten sie, dass wir Zapatistas aufgegeben und ihre Krümelchen akzeptiert hätten. Aber wir haben nicht aufgegeben. Widerstand leisten heißt nicht nur, auszuhalten, sondern Widerstand aufzubauen“, so die Jugendlichen in ihrem Theaterstück.
Während des Jubiläums blieb auch Zeit für tiefgreifende Kritik an der „4T und den dazugehörigen Megaprojekten“, der Vierten Transformation des Präsidenten Andrés Manuel López Obrador. Mit Zügen aus Karton, die sie auf ihren Schultern trugen, repräsentierten die Kinder und Jugendlichen den Maya-Zug (Tren Maya) und die Interozeanische Eisenbahn, die beide erst kürzlich von der mexikanischen Regierung eingeweiht wurden. In der Veranstaltung kamen die Windparkprojekte, Bergwerke, Wasserkraftwerke und genetisch verändertes Saatgut zur Sprache. Auch das Organisierte Verbrechen und seine Verbindungen zu den Regierungen wurde erwähnt. Ein Mann im Anzug und mit einer Maske des Präsidenten López Obrador spielt einen Präsidenten, der im Theaterstück verrückt wird, weil sich die Völker vereinen und organisieren.
Die Feier scheint unendlich. Der Tanz geht weiter bis in die frühen Morgenstunden. Und auch am ganzen ersten Januar werden Tänze aufgeführt, es gibt Basketball- und Volleyballturniere, künstlerische Darbietungen und von den Gästen angebotene Workshops.
Und plötzlich taucht auch eine unerwartete Gruppe Mariachis im öffentlichen Speisesaal auf. Sie singen die Mañanitas, das Morgenlied, denn heute ist ein Geburtstag.
Übersetzung: Patricia Haensel
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