Poonal Nr. 137

Deutsche Ausgabe des wöchentlichen Pressedienstes lateinamerikanischer Agenturen Nr. 137 vom 04.04.1994

Inhalt


MEXIKO

GUATEMALA

HAITI

URUGUAY

NICARAGUA

KUBA

CHILE


MEXIKO

Erziehungsminister Zedillo neuer PRI-Präsidentschaftskandidat

(Mexiko-Stadt, 4. April 1994, POONAL).- Während die Öffentlichkeit noch über die Hintergründe des Mordes an dem mexikanischen Präsidentschaftskandidaten Donaldo Colosio spekulierte, stand der Nachfolger bereits fest. Am Dienstag, den 29. März, präsentierte die regierende Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI) den Erziehungsminister Ernesto Zedillo Ponce de León als neuen Anwärter auf das Präsidentenamt. Innerhalb der PRI galt Zedillo allerdings nicht unbedingt als Favorit für die Kandidatur. Folgt man der mexikanischen Wochenzeitschrift „Proceso“ in ihrer Ausgabe vom 4. April, so erfolgte die Wahl überstürzt und unorganisiert. Einmal mehr war es demnach am Ende Präsident Carlos Salinas de Gortari, der allen demokratischen Gepflogenheiten zuwider die Entscheidung traf. Dem Rest der Partei blieb nur die Statistenrolle.

Zedillo galt in der Partei nicht als Favorit für die Kandidatur

Zedillo kommt wie Colosio aus dem Norden Mexikos. Er ist einer der wenigen Schüler einer staatlichen Schule, die im Ausland ein Postgraduiertenstudium absolvieren konnten. Ein Jahr in Bradford, England, und vier Jahre an der Yale-Universität in den USA formten den Wirtschaftswissenschaftler. Vor 1987 arbeitete er insgesamt neun Jahre in der mexikanischen Zentralbank. Von 1989 bis Anfang 1992 war er Minister für Planung und Haushalt, nachdem er bereits zuvor maßgeblich an der Politik dieses Ministeriums beteiligt war. Als seine Behörde mit dem Finanzministerium zusammengelegt wurde, ernannte ihn Salinas zum Erziehungsminister. In dieser Funktion machte er nicht immer eine glückliche Figur, besonders bei der erregten Diskussion um die Einführung neuer Geschichtsbücher im letzten Jahr. Nach der Kür zum Präsidentschaftskandidaten legte Zedillo das Ministeramt nieder. Er gilt eher als Technokrat, weniger als charismatischer Politiker. Bisher betont er in jeder Rede, die Ideen von Colosio verfolgen und für die Kontinuität der von Salinas eingeleiteten Wirtschaftsreformen sorgen zu wollen. Inwieweit er sich vom Übervater Salinas lösen kann, bleibt abzuwarten. Für die Erwartungen des derzeitigen Präsidenten ist bezeichnend, was dieser der jüngsten Ausgabe des Proceso zufolge nach der Ernennung von Zedillo sagte: „Wie schade, daß wir keinen anderen Colosio haben…“

GUATEMALA

Menschenrechtsabkommen nach 33 Jahren Krieg

– Von Ileana Alamilla

(Mexiko-Stadt, 29. März 1994, cerigua-POONAL).- Nach 33 Kriegsjahren haben die Guerilla, die Regierung und die Streitkräfte Guatemalas am 29. März ein Abkommen, das die Grundrechte der Guatemaltek*innen garantieren soll, unterzeichnet. Das Abkommen wird als ein wichtiger Schritt zur Demokratisierung des Landes angesehen, obwohl das kontrovers diskutierte Thema der „Wahrheitskommission“, die die zurückliegenden Kriegsverbrechen untersuchen soll (vgl. die letzten POONAL-Ausgaben; die Red.), noch für den Monat Mai aussteht.

Über 1300 Menschenrechtsverletzungen in 1993

Während des Krieges sind die Menschenrechtsverletzungen zu einem wesentlichen Teil der Regierungs- und Militärpolitik geworden, um die Kontrolle der wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Macht zu behalten. Die Grundrechtsverletzungen erreichten in letzter Zeit erschreckende Ausmaße, obwohl ein ehemaliger „Richter des Bewusstseins“ (gemeint ist damit die Funktion des Menschenrechtsbeauftragten; die Red.) die Präsidentschaft übernahm. Nach im Januar 1994 veröffentlichten Zahlen des US-Außenministeriums gab es 861 registrierte Menschenrechtsverletzungen im Jahr 1992. Für 1993 erhöhte sich diese Zahl auf 1.322 Fälle. Rechnet man die ersten drei Monate dieses Jahres hoch, so werden diese Zahlen 1994 übertroffen. Humanitäre Organisationen schätzen, daß jeden Tag drei Menschen in Guatemala ermordet werden.

In dem jetzt unterschriebenen Menschenrechtsabkommen ist die sofortige internationale Überprüfung der Grundrechtssituation in Guatemala vorgesehen. Militär- und Unternehmerspitzen werden sich gegen das Abkommen, das ihnen die Unterdrückung und den Terror verbietet, zur Wehr setzen. Befürchtungen liegen nahe, daß diese Gruppen versuchen werden, ihre Interessen mit Hilfe der Todesschwadrone durchzusetzen.

Das Abkommen könnte aber gleichzeitig das Ende der Straflosigkeit bedeuten. In diesem Zusammenhang sind Erklärungen des Verteidigungsministers General Mario Enríquez wichtig. Er sprach von einer Säuberung innerhalb des Militärs. Er bot an, Mordfälle aufzuklären, die in der ganzen Welt bekannt wurden, aber deren intellektuell Verantwortliche niemals bestraft wurden (hier wird insbesondere auf die Morde an dem US-Bürger Michel Devine und an der guatemaltekischen Soziologin Myrna Mack angespielt; die Red.).

Verteidigungsminister kündigt Säuberung der Armee an

Für die guatemaltekische Gesellschaft bedeutet das Menschenrechtsabkommen ein Erfolg. Die internationale Überprüfung wird eine der Garantien sein, daß die Menschenrechte am Ende von den Staatsinstitutionen respektiert werden – wie es die Verfassung vorsieht. Einige Gesetze müssen reformiert werden, besonders das Gesetz, das die Straflosigkeit der Verantwortlichen für politische Morde aufrecht erhält. Bei diesem Thema ist der Punkt 3 des Abkommens bedeutsam. Er legt fest, daß die Regierung „keine Gesetzesmaßnahmen oder Maßnahmen anderer Art begünstigen wird, die darauf abzielen, die Verurteilung und Bestrafung der Verantwortlichen für die Menschenrechtsverletzungen zu verhindern“. Diese Erklärung macht es den Regierenden unmöglich, sich mit einer „Amnestie“ vor einer Bestrafung zu schützen.

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Erste Reaktionen auf Menschenrechtsabkommen

(Guatemala, 29. März 1994, cerigua-POONAL).- Der guatemaltekische Erzbischof Próspero Penados, höchste katholische Autorität des Landes, bezeichnete das Menschenrechtsabkommen zwischen Guerilla, Regierung und Streitkräften als „verheißungs- und sehr hoffnungsvoll, denn die Menschenrechte sind ein fundamentales Element“. Er drückte seine Unterstützung dafür aus, einen endgültigen Friedensvertrag zu verabschieden. Rosalina Tuyuc, die Vorsitzende der Witwenorganisation CONAVIGUA, sah die Gefahr, daß das Abkommen für eine „Werbekampagne“ mißbraucht werde. Sie begrüßte jedoch, daß eine UNO-Kommission ins Land kommen soll, um die Einhaltung der Menschenrechte zu überprüfen.

Der Menschenrechtsbeauftragte Jorge García Laguardia meinte, das Menschenrechtsabkommen habe „der Bevölkerung einen neuen Hoffnungsschimmer gegeben“. Die Beteiligten hätten „ihre demokratische Entschlossenheit gezeigt, um zu einer Verständigung zu kommen“. Die Volksführerin Rosario Pú erklärte, ein Friedensvertrag müsse auch Vorschläge für die Lösung von Problemen wie Armut, medizinische Versorgung und innere Sicherheit enthalten. Nerry Barrios von der Einheit für Gewerkschafts- und Volksaktionen (UASP) sprach sich für die sofortige Bildung einer „Wahrheitskommission“ aus, die Menschenrechtsverletzungen aufklären soll: „Wir wollen keine Rache. Wichtig ist, daß die Verantwortlichen so vieler Morde bestraft werden“, fügte er hinzu.

Oberster Verfassungsrichter ermordet

(Guatemala, 3. April 1994, POONAL).- In der Nacht auf den 2. April erschossen Unbekannte in Guatemala-Stadt Eduardo Epaminondas González Dubón, den Präsidenten des guatemaltekischen Verfassungsgerichtshofes. Politik- und Justizkreise machen die sogenannten Todesschwadronen für den Mord verantwortlich. Der Präsident Ramiro De León Carpio sprach von einem „Attentat gegen den Demokratisierungsprozess in Guatemala“.

Die Tat geschah kurz vor Mitternacht, als der 62jährige Jurist mit seiner Frau und einem Sohn mit dem Auto durch das Stadtzentrum fuhr. Nach den Aussagen der Angehörigen näherte sich ihnen ein Wagen mit fünf Insassen und ohne Kennzeichen. Als beide Wagen auf gleicher Höhe waren, eröffneten die Unbekannten das Feuer. Dubón erhielt einen Lungendurchschuß, an dem er wenige Stunden später im Krankenhaus starb. Die Mörder konnten unerkannt fliehen.

Todesschwadronen als Täter vermutet

Die Polizei bezeichnet den Anschlag in offiziellen Stellungnahmen trotz der eindeutigen Aussagen der Familienangehörigen des Richters noch immer als einen „versuchten Autoraub“. Mitglieder des Verfassungsgerichtshofes und des Büros des Menschenrechtsbeauftragten forderten den Präsidenten auf, den Ausnahmezustand zu verhängen, damit der Mord aufgeklärt werde. Gleichzeitig betonten sie, daß der Ausnahmezustand nicht dazu dienen dürfe, die Bevölkerung zu unterdrücken.

Der ermordete Verfassungsrichter hatte im vergangenen Jahr wesentlich dazu beigetragen, daß der versuchte „autogolpe“ des ehemaligen Präsidenten Serrano Elías am 25. Mai scheiterte. González Dubón erklärte damals das Vorgehen des Präsidenten für verfassungswidrig. Dies ermöglichte dem guatemaltekischen Kongreß, den derzeitigen Regierungschef De León Carpio zum neuen Präsidenten zu wählen. In der vergangenen Woche erklärte das Gericht unter dem Vorsitz Gonzalez Dubóns eine Reform des Wahlgesetzes für verfassungswidrig. Diese war vom Regierungschef und dem Kongreß eingebracht worden, um die politische Krise des Landes zu beenden. Am 12. April hätte González Dubón sein Amt abgegeben.

HAITI

Harte Kritik an 7Clintons Haiti-Politik

(Port-au-Prince, 26. März 1994, HIB-POONAL).- Mehrere US- Abgeordnete und politische Gruppierungen haben die Haiti-Politik von Präsident Bill Clinton scharf kritisiert. Am 23. März kündigten die Gruppen „Congressional Black Caucus“ (CBC) und „Transafrica Lobby“ sowie Vertreter*innen der „Künstler*innen für Demokratie auf Haiti“ (unter anderem mit Jonathan Demme, Sting und Julia Roberts) auf einer Pressekonferenz an, die Politik Clintons gegenüber dem Karibikstaat künftig auch mit Aktionen zivilen Ungehorsams bekämpfen zu wollen. Sie forderten zudem die Entlassung des US-Sonderbeauftragten für Haiti, Lawrence Pezullo.

US-Abgeordnete fordern vollständiges Embargo und Stop der Rückschiebung von Flüchtlingen

Der demokratische Abgeordnete Major Owens aus New York verglich Präsident Aristide mit Gandhi und Martin Luther King. Er sagte: „Wir sagen der rassistischen Politik den Kampf an.“ Maxine Waters, demokratische Abgeordnete aus Kalifornien, meinte in Bezug auf die Clinton-Regierung: „Wir vertrauen Euch nicht, wir mißtrauen Euch.“ Mehrere Abgeordnete haben einen von der CBC unterstützten Gesetzesentwurf im Senat eingebracht, der ein vollständiges Embargo und die Bestrafung von Ländern, die es verletzen (wie die Dominikanische Republik), beinhaltet. Weiterhin sollen keine Flüchtlingen mehr nach Haiti abgeschoben werden und die Vereinbarung von Governor's Island soll neu belebt werden. Die Initiator*innen kündigten zivilen Ungehorsam und Demonstrationen gegen die Haiti-Politik der US-Regierung an. Sie wollen auch die Kirchen für ihr Engagement gewinnen und Kontakte zu haitianischen Gruppen schaffen.

Die Veranstalter*innen der Pressekonferenz und Dutzende weiterer Personen unterschrieben eine ganzseitige Anzeige in der New York Times, in der sie Clinton anklagten, haitianische Flüchtlinge „in der Todeskammer ihrer eigenen Insel einzuschließen“. Die Anzeige enthielt ein großes Foto des früheren haitianischen Justizministers Guy Malary, kurz nachdem er letzten Herbst niedergeschossen worden war. Während der Konferenz verlangten mehrere Veranstalter*innen die Entlassung des nordamerikanischen Sonderbeauftragten für Haiti, Lawrence Pezullo. Sie bezeichneten ihn als „ein Desaster“. Der Abgeordnete John Conyers von den Demokraten aus Michigan erklärte: „Pezullo würde uns den größten Gefallen tun, wenn er seinen Rücktritt einreichen würde.“

Aristide: USA betreiben eine rassistische Politik Bei einem Treffen mit Vizepräsident Al Gore am 25. März sagte Präsident Aristide, er werde sich auch künftig nicht dem Druck der USA und der Rechten beugen, einen neuen Primierminister zu ernennen. Voraussetzung sei der Rücktritt der Führung der Streitkräfte. Er drückte seinen Rückhalt für die Gesetzesvorlage des Congressional Black Caucus aus. In Miami hatte er die US- Regierung eine Woche zuvor noch härter attackiert. Er bezeichnete ihre Politik als „rassistisch“ und spekulierte über ihre Rolle bei dem Staatsstreich gegen ihn. Er sagte der Presse, Clinton habe noch „die Möglichkeit, zu beweisen, daß die USA nicht darin verwickelt waren oder nicht mehr darin verwickelt sind, indem sie der Demokratie wieder Geltung verschaffen“. (HIB entnahm diesen Artikel der in den USA erscheinenden Zeitschrift „Haiti Progres“.)

FRAPH blockiert Lebensmittellieferung

(Port-au-Prince, 26. März 1994, HIB-POONAL).- Mit dreitägigen Demonstrationen und Drohungen hat die rechtsgerichtete Front für den Haitianischen Fortschritt (FRAPH) verhindert, daß ein Schiff Lebensmittel nach Haiti bringen konnte. Das Schiff, daß am 25. März anlegen sollte, hatte 300.000 Tonnen Lebensmittel aus Frankreich für haitianische Kinder an Bord. Die Anführer der paramilitärischen FRAPH, die sich in dem Hafen versammelt hatten, wurden von Senator Bernard Sansaricq, seinen Verbündeten und mehr als 100 weiteren Personen unterstützt. Bereits am 11. Oktober 1993 hatten FRAPH-Mitglieder im selben Hafen gegen die Ankunft des US- Schiffes Harlan County protestiert.

Die FRAPH bezeichnete den Tag als „halben Sieg“. Wiederholt drohte sie, die Entladung der Lebensmittel notfalls auch mit Waffengewalt zu verhindern. Sie erklärte: „Wir haben sie (die Franzosen) 1803 herausgeworfen und wir können es wieder tun.“ Die FRAPH, Sansaricq und andere sagten, die französische Hilfe sei „eine Beleidigung“, weil Frankreich verantwortlich für das Embargo gegen Haiti sei. Die französische Botschaft gab bisher keinen Kommentar ab.

Paramilitärische Banden und Armee wüten im Norden

(Cap-Haitien, 25. März 1994, HIB-POONAL).- Mitglieder von Volks- und LandarbeiterInnenorganisationen im Norden Haitis berichten über steigende Gewalt durch paramilitärische Gruppen und die Streitkräfte. Am 8. März brannten Soldaten in Cormier drei Häuser nieder, töteten Tiere und zerstörten 6,5 Hektar Mais. Sie verhafteten 15 Personen, weil zwei Helfer des lokalen Bereichschefs einem Bewohner des Ortes ihre Schulden nicht bezahlen wollten.

Am 17. März beobachteten Bürger*innen aus Cap-Haitien einen Lastwagen ohne Kennzeichen, der mit zwölf Leichen aus dem örtlichen Gefängnis kam. Der Wagen fuhr in Richtung Strand, wo häufig die Leichen politischer Gefangener abgeladen werden.

URUGUAY

Das Volk vergreist

– Von Cristina Canoura

(Montevideo, 22. März 1994, SEM-POONAL).- Uruguay droht ein Volk von Renter*innen und Greis*innen zu werden. Im Gegensatz zu vielen Ländern der sogenannten Dritten Welt leidet das südamerikanische Land nicht unter einem raschen Wachstum der Bevölkerung. Vielmehr bereitet den Verantwortlichen Kopfzerbrechen, daß das drei Millionen Köpfe zählende Volk nicht mehr für ausreichend Nachwuchs sorgen mag – und daher langsam, aber beharrlich vergreist. Schon Mitte dieses Jahrhunderts begann die schleichende Überalterung der Bevölkerung Uruguays. Die Folgen zeichnen sich heute ab: Die wirtschaftlich aktiven Personen können die Sozialversicherung der immer zahlreicheren Ruheständler*innen nicht mehr bezahlen. Immer häufiger muß der Staat einspringen, um die Absicherung im Alter zu finanzieren. Bereits 40 Prozent des Haushalts muß er für die soziale Fürsorge verwenden.

Staat gibt 40 Prozent des Budgets für soziale Fürsorge aus

Je älter die Uruguayer*innen, desto ärmer und weniger gesund sind sie. Die Folge: Das Gesundheitssystem wird teuerer und meist auch schlechter, da immer mehr Menschen versorgt werden müssen. Die Daten der letzten Volkszählung von 1985 geben an, daß 11 Prozent der Bevölkerung 65 Jahre und älter sind, etwas mehr als die Hälfte davon Frauen (der Zensus von 1995 kann nicht durchgeführt werden, weil die Behörden vergaßen, ihn in die Haushaltsplanungen aufzunehmen). Die Bevölkerungsexpertin Ana Damonte sagt eine Verschärfung der Situation voraus. Im Jahr 2010 werden demnach mehr als eine halbe Million Alte im Land leben, von denen 27 Prozent älter als 80 Jahre sein werden (60 Prozent davon Frauen). Die Gesamtbevölkerung wird nur um 600.000 Personen gewachsen sein. Das durchschnittliche Alter wird bei 40 Jahren liegen.

Zur Zeit haben fast 46.000 Alte überhaupt kein Einkommen. Sie hängen von anderen Personen ab, die ihren Lebensunterhalt zahlen. 40.000 von ihnen sind Frauen. Die massive Eingliederung der Frauen in den Arbeitsmarkt Ende der 60er Jahre läßt annehmen, daß viele von diesen Frauen im Alter eine größere wirtschaftliche Sicherheit haben werden. Aber die Mehrheit der uruguayischen Frauen arbeiten nach wie vor als Hausangestellte und als Arbeiterinnen im informellen Sektor und sind nicht sozial abgesichert.

„Wir sind ein Land mit einem (Bevölkerungs-)Wachstum vergleichbar den Ländern des Nordens, aber wir befinden uns in in einer Situation des wirtschaftlichen Niedergangs.“ So umreißt Cristina Grela von der internationalen Organisation „Katholikinnen für das Recht auf Entscheidung“ die Situation in Uruguay. Sie beschreibt das Leben der Frauen am Stadtrand von Montevideo: „Sie leben ohne Möglichkeit zur persönlichen … Entwicklung. Sie treiben ab, wenn sie können, oder sie haben unerwünschte Kinder. Wenn die Frauen in Uruguay weniger Kinder haben, als sie eigentlich haben möchten, hat dies einen Grund: Ihre Lebensbedingungen sind zu schlecht.“

13 Prozent der Bewohner*innen von Montevideo und 19 Prozent der übrigen 18 Departements, in die das Land aufgeteilt ist, leben unterhalb der Armutsgrenze. Zu diesem Bevölkerungskern gehören 31 Prozent der Frauen zwischen 15 und 49 Jahren.

Verstädterung ließ Geburtenrate auf Niveau europäischer Länder sinken

Für die niedrige Geburtenrate sorgten nicht in erster Linie staatliche Kampagnen für Geburtenkontrolle und Familienplanung, sondern die Verstädterung der Bevölkerung und die Sozialpolitik des Staates in der ersten Hälfte des Jahrhunderts. Beide formten eine breite Mittelklasse, der es einfach nicht nützlich schien, viele Kinder zu haben. Der Gebrauch von Verhütungsmitteln war Ende der 60er Jahre allgemein. Damals sank die Geburtenrate bereits, weil Kondome gebraucht wurden oder abgetrieben wurde. Abtreibungen waren sehr häufig und standen seit 1934 nicht mehr unter Strafe. Einige Jahre später wurde sie aufgrund einer Vereinbarung der Regierung mit der Sozialchristlichen Partei jedoch wieder kriminalisiert und ist bis heute verboten. Das Verbot hat bewirkt, daß niemand die Zahl der Abtreibungen exakt beziffern kann. Frauenorganisationen schätzen, daß jährlich 150.000 Abtreibungen durchgeführt werden. Zum Vergleich: Die Zahl der Geburten liegt nur knapp über 50 000.

Aber nicht nur die Überalterung ist ein charakteristisches Merkmal der uruguayischen Bevölkerung am Ende des 20. Jahrhunderts. Die Wanderung vom Land in die Stadt alarmiert die Expert*innen, die den Bericht für die Weltkonferenz „Bevölkerung und Entwicklung“ dieses Jahr in Kairo ausarbeiteten. Sie prognostizieren „das Versiegen der biologischen Reproduktion der Landbevölkerung“. In den vergangenen Jahren nahm der Anteil der Landbevölkerung um 25 Prozent ab.

33 Prozent der Jugendlichen wollen auswandern

Ein weiteres Phänomen ist die Auswanderung der Jugendlichen ins Ausland seit Mitte der 60er Jahre. Dies hat tiefe Spuren in der Alterstruktur der Bevölkerung hinterlassen. Zwischen 1963 und 1985 emigrierten 308.514 Personen, fast 12 Prozent der Population. Meinungsumfragen zufolge wollen heute 33 Prozent der Jugendlichen Montevideos auswandern.

Trotz allem steht nach dem Urteil von Roberto Bissio, dem Direktor des Dritte Welt-Institutes fest: „Anstatt scharfsinnig darüber zu grübeln, wie man den Geberländern sagt, daß Uruguay Bevölkerungsprobleme hat, um Kandidat für die spärliche internationale Hilfe zu werden, muß das Land sich als Beispiel präsentieren, daß es nicht die Kontrollpolitik, sondern die Erziehung, gesundheitliche Versorgung und die Umverteilung des Einkommens war, die die gefürchtete Bevölkerungsexplosion verhinderten. Genauso muß gezeigt werden, daß die Reduzierung der Geburtenrate nicht das Allheilmittel für die Probleme der Unterentwicklung sind.“

NICARAGUA

Rechter Wahlsieg an der Atlantikküste

(Managua, März 1994, Apia-POONAL).- Die Wahlen in den beiden autonomen Regionen der Atlantikküste (RAAN und RAAS) hat die Liberal-Konstitutionalistische Partei (PLC) des Rechtsextremen Bürgermeisters von Managua, Arnoldo Alemán, knapp vor den Sandinist*innen gewonnen. Der Wahlsieg des Politikers aus der Hauptstadt hat jedoch weniger mit dessen somozistischer Ideologie als mit seiner Allianz mit Miskito-Führern zu tun.

Der wohl für die meisten unerwartete Triumph von Alemáns ultrarechter PLC wird etwas verständlicher, wenn man den Hintergrund dieser ersten Regionalwahlen an der Atlantikküste betrachtet. Bei den Wahlen vom 27. Februar kandidierten die wichtigsten Gruppen, die in Opposition zur Regierung Chamorro stehen. Die Präsidentin selbst konnte sich nur auf ihren Verbündeten, den Miskito-Führer Brooklyn Rivera stützen. Der hatte sich allerdings durch seine Untätigkeit als Direktor des nach den Wahlen im Februar 1990 geschaffenen „Instituts für die autonomen Regionen“ (INDERA) bei seinen eigenen Leuten unbeliebt gemacht und ins politische Abseits manövriert. Riveras YATAMA hatte daher von vornherein keine Chancen auf den Wahlsieg an der Atlantikküste.

Miskito-Führer Rivera manövrierte sich in politische Abseits

Das Wahlbündnis zwischen Steadman Fagoth und Arnoldo Alemán hat eine für die Atlantikküste typische Vorgeschichte mit einer kurios anmutenden Pointe: Als die Parteien im vergangenen Oktober aufgerufen waren, sich für die Wahlen einzuschreiben, wandten sich nacheinander sowohl Brooklyn Rivera als auch Steadman Fagoth an den Obersten Wahlrat, um die Miskito-Organisation YATAMA eintragen zu lassen. Fagoth hatte 1979 gemeinsam mit Rivera und Hazel Lau die von den Sandinisten ins Leben gerufene Indianerorganisation MISURASATA gegründet. In den vergangenen 15 Jahren haben sich die beiden schillernden Figuren abwechselnd überworfen und wieder verbündet. Während Rivera nach dem Bruch mit den Sandinist*innen von Costa Rica aus mit dem ehemaligen Guerillaführer Eden Pastora kämpfte, operierte Fagoth von Honduras aus mit der Rückendeckung der Contra und der CIA. Und während Rivera zuletzt als Marionette der Chamorro-Regierung in Managua saß, konnte Fagoth im vergangenen Mai in Waspan am Rio Coco den ersten YATAMA-Kongreß einberufen. Die vom Ältestenrat der Miskitos abgesegnete Veranstaltung sprach sich für die sofortige Umsetzung des Autonomiegesetzes aus und verstieß Rivera, der den Kongreß zu torpedieren versucht hatte, aus allen Parteiämtern. So kam es, daß sowohl Rivera, der eine Anzahl von Gemeinden an der Küste hinter sich weiß, als auch Fagoth als legale Repräsentanten von YATAMA beim Wahlrat vorstellig wurden.

Managuas Bürgermeister Alemán kaufte die neuen Verbündeten

Bevor sich der Oberste Wahlrat zu dem Konflikt äußern konnte, preschte Managuas Bürgermeister Arnoldo Alemán vor, der im Hinblick auf seine geplante Präsidentschaftskandidatur 1996 auch im Osten des Landes Fuß fassen will. Er kaufte die Fagoth-Fraktion buchstäblich auf – 30 000 Dollar soll der Bürgermeister bei dem Deal auf den Tisch gelegt haben. Fagoth, der überraschende ideologische Kehrtwendungen nie gescheut hat, hatte sich zuerst den Sandinist*innen angeboten, war dort jedoch abgeblitzt. So konnte Alemán am Wahltag in beiden Regionen die Stimmenmehrheit erzielen, obwohl er noch sechs Monate zuvor an der Atlantikküste völlig unbekannt war.

Am 1. März gab der Vorsitzende des Obersten Wahlrates, Mariano Fiallos, das Endergebnis der Regionalwahlen bekannt. Von den jeweils 45 Sitzen in beiden Regionalparlamenten gewann die PLC in der Nordregion RAAN 19 Sitze und die mit ihr verbündete YATAMA sieben, die sandinistische FSLN mußte sich mit 19 Mandaten geschlagen geben. In der Südregion sicherten sich PLC (18) und YATAMA (5) mit zusammen 23 Sitzen ebenfalls die absolute Mehrheit und übertrumpften die FSLN, die 14 Plätze gewann. Die UNO konnte nur fünf Mandate erobern.

Alemáns rechtsradikale PLC erringt mit YATAMA die absolute Mehrheit

Überraschend hoch war die Wahlenthaltung. 30 Prozent der Wahlberechtigten gingen nicht zu den Urnen – die Behörden hatten lediglich mit zehn Prozent gerechnet. Von den 34.000 Wahlberechtigten in der Südregion nahmen 25.000 an der Wahl teil, in der Nordregion wählten von 59.000 zur Wahl Zugelassenen nur 44.000. Die hohe Stimmenthaltung ist wohl Ausdruck der Enttäuschung über die Politik an der Atlantikküste in den vergangenen Jahren. Das 1987 von den Sandinisten verabschiedete Autonomiegesetz, das für ganz Lateinamerika Vorbildcharakter besitzt, hat die Lage der Bevölkerung kaum verbessert. Die Autonomie, die den Bewohner*innen der Region neben kulturellen Rechten auch Mitsprache bei der Verwendung der Ressourcen einräumen soll, wurde praktisch nie in die Tat umgesetzt, da ein entsprechendes Durchführungsgesetz fehlt. Die Sandinist*innen hatten es damit nicht eilig, und die neue Regierung unter Violeta Chamorro betrachtet die Autonomiebestrebungen an der Atlantikküste seit jeher mit unverhohlener Ablehnung. Das neu gegründete INDERA-Institut erwies sich darüberhinaus durch seine mangelnde Dotierung eher als Hindernis für die Autonomieansprüche.

Die Gouverneure der beiden autonomen Regionen und die Abgeordneten für die beiden Regionalparlamente, die die indianischen Ethnien und die Schwarzen vertreten sollten, zeigten sich mehrheitlich als korrupt und schlicht unfähig, die Autonomieforderungen gegenüber der Zentralregierung zu vertreten. Die Politiker*innen in der Hauptstadt hingegen zeigten aus schlichter Ignoranz oder auch wohlkalkulierten wirtschaftlichen Interessen wenig Neigung, die Autonomie zu verwirklichen. Denn die Autonomie hätte die Verfügung der Zentralregierung über die Ressourcen der Atlantikküste eingeschränkt. Die Fischereiindustrie in Bluefields wurde beispielsweise zugunsten von Verwandten der Spitzenpolitiker*innen privatisiert, und auch bei der Ausbeutung der Wälder sicherten sich Spitzenfunktionäre üppige Pfründe. Die 1981 verstaatlichten Goldminen sollen US-amerikanischen Konzernen zurückgegeben werden. Die einzigen, die in der letzten Zeit ernsthaft an einem Entwurf für das Durchführungsgesetz gearbeitet haben und sich am glaubwürdigsten für die Autonomie eingesetzt haben, sind die Sandinist*innen. Das erklärt auch, warum die FSLN, die an der Atlantikküste viel Blutvergießen mitzuverantworten hat, verhältnismäßig gut abgeschnitten hat.

FSLN schnitt erstaunlich gut ab

Die FSLN hat sich im Wahlkampf, ebenso wie Fagoth, für eine sofortige Umsetzung der Autonomie eingesetzt. Ex-Präsident Daniel Ortega versuchte außerdem mit dem Versprechen, die Wehrpflicht aus der Verfassung zu tilgen, jede Erinnerung an die unglückliche Vergangenheit zu löschen. Anders als fast alle anderen Parteien verzichteten die Sandinist*innen auch auf jeden direkten Angriff gegen ihre Rival*innen und beschworen die Einheit der Costeños, der Küstenbewohner*innen.

Da keine Partei bei den Regionalwahlen eine absolute Mehrheit erreicht hat, zwingt das Wahlergebnis zu Koalitionen. Während die konservative Tageszeitung „La Prensa“ frohlockte, daß die „demokratischen Parteien“ insgesamt die Mehrheit hätten und gegen die FSLN Front machen sollten, werden die Sandinist*innen versuchen, innerhalb der Regionalparlamente Konsensentscheidungen zu fördern. Die Mehrheit an Stimmen und Abgeordneten von Alemán/Fagoth in der südlichen Region RAAS stützt sich vor allem auf somozistische Ex-Contras, die massenhaft im Gebiet von Tortuguero und Cruz de Rio Grande angesiedelt wurden. In der Südregion hat die Contra-Partei PRC – im Gegensatz zu RAAN – keine eigene Kandidatur eingereicht.

Auf die Stärke der Parteien im Rest des Landes lassen die Wahlergebnisse an der Atlantikküste keine seriösen Rückschlüsse zu. Internationale Wahlbeobachter (es waren rund 140 Vertreter*innen der Organisation Amerikanischer Staaten OAS und der UNO anwesend) und Funktionäre des Obersten Wahlrates sprachen von einem sauberen Urnengang, an dem auch die Wahlverlierer*innen keine Unregelmäßigkeiten finden konnten. „Ein Beispiel für die Welt“, meinte Carlos Dos Santos, der Chef der BeobachterInnendelegation.

KUBA

Ehemalige Schiffsflüchtlinge in den USA

– Von Marcos Castellon

(Der Autor ist ein Kubaner, der in den USA wohnt und als Journalist für das „Fortschrittliche Alternative Radio“ in Miami arbeitet)

(Miami, 29. März 1994, Prensa Latina-POONAL).- Das nordamerikanische Außenministerium bekundet, es fördere nicht die illegale Auswanderung aus Kuba und schreibt dieses Phänomen der politischen und wirtschaftlichen Situation auf der Insel zu. Aber Presseinformationen widersprechen dieser Einschätzung. So veröffentlichte der „Nuevo Herald“ aus Miami am 23. März eine Umfrage, in der 300 Kubaner*innen, die zwischen dem 15. Januar und dem 16. März 1994 an der Küste Floridas strandeten, befragt wurden.

Mehr als die Hälfte der Befragten sind zwischen 21 und 42 Jahre alt. Zwei Drittel der befragten Kubaner*innen haben Verwandte in den USA. 70 Prozent kamen im dritten Anlauf nach Florida. Eine etwa gleich große Anzahl wurde von den kubanischen Behörden überrascht oder erlitt Schiffbruch – offensichtlich aufgrund der benutzten Bootstypen. Sieben Prozent der Interviewten gaben an, in Kuba im Gefängnis gesessen zu haben. Von den 300 befragtem Personen hatten nur 29 vorher ein Visum für die USA beantragt. Die nordamerikanische Interessenvertretung in Havanna erteilte es nur in einem einzigen Fall. Die Mehrheit erklärte, kein Visum beantragt zu haben, weil eine Ablehnung erwartet wurde.

Tatsächlich erfüllt auch die Mehrheit der Befragten nicht die Anforderungen, um ein Besuchervisum zu erhalten. Im allgemeinen sind die Flüchtlinge junge Leute ohne feste Arbeit, die wenig Grund haben auf die Insel zurückzukehren. Die nordamerikanische Interessenvertretung erteilte in diesem Jahr weniger als einem Drittel der Antragsteller*innen ein Besuchervisum. So bleibt den Reisewilligigen nur die Alternative, über das Meer in die USA zu gelangen. Der große Vorteil bei diesem Reiseweg: Sie werden nicht zurückgewiesen.

Die Kubaner*innen, die – egal auf welchem Weg – auf US-Territorium gelangen, fallen unter das „kubanische Maßnahmengesetz“ von 1966. Dieses Gesetz gewährt ihnen eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis in den USA, ohne daß sie nachweisen müssen, auf Kuba zur Gruppe der politisch Verfolgten zu gehören. Kubaner*innen werden im Vergleich zu den Staatsangehörigen der restlichen Welt privilegiert behandelt. So wurden am selben Tag, an dem die Umfrage veröffentlicht wurde, 234 Haitianer*innen, die auf zwei verschiedenen Booten in die USA gelangen wollten, von nordamerikanischen Behörden nach Haiti zurückgeschickt.

Sonderbehandlung der Kubaner*innen währt nur wenige Wochen

Bei den Sportfestspielen Mittelamerikas und der Karibik im letzten Jahr in Puerto Rico, desertierten Mitglieder des kubanischen Teams. Sie taten es unter dem starken Druck von Exilgruppen, die ihnen Versprechen machten – im Gegenzug für die Beschädigung des Bildes der kubanischen Revolution, die sie ausbildete und zu Sportstars machte. Monate später geht nach Presseinformationen keiner seinem Sport nach. Einige konnten nach Miami reisen und andere blieben in Puerto Rico – meistens arbeitslos. Sie bieten ihre sportliche Erfahrung als Visitenkarte in Presseanzeigen an, in denen sie Arbeit als Ausbilder*innen und Lehrer*innen in Schulen und privaten Klubs suchen. Vielfach machen sie Arbeiten, die nichts mit ihrer Qualifikation zu tun haben.

Der Pilot eines Ende 1993 in die USA entführten kubanischen Touristenflugzeuges sagt heute, er habe keine Hoffnung mehr, seine Lizenz in den USA als kommerzieller Pilot zu erhalten. Er arbeitet als Aufseher auf Zuckerrohrfeldern weit vom Wohnort entfernt. Ein kubanischer Spezialist für Atemwegserkrankungen arbeitet als Nachwächter und studiert tagsüber. Seine Frau verdient als Näherin den Lebensunterhalt der Familie.

Alle sind mit großer propagandistischer Begleitung gekommen. Anfangs erhielten sie Spenden, Unterkunft und Unterstützung, solange sich ihre Reden gegen Kuba richteten. Doch als dann ihre Ankunft keine Aktualität mehr hatte, die man propagandistisch hätte verwerten können, wurden sie mit der Wirklichkeit konfrontiert.

Es gibt unzählige kubanische Schiffsflüchtlinge ohne Besitz, orientierungslos und wahrscheinlich auch reuig und enttäuscht. Viele farbige Kubaner*innen fühlen auch die Diskriminierung, die ihnen entgegenschlägt. Die große Illusion zerbricht, die sie in die USA brachte, vielleicht nachdem sie über einen Radiosender in Miami von den vielen Möglichkeiten gehört hatten, aufgenommen, geduldet und unterstützt zu werden.

CHILE

Im Land herrscht Ruhe, doch Präsident Frei steht vor schwierigien Problemen

– Von Patricia Quiroz

(Santiago de Chile, März 1994, Anchi-POONAL).- Am 11. März übernahm der 51jährige Unternehmer und Christdemokrat Eduardo Frei Ruiz-Tagle in Chile die Präsidentschaft. Bei der Wahl im Dezember 1993 gewann er 58 Prozent der Stimmen. Die Ziele von Frei Ruiz- Tagle sind im wesentlichen: Kontinuität des neoliberalen Wirtschaftsmodells, respektvolle Beziehungen zu den Streitkräften – insbesondere mit dem Armeechef General Augusto Pinochet – und die vom vergangenen Militärregime 1980 geschaffene institutionalisierte, formelle Demokratie zu achten.

Es muß in Rechnung gestellt werden, daß Frei der Kandidat für die Allianz „Konzertation für die Demokratie“ (CPD) war und genau wie Aylwin Mitglied in der christdemokratischen Partei ist. In der Tat ist es das erste Mal in 70 Jahren, daß es bei der Übergabe der Macht eine parteipolitische Kontinuität gibt.

Laut Eduardo Frei Ruiz-Tagle – Sohn des ehemaligen Präsidenten Eduardo Frei Montalva, der von 1964 bis 1970 regierte – bewirkt das neoliberale Modell makroökonomische Stabilität und Wachstum. Die gute Beziehung zum Militär gewährt Stabilität und inneren Frieden.

Staatschef kündigt Wahlrechtsänderung an

Trotzdem wird der neue Präsident mit einer Vielzahl von Problemen konfrontiert. So leben 42 Prozent der Bevölkerung in Armut und 17 Prozent sind absolut bedürftig. Präsident Frei will die Absetzung und Ernennung der Streitkräftechefs bestimmen, was ihm zur Zeit noch verfassungsmässig verweigert wird. Auch ist jetzt schon eine große Auseinandersetzung vorauszusehen, wenn er, wie angekündigt, Verfassungsreformen erreichen will, die dem sogenannten binominalen Wahlrecht ein Ende setzen. Das jetzige Wahlrecht läßt beispielsweise die Linke ohne parlamentarische Vertretung, obwohl sie fast 7 Prozent der Stimmen erhielt (mit der Linken sind hier die Parteien links von der Sozialistischen Partei gemeint, die inzwischen eher eine sozialdemokratische Linie verfolgt; die Red.).

Hinzu kommt ein Thema, das bereits Patricio Aylwin nicht wenig Kopfschmerzen bereitete und auch Frei Ruiz-Tagle beunruhigt: die wachsende Korruption im Regierungsapparat. Bürgermeister*innen, Räte, Direktor*innen, mittlere Funktionär*innen und andere waren in große Korruptions- und Betrugsskandale verwickelt. So kostete beispielsweise der „Fehler“ eines Angestellten der dritten Ebene in der staatlichen Kupfergesellschaft CODELCO (Kupfer ist der Hauptbodenschatz des Landes) den Staat fast 300 Millionen Dollar. Dieser Fall wird als das bedeutendste Beispiel für schlechtes Management auf Regierungsebene angesehen.

Bei den Menschenrechten eröffnet sich dem neuen Präsidenten ein anderes Problemfeld. Zum Zeitpunkt der Amtsübernahme Freis befanden sich 80 Gefangene im Hungerstreik, weil sie in ein Hochsicherheitsgefängnis überführt werden sollten. Sie werden beschuldigt, während der Amtszeit von Aylwin terroristische Akte verübt zu haben (bereits am 20. Februar 1994 wurden 48 politische Häftlinge und drei andere Gefangene mit brutaler Gewalt in das Hochsicherheitsgefängnis verlegt. Dabei verletzten Polizeikräfte zwei der politischen Gefangenen durch Schüsse in die Beine; die Red.).

Mehrheit fordert Verurteilung der angeklagten Offiziere

Es gibt auch die Forderung breiter Gesellschaftsschichten an den Präsidenten, die Offiziere und Truppen der Streitkräfte, die in Morde, Massenerschiessungen, Folter und Verschwindenlassen von mehr als 8.000 Chilen*innen verwickelt sind, zu verurteilen. Bis jetzt ist nicht ein einziges Mitglied der chilenischen Streitkräfte verurteilt worden – obwohl es bereits mehrere Prozesse gibt, in denen die Schuld der Militärs bei Menschenrechtsverletzungen festgestellt wurde. Auf jeden Fall scheint Eduardo Frei, die anstehenden Probleme langsam angehen zu wollen. Vor allem will er wohl die Stabilität „a la chilena“ garantieren.

Ein Faktor, der Einfluß auf die neue Regierung haben wird, ist die Notwendigkeit, sich ständig mit der politischen Rechten einig zu werden. Die regierende Allianz „Konzertation für die Demokratie“ erreichte weder die Mehrheit in der Abgeordnetenkammer noch im Senat. Es wurde bereits vereinbart, daß dem Senat die nächsten zwei Jahre ein Christdemokrat vorsitzt. Danach wird dieses Amt ein Vertreter der Rechten übernehmen. Die Allianz setzt sich unter anderem aus der Christdemokratischen Partei, der Sozialistischen Partei, und der Partei für die Demokratie zusammen. Dies gibt der Regierung Freis ein Mitte-Links-Profil. Chilenische Expert*innen ziehen es allerdings vor, die Regierung als nach rechts geneigt zu definieren. Die Mehrheit der wichtigsten Finanz- und Wirtschaftsgruppen unterstützten Eduardo Frei genauso wie die größten Gewerkschafts- und UnternehmerInnenorganisationen.

Doch werden auch die Forderungen der Mittellosen, der eine Millionen Obdachlose, der Menschen im Gesundheitswesen, der Kohlearbeiter*innen, der Lehrer*innen, der Jugendlichen ohne Zugang zur Bildung, der an den Rand gedrängten Indígenas in der Zukunft die Krisensituationen des Landes bestimmen. Krisenelemente sind auch die Verteuerung des Gesundheits- und Bildungswesens.

Wie dem auch sei: Eduardo Frei Ruiz-Tagle übernimmt ein ruhiges Land. Seine Amtszeit dauert sechs Jahre, bis zum Jahr 2000. Er hat nicht den Vorteil seines Vorgängers, der die Probleme während seiner Regierungszeit mit dem Hinweis rechtfertigte nur „Übergangsregierung“ nach der Diktatur zu sein. Frei steht vor der Herausforderung, den demokratischen Rahmen zu erweitern, beim Kampf gegen die soziale Ungleichheit voranzukommen, die Militärs in ihre Kasernen zu verweisen, substantielle Fortschritte bei den Menschenrechten zu erreichen und wirklich auf die Forderungen der Mehrheiten zu antworten. Die Geschichte seiner Präsidentschaft hat gerade erst angefangen. Sein Vater Frei Montalva übergab die Präsidentenfahne dem Sozialisten Salvador Allende. Der Sohn Frei Ruiz-Tagle wird diese Erfahrung nicht wiederholen wollen.

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