„Wir befinden uns im ständigen Widerstand“

Guadalupe Vázquez
Guadalupe Vázquez ist indigene Aktivistin in Acteal. Foto: © Oda Balke Fjellang (mit freundlicher Genehmigung)

(Berlin, 30. November 2023, poonal).- Las Abejas de Acteal ist eine 1992 gegründete indigene Menschenrechtsorganisation aus der Gemeinde Chenalhó im südmexikanischen Bundesstaat Chiapas. Die Abejas de Acteal sympathisieren mit dem EZLN, der zwei Jahre später einen Aufstand gewagt und mehrere indigene Gemeinden unter Selbstverwaltung gebracht hat, lehnen aber im Gegensatz zum EZLN die Anwendung von Gewalt strikt ab.

Am 22. Dezember 1997 wurde das Dorf Acteal von einer paramilitärischen Bande überfallen, mutmaßlich mit Unterstützung der mexikanischen Armee. Dem „Massaker von Acteal“ fielen 45 Menschen zum Opfer, hauptsächlich Frauen und Kinder. Bis heute ist das Massaker nicht vollständig aufgeklärt.

Die indigene Aktivistin Guadalupe Vázquez, auch Lupita genannt, hat als zehnjähriges Mädchen dieses Massaker überlebt. Seitdem engagiert sie sich für die Rechte und Autonomie indigener Communities, gegen staatliche Repression, sowie für die Rechte indigener Frauen innerhalb der Bewegung.

Das Interview führten Jan Winkler und Lena Andro.

*Triggerwarnung: In diesem Interview geht es auch um Gewalt.

Warum ist der Pazifismus Teil eures Kampfes?

Lupita: Wir haben viele Gewalterfahrungen gemacht, aber wir antworten nicht mit der gleichen Gewalt. Wenn jemand dir einmal Gewalt angetan hat und du mit der gleichen Gewalt reagierst, macht das die Sache nur noch schlimmer. Zwei Jahre nach der Gründung unserer Organisation Las Abejas im Jahr 1992 begann der bewaffnete Aufstand der Zapatistas. Damals hatten wir die Möglichkeit, zwischen der Gewaltfreiheit der Abejas und dem Zapatismus zu wählen. Und bei den Abejas haben wir uns für die Gewaltlosigkeit entschieden. Der Kampf der Zapatistas ist gerecht, aber er hat das Blutvergießen nicht vermieden, also ist er für uns nicht das Richtige. Und für unsere Organisation ist klar: Wer Teil der Abejas ist, darf keine Gewalt anwenden. Immer wenn es Gewalt gegen uns gab, haben wir dies öffentlich angeprangert oder den Dialog mit denjenigen gesucht, die uns verletzen oder Gewalt gegen uns fordern.

Warum wollt ihr autonom sein, und wie können autonome Gemeinschaften mit dem Staat koexistieren?

Lupita: Seit der Gründung der Organisation 1992 haben wir keine Unterstützung mehr erhalten, wir haben aufgehört, nach staatlichen Projekten zu fragen oder sie finanzieren zu lassen. Seitdem sagen wir: „Wir können das, und wir brauchen euch nicht!“ Der Staat hat wenig an die indigenen comunidades verteilt, um selbst viel zu haben. Die Absicht des Staates ist: Das, was ich ihnen gebe, soll reichen, damit sie treu sind wie ein kleiner Hund, der kommt und immer gefüttert wird. Aber er weiß nicht, was mit ihm geschehen wird. Viele, die Projekte erhalten, sagen: „Die Regierung ist sehr gut, sie ist wie unser Vater, sie füttert uns, sie gibt uns Geld, sie finanziert uns Projekte“. Leider sehen sie die Realität nicht, in der wir leben. Aber wir akzeptieren diese Projekte nicht, weil wir selbst überleben können, weil wir haben, was wir zum Leben brauchen. Deshalb sind wir gegen den Staat, und deshalb suchen sie nach einem Weg, uns zu spalten, um die Organisation aufzulösen und uns zu kontrollieren. Das ist ein Problem, denn dieselben comunidades, die von der Regierung unterstützt werden und Projekte erhalten, empfinden es als Beleidigung, dass wir als Organisation nichts erhalten und es uns trotzdem an nichts fehlt. Und das ist ein Grund, um Probleme zu provozieren, was die Regierung natürlich ausnutzt und Menschen Geld bietet, damit wir uns entzweien. So bereiten sie uns Konflikte. Deshalb sagen wir immer, dass wir uns im ständigen Widerstand befinden. In einer Organisation zu sein, die Augen offen zu halten und die Realität zu sehen, bedeutet Widerstand zu leisten. Widerstand gegen Bedrohungen, Widerstand gegen Schläge. Widerstand bedeutet auch die Ablehnung von Projekten. Das ist nicht einfach, aber wir haben gelernt, damit zu leben und vor allem fest an uns als Organisation zu glauben.

Gibt es eine Verbindung zwischen dem Wunsch nach Autonomie und eurer indigenen Geschichte?

Lupita: Unsere Vorfahren waren immer frei, autonom, sie waren nie von irgendetwas abhängig, bis die Spanier kamen und ihnen sagten, was sie tun sollten und was sie nicht tun sollten und dass etwas nicht ihnen gehört, weil sie unwissend oder wie Tiere seien. Aber wenn wir uns unsere Geschichte ansehen, erkennen wir, dass unsere Vorfahren immer frei und unabhängig waren. Sie brauchten nie jemanden, alle arbeiteten für sich selbst und ernteten ihre eigene Nahrung. Sie waren immer Bauern und Jäger. Auch die Frauen waren früher keine Hausfrauen, sondern Jägerinnen. Erst nach Ankunft der Spanier haben sie uns Frauen zu Hausfrauen gemacht, dafür wurden wir gebraucht. Die Mentalität begann sich zu ändern, der Machismo in uns wurde so stark, dass wir sagten: „Du bist das Oberhaupt des Hauses, weil ich es sage, weil du ein Mann bist, weil der König es sagt, so muss es sein. Du bist das stärkere Geschlecht, und die Frau ist das schwächere Geschlecht.“ Aber wenn wir in unserer Geschichte zurückgehen, waren unsere Frauen Mammutjägerinnen. Welches Geschlecht ist dann das schwächere Geschlecht? Frauen waren schon immer stärker als Männer, sie brachten nicht nur Kinder auf die Welt, sie machten auch Jagd auf riesige Tiere. Es stimmt also nicht, dass ich nicht unabhängig oder autonom sein kann.

Wie sieht die Rolle der Frauen aus? Gibt es einen Unterschied in den Geschlechterrollen?

Lupita: Die Leitungsfunktionen übernehmen die Männer, die Frauen sind immer in der Küche. Leider ist das unsere Realität, Hunderte von Jahren haben wir die Vorstellung durchgesetzt, dass Frauen für das Haus und für nichts anderes zuständig sind. Man muss sich mit dem Stolz und den vererbten Vorurteilen auseinandersetzen. Wenn man eine Frau nach ihrer Meinung fragt, gilt das als Schwäche, immer muss es der Mann sein. Eine Frau kann nichts.

Wir haben zwei Bereiche, das Handwerk und eine gemeinsame Kasse zum Sparen, wo nur Frauen mitarbeiten. Aber es war nicht so einfach, als Frau zu sagen, ich gehe zum Treffen. Man muss dem Mann sagen, dass er bleiben und sich um das Haus und die Tiere kümmern soll. Oft müssen die Frauen früher aufstehen, um die Tiere und die Kinder zu versorgen. Und dann bringen sie natürlich die Kinder mit zum Treffen. Aber es ist schon ein Fortschritt, dass sie allein zu einem Treffen gehen können. Es ist nicht einfach, die Geschichte und die Erinnerung von Hunderten von Jahren zu ändern. Es geht nicht nur darum, dass Männer die Freiheit und den Raum für Frauen anerkennen und ihnen diesen geben, sondern auch darum, dass Frauen daran glauben, dass sie diese Fähigkeit haben, und auch das ist sehr schwierig. Man muss anfangen, an sich selbst zu glauben, und das ist nicht einfach, denn wir sind in dem Glauben aufgewachsen, dass unser Wort nicht zählt, dass wir nicht die Fähigkeit haben, dass wir nicht intelligent genug sind, um mitzuwirken. Es kommt oft vor, dass eine Frau, die sich traut, ihre Meinung zu sagen, dafür kritisiert wird. Es ist also sehr schwierig für sie, Vertrauen in sich selbst und in ihre Fähigkeiten zu fassen, aber langsam kommen wir voran.

Würdest du sagen, dass du Feministin bist, und was bedeutet Feminismus für dich?

Lupita: Ich war schon immer sehr frei und sehr ich selbst. Für mich ist Feminismus der Kampf um Gleichberechtigung, der Kampf darum, einen Platz zu haben, als wichtiges menschliches Wesen anerkannt zu werden, mit den Fähigkeiten und der Intelligenz, das zu tun, was ich will. Aber manchmal gibt es auch Feministinnen, die ausgrenzen. Ich glaube, dass Feminismus ein gemeinsamer Kampf sein muss, sowohl von Männern als auch von Frauen. Ich glaube, dass wir uns gegenseitig unterstützen und dass wir gemeinsam stark sind, Männer und Frauen. Ich will nicht vor oder hinter einem Mann gehen. Ich möchte neben einem Mann stehen, und ich möchte, dass ein Mann neben mir steht, damit wir zusammen gehen können, und nicht mehr sagen, dass ein Mann mehr kann oder eine Frau mehr kann. Wenn wir getrennt sind, ist es meiner Meinung nach schwieriger, unser Ziel zu erreichen.

Wie sorgst du für dich selbst, nach all der Gewalt, die du erlebt hast, und für die Menschen um dich herum, und wie sorgen die Menschen um dich herum für dich?

Lupita: Das war sehr schwierig für mich als Überlebende. Ich glaube, dass ich nach dem Massaker ein unsichtbares Zelt aufgeschlagen habe, um mich vor der Gewalt zu schützen. Ich glaube, dass ich vor dem Massaker ein Mensch war, der sich selbst nicht anerkannt hat. Vor dem Massaker hielt ich mich für unfähig. Ich habe nicht die Fähigkeit, ich kann nicht, ich bin nicht. Ich habe mich im Spiegel gesehen und gesagt, ich sei hässlich. Ich habe mich selbst abgelehnt. Aber nach dem Massaker musste ich mich selbst akzeptieren und wertschätzen, um zu wissen, dass ich mein Leben riskiert habe, da ich beinahe auch zu den Märtyrern gehört hätte. Ich schätzte das Leben mehr, weil ich spürte, dass meine Eltern mir das Leben geschenkt hatten, was das wunderbarste Geschenk ist, das uns jemand machen kann. Seit sie mich vor dem Tod bewahrt haben, ist es so, als hätten sie mir das Leben zweimal geschenkt. Indem sie mir das Leben gerettet haben, damit ich weiterlebe, muss ich mein Leben auch wertschätzen, muss für mich selbst sorgen. Ich muss auf meine eigenen Bedürfnisse achten, auf das, was ich brauche, aber auch auf das, was ich habe. Es war nicht einfach. Ich habe oft darüber getrauert, dass meine Eltern umgebracht wurden, und gedacht: „Warum habt ihr mir das Leben gerettet, wenn ich nun ohne euch bleibe? Ihr hättet mich mitnehmen sollen. Es ist leichter, zusammen zu sterben, als hier alleine zu sein.“ Ich habe das erst verstanden, als ich selbst Mutter wurde. Als ich meinen Sohn zum ersten Mal in den Armen hielt, habe ich gesagt, ich muss ihn vor allem beschützen. Da habe ich verstanden, warum sie mir das Leben geschenkt haben, da habe ich angefangen, diese große Liebe, die Eltern für ihre Kinder haben können, zu schätzen und zu verstehen. Ich weiß nicht, ob ich es richtig oder falsch mache, aber ich versuche, das Beste für mich und für meine Kinder zu tun. Ich glaube, dass wir unser Bestes tun, damit es den Menschen um uns herum gut geht.

Es heißt, dass die Zeit alle Wunden heilt. Ist es für dich jetzt leichter als früher?

Gerechtigkeit
Auch 26 Jahre nach dem Massaker fordern die Menschen in Acteal Gerechtigkeit. Foto: © Oda Balke Fjellang (mit freundlicher Genehmigung)

Lupita: Ich weiß nicht, ob die Zeit die Wunden heilt, aber die Zeit lehrt dich, mit ihnen zu leben. Es ist nicht so, dass es nicht weh tut, aber ich habe gelernt, damit zu leben. Und nicht zu verzweifeln, denn nach dem Massaker war ich viele Jahre eingesperrt in meinem eigenen Schmerz. Ich habe zwei kleine Schwestern. Die eine war etwa fünf oder sechs Jahre alt, als das Massaker geschah. Sie war die Jüngste und hatte eine Wunde am Bein. Ich war zwischen zehn und elf Jahre alt und die älteste von uns. Sie flehten mich schreiend an, dass unsere Eltern zurückkommen. Es gab zwei Optionen: sich in Verzweiflung stürzen, mich mit ihnen zu Tode weinen oder stark zu werden und mich um sie zu kümmern. Ich trug also viele Jahre des Schmerzes mit mir herum, und manchmal denke ich, dass ich deshalb bei jeder Kleinigkeit so leicht weine. Manchmal fühle ich mich gleichzeitig stark und sehr schwach. Es war ein sehr schwieriger Prozess, all das zu verstehen oder meine Realität zu akzeptieren. Heilt die Zeit alle Wunden? Nein. Sie lehrt uns, damit zu leben, dankbar zu sein und die Realität zu akzeptieren, in der wir leben. Aber wir sollten nicht glauben, dass es wieder passieren wird, weil wir dazu bestimmt sind, sondern weil Menschen uns schaden wollten. Ich denke, dass wir alle gelernt haben, damit zu leben, aber nicht komplett geheilt sind, denn das Massaker war sehr grausam. Wir tragen es immer in unseren Köpfen. Aber mit der Zeit habe ich auch gelernt, den Märtyrern für die Möglichkeit zu danken, am Leben zu bleiben.

Warum ist die historische Erinnerung wichtig?

Lupita: Es ist wichtig, dass wir unsere Vorfahren nicht vergessen, dass wir unsere Identität schätzen und vor allem als Menschen wissen, woher komme ich und wohin will ich gehen. Das ist Teil der Erinnerung an die Märtyrer von Acteal: zu wissen, ob wir sie in Vergessenheit geraten lassen oder ihnen in der Erinnerung danken wollen. Und das ist es, was wir für unsere Kinder aufbauen, damit so etwas nicht wieder passiert.

Unter Anleitung einer Psychologin wurde die comunidad dazu eingeladen, sich selbst als Baum zu beschreiben. Wie sah der Baum für dich aus?

Lupita: Ich denke, dass wir Überlebenden die Samen sind, die sie nicht töten konnten. Dass wir ein Samen sind, der nicht verrottet, sondern gewachsen ist und dass wir Früchte tragen. Die Früchte sind unsere Kinder, die sie Gewaltlosigkeit und den Kampf lehren und ihnen die Erinnerung geben. Ich betrachte mich nicht als vertrockneten Baum, sondern als einen, der Früchte trägt.

Wie sieht deine Utopie aus, um eine neue Welt aufzubauen?

Lupita: Ich habe in meiner Vorstellung eine andere Welt aufgebaut, in der ich meine Kinder frei und glücklich sehe, ohne Krieg, ohne Gewalt, ohne Militär. Ich weiß nicht, wie lange ich noch zu leben habe, aber ich weiß, dass diese 26 Jahre (seit dem Massaker) mein zusätzliches Leben sind, das mir das Leben und meine Eltern geschenkt haben. Ich bin hier, weil ich das Beste für die Kinder will. Ich fände es schön, wenn es keine Gewalt gäbe, wenn es keinen Krieg gäbe, wenn das Land so erhalten bliebe und noch schöner, wenn es nicht so viel Zerstörung gäbe. Das ist unser Kampf: dass sie glücklich sein können, dass sie ihr Land haben, dass sie frei sein können. Das ist meine Vorstellung von einer schönen Welt. Anders als an dem Punkt, wo wir gerade sind, denn hier traut man in den Städten nicht einmal seinem eigenen Schatten.

Das Leben in den comunidades ist schwierig, weil du arbeiten musst, um zu essen, aber du bist frei. Auf deinem eigenen Land sagt dir niemand, was du tun darfst oder nicht. Du kannst spazieren gehen oder wandern. Wenn ich nichts zu essen habe, gehe ich in die Berge, wo ich Gemüse oder etwas anderes finde; die Natur selbst versorgt dich mit dem, was du brauchst. Ich denke, das ist eine wunderbare Welt. Wenn wir alle so frei leben könnten, die Kinder glücklich, sich umeinander kümmernd, dann wäre das die Welt, die wir uns wünschen.

Hast du eine Botschaft an die Genoss*innen, die weit weg von hier den gleichen Kampf führen?

Lupita: Ich möchte sie auffordern, sich nicht entmutigen zu lassen und weiterhin nach Wegen zu suchen, um diese Welt unserer Träume aufzubauen, in der wir frei sind, in der es keine Unterscheidung oder Trennung von Hautfarben, Sprachen, Ethnien gibt, sondern in der wir uns alle als Geschwister sehen. Ich glaube, dass wir an dem Tag, an dem wir uns alle als Brüder und Schwestern sehen, eine andere Welt aufbauen können, eine bessere Welt für alle. Ich glaube, dass sich dieser Kampf um das Leben und um eine bessere Welt lohnt. Trotz aller Risiken, trotz allen Leids ist es das wert. Ich lade sie ein, sich nicht entmutigen zu lassen und weiter mit uns zu gehen. Las Abejas werden auch weiterhin mit Schwierigkeiten zu kämpfen haben, aber wir werden weiter kämpfen und Widerstand leisten!

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