Deutsche Ausgabe des wöchentlichen Pressedienstes lateinamerikanischer Agenturen Nr. 173 vom 13.12.1994
Inhalt
MEXIKO
BRASIIEN
HAITI
LATEINAMERIKA
PERU
Die Schattenarmee
Ecuador: Unternehmer*innen gegen wachsenden Einfluß der
KOLUMBIEN
MEXIKO
Zwei Gouverneure in Chiapas – Angst vor dem Krieg
(Mexiko-Stadt, 8. Dezember 1994, POONAL).- Im mexikanischen Bundesstaat Chiapas gibt es seit Donnerstag zwei Gouverneure. Der offizielle, Eduardo Robledo Rincón von der herrschenden PRI, übernahm sein Amt in Anwesenheit des mexikanischen Präsidenten Ernesto Zedillo im Theater der Bundesstaatshauptstadt Tuxtla Gutiérrez. Der Oppositionskandidat Amado Avendaño Figueroa trat dagegen in einer feierlichen Zeremonie in der Tradition der Tzotzil-Indios vor mehreren tausend Anhängern auf dem zentralen Platz der Stadt an die Spitze der „rebellischen Volksregierung“. Diese soll in San Cristóbal ihren Sitz haben.
Die Gerüchte, daß in letzter Minute noch ein „Konsenskandidat“ aus dem Ärmel geschüttelt werden könnte, erfüllten sich nicht. Die chiapanekische Opposition hatte die Wahl von Robledo Rincón im August dieses Jahres von Anfang an als Betrug bezeichnet und nicht akzeptiert. Sie geht von ihrem Kandidaten Avendaño als eigentlichem Sieger aus. Der Gegengouverneur Avendaño erfüllt dabei keineswegs die Funktion des Papiertigers. Zwar kann die PRI auf den Staatsapparat einschließlich Armee und Polizei zählen, doch der zivile Ungehorsam in Chiapas greift immer mehr um sich. Die hinter Avendaño stehende „Demokratische Staatsversammlung des chiapanekischen Volkes“ (AEDPCH) erklärte 58 Gemeindebezirke einschließlich des Territoriums der Nationalen Zapatistischen Befreiungsarmee (EZLN) „zum friedlichen aufständischen Gebiet“. In diesen Regionen hatte es in den vergangenen Wochen Autonomieerklärungen der Indios gegeben.
Subcomandante Marcos kritisiert versuchte Geheimverhandlungen
Der gesamte Bundesstaat hat 111 Gemeindebezirke. In mehr als der Hälfte von ihnen ist damit eine Parallelverwaltung wahrscheinlich, auch wenn die tatsächliche Bedeutung von Bezirk zu Bezirk sehr unterschiedlich sein wird. Entgegen vieler Befürchtungen kam es am ersten Tag der beiden Amtseinführungen nicht zu gewaltsamen Zusammenstößen. Die AEDPCH zog nach mehrstündigen Debatten in der Nacht auf Mittwoch ihre ursprüngliche Absicht zurück, am 8. Dezember den Regierungspalast zu besetzen.
Die größte Angst besteht jedoch nach wie vor vor einer direkten Konfrontation zwischen der Bundesarmee und den Zapatisten. Am Dienstag verlas Rebellenführer Subcomandante Marcos vor weit mehr als hundert Mitgliedern der nationalen und internationalen Presse ein Kommuniqué an Ernesto Zedillo, das mit einem „Willkommen im Alptraum“ beginnt. Die Hauptaussage der Erklärung: „Wir glauben Ihnen nicht.“ Marcos kritisierte auch die Absicht Zedillos, über einen Abgesandten vor einigen Tagen Geheimverhandlungen mit der EZLN zu erreichen und lehnte Gespräche „hinter dem Rücken der Nation“ ab.
Belagerungsring in Chiapas wird zusehends enger gezogen
In einem weiteren Kommuniqué bewerteten die Zapatistas die zu diesem Zeitpunkt noch nicht sichere Amtseinführung Robledo Rincóns als „Bruch der Feuerpause“. Voreilige Journalisten machten daraus bereits einen erneuten Kriegsbeginn. Dies stellte die EZLN kurz darauf richtig. Dennoch sieht sie den Erklärungen zufolge einen Angriff der Bundesarmee als nahezu unvermeidlich an. Die offiziellen Reaktionen auf die Äußerung der EZLN hören sich gemäßigt an. PRI-Gouverneur Robledo Rincón sicherte in seiner Antrittsrede zu, sofort zurückzutreten, falls die Zapatisten die Waffen niederlegten. Zedillo betonte die Notwendigkeit einer politischen Lösung. Er habe der Armee befohlen, die Feuerpause strikt einzuhalten und nicht als erste mit Kriegshandlungen zu beginnen. Trotzdem spricht einiges für den Unglauben der Aufständischen gegenüber der Friedensbereitschaft der Regierung.
Die Militärpräsenz um das Rebellengebiet herum ist unübersehbar gestiegen, der Belagerungsring wird immer enger gezogen. Die Armee hat fast ein Jahr Zeit gehabt, sich auf einen Guerillakrieg vorzubereiten. Allem Anschein nach helfen inzwischen US- Aufklärungssatelliten und argentinische Militärexperten kräftig dabei mit. Wenig Gutes verheißt die Ernennung des neuen Verteidigungsministers General Enrique Cervantes Aguirre, der mit Zedillo zusammen am 1. Dezember seinen Posten antrat. Er hob sich durch seine Erfolge bei der Guerillabekämpfung im Bundesstaat Guerrero in den siebziger Jahren hervor. Unter dem berüchtigten chiapanekischen Gouverneur General Absalón Castellanos kommandierte Aguirre in den achtziger Jahren die 31. Militärzone in Chiapas. Im Vergleich zu seinem Vorgänger gilt er als Hardliner. Militärisch ist der Kampf der EZLN so gut wie aussichtslos. Ihr Faustpfand sind die politischen Kosten für die Regierung, wenn sie ein Blutbad befehlen würde.
BRASIIEN
Neuanfang – eine Standortbestimmung der PT und der brasilianischen
Linken
– Von Frei Betto
(Rio de Janiero, Oktober 1994, alai-POONAL).- Die Niederlage Lulas und das Wahlergebnis im Oktober 1994 regen zu einigen Reflexionen für die Zukunft an. Dieses Mal ist die emotionale Wirkung geringer als 1989. Trotz des Scheiterns ist der zweite Platz Lulas in der Wählergunst gegenüber Politikern wie Brizola und Quercia unangefochten. Das Wachstum der Parlamentsfraktion und im Senat und zum ersten Mal PT-Regierungen an der Spitze von brasilianischen Bundesstaaten lassen Lula und seiner Partei die Möglichkeit, im komplizierten brasilianischen Politikspiel eine gute Figur abzugeben.
Dabei ist zu beachten, daß der Wahlgewinner diesmal nicht ein korrupter Emporkömmling ist, sondern ein Intellektueller mit fortschrittlicher Vergangenheit. Seine Parlamentariertätigkeit stattete ihn allerdings mit einem Pragmatismus aus, der ihn zur Geisel der anachronistischten und ständestaatlichsten Haltungen in unserem Land machte. Es bleibt abzuwarten, ob Fernando Henrique Cardoso der Allianz mit der der PFL (Partido del Frente Liberal) und der PTB (Partido Trabahlista Brasileño) treu bleibt und damit die Hoffnungen derer enttäuscht, die in dem Plan Real Anzeichen eines Wechsels sahen oder ob er seine Wahlpaten verrät, indem er entschlossen die für das Land notwendigen Reformen voranbringt.
Die Linke muß lernen mit den Medien umzugehen
Für die heutige Situation der PT ist die Beziehung zu den Basisorganisationen entscheidend. In den 70er und 80er Jahren erhielten diese erhebliche Anregungen durch die katholische Kirche, besonders durch die kirchlichen Basisgemeinden (CEB). Heute befindet sich die katholische Kirche in einer Identitätskrise. Einerseits geht die Unterstützung der Bischöfe für die Volksgemeinden aufgrund des Drucks aus dem Vatikan zurück. Als Hinweis mag genügen, daß etwa 40 Diözesen in Brasilien auf einen neuen Bischof, der den Segen vom Vatikan hat, warten. Ehemals fortschrittliche Bischöfe neigen jetzt eher den rein geistigen Strömungen zu, die jetzt angeblich keinen politischen Inhalt mehr haben.
Die Volksbewegung und damit die PT können nicht mehr auf den früheren Schwung und Aktivismus der kirchlichen Basisgemeinden zählen. In Acre spielten sie bei der Wahl der Senatorin Marina Silva noch eine bestimmende Rolle, während andere traditionell von den CEB unterstützte Kandidat*innen verloren. Dagegen hatten Organisationen wie die Bewegung der 'Arbeiter*innen ohne Land' mehr Erfolg. Sie brachten 10 Abgeordnete ins Parlament, die einer Agrarreform verpflichtet sind. Die Linke versteht es immer noch nicht, mit den Kommunikationsmedien umzugehen. Sie tut so, als ob diese ein natürliches Instrument der bourgeoisen Unterdrückung wären. Indem die Medien Ideen und Vorschläge verbreiten, regen sie eine demokratische Debatte an. Das begünstigt nicht immer diejenigen, die noch nicht verstanden haben, daß die sozialistische Utopie neue Wege gehen muß, die durch Wörter wie Ethik, Bürgerrechte und Demokratie gekennzeichnet sind.
Nach dem Scheitern des Sozialismus in Osteuropa rückte die Basisarbeit in den Mittelpunkt
In der zweiten Hälfte der 80er Jahre kam die PT an die Spitze wichtiger Stadtverwaltungen wie in Sao Paulo, Santos, Vitória, Porto Alegre, Ipatinga, Diadema, Sao Bernardo do Campo oder Santo André. Volksführer*innen vertauschten die Favela mit dem Kabinettstisch. Diese Erfolge dürfen nicht unter den Tisch gekehrt werden, doch das verkündete PT-Vorhaben, die ArbeiterInnenklasse einschließlich der Volksbewegungen zu organisieren, wurde nicht erreicht. Manchmal hatten die PT-Regierungen Angst vor den Forderungen der Bewegungen. Auf der anderen Seite diskreditieren diese über die Medien die volksnahen Verwaltungen. In diesem Spiel blieben viele Initiativen auf der Strecke, ihre Füher*innen wurden als öffentliche Funktionär*innen in die Gremien gewählt und ihre Vorschläge auf dem Verwaltungsweg bürokratisiert.
Die Linke in Brasilien teilt sich heute in den organisierten Teil mit den Parteien der brasilianischen Volksfront und die Linke in der „Diaspora“. Letztere hat sich niemals wirklich für die Arbeit mit den Volksmassen interessiert. Ihr Ausgangspunkt ist nach wie vor die Auseinandersetzung mit dem akademischem Marxismus. Die Menschen, die unter den Brücken leben oder die bei Tagesanbruch auf Arbeitssuche gehen müssen stehen nicht im Mittelpunkt des Interesses. Die organisierte Linke wurde sich ab den 70er Jahren und nach dem Scheitern des bewaffneten Kampfes der Bedeutung der „Option für das Volk“ klar. Die Basisarbeit bekam Vorrang. Die PT ist eine Frucht dieses Treffens verschiedenster Bewegungen mit der organisierten Linken. Doch als die Parteikarrosse einmal angelaufen war, schien es auszureichen, den Sozialismus zu verteidigen.
Essen ist wichtiger als jegliche Utopie Doch dieser brach in Osteuropa zusammen. Die Politik erfordert Bündnisse und nichts weist darauf hin, daß der von der PT eingeschlagene institutionelle Weg zur Macht auch zum Sozialismus führt. So kam in der PT der Konflikt zwischen zwei Richtungen zum Ausdruck: Auf der einen Seite steht der von Lula und Olívio Dutra angeführte Pragmatismus, der für strukturelle Reformen eintritt, die für alle Brasilianer*innen ein besseres Brasilien garantieren sollen. Demgegenüber steht der Akademiker-Flügel, der die doktrinäre Reinheit einer Partei erhalten will, die nur dann in der brasilianischen Politik eine weiße Weste behielte, wenn sie nicht über den eigenen Tellerrand blicken würde.
Heute muß die Methodologie der „Volksarbeit“ genauso überdacht werden wie Form und Inhalt der politischen Sprache und die „mögliche Utopie“, wie es Tarso Genro ausgedrückt hat. Die Lage des brasilianischen Volkes hat sich in den letzten Jahren nicht entscheidend verändert. Wenn der Bauch voll ist, kann der Traum von einer besseren Welt geträumt werden. Aber mit leerem Bauch ist ein Teller mit Essen wichtiger als alle Utopien. Die Herausforderung an die Politik besteht darin, unmittelbar eine Antwort auf die wirtschaftlichen Forderungen zu finden und mittelfristig die gestreuten Hoffnungen zu erfüllen.
HAITI
Sparprogramm sofort, aber Wahlen werden auf die lange Bank
geschoben
(Port-au-Prince, 2. Dezember 1994, hib-POONAL).- Die ursprünglich für Dezember vorgesehenen allgemeinen Wahlen auf Haiti werden um mehrere Monate verschoben. Ein genaues Datum steht noch nicht fest. Das von den USA entworfene „strukturelle Anpassungsprogramm“ (SAP) soll dagegen Anfang des kommenden Jahres beginnen. Es sieht den Abbau von mehr als 20.000 Arbeitsplätzen in der Staatsverwaltung sowie die Privatisierung von Staatsunternehmen und die Abschaffung staatlicher Dienstleistungen vor. Diese Ankündigungen machten Premierminister Smarck Michel und die Finanzministerin Marie Michele Rey auf zwei Pressekonferenzen, auf denen sie in groben Zügen die Politik der nächsten 14 Monate vorzeichneten.
20 000 Arbeitsplätze sollen vernichtet werden
Premierminister Michel malte ein düsteres Bild von den Zuständen, die er und sein Kabinett – 18 Minister*innen und acht Staatssekretär*innen – vorfanden: Die Bürotische hätten kein Telefon gehabt, die staatlichen Fuhrparks keine Fahrzeuge. Der Staat schuldet tausenden Angestellten 14 Monatslöhne im Wert von ungefähr 7,3 Millionen Dollar. Das de facto-Regime blähte die öffentliche Verwaltung von 20.000 auf 43.000 Beschäftigte auf und häufte Staatschulden von mehr als 225 Millionen Dollar an. Michel erwähnte mit keinem Wort, daß die Verantwortlichen für die Ausplünderung des Staates verfolgt werden könnten.
Nach den Aussagen der Finanzministerin Rey gibt die Regierung der Bezahlung der (kurzfristigen) Schulden den Vorrang. Sie sollen zum Teil durch eine „Haushaltsunterstützung“ der Interamerikanischen Entwicklungsbank (BID) und anderer Geldgeber beglichen werden. Doch die angekündigte Hilfe von über 100 Millionen Dollar ist nur ein Kredit und wird somit die Staatsschulden weiter erhöhen. Auch die Verzugszinsen von 83 Millionen Dollar will das Land bald mit Hilfe von „Freunden“ bezahlen. Dies wird zusammen mit einer „Absichtserklärung“ des Internationalen Währungsfonds 230 Million Dollar eingefrorener Gelder für Projekte freimachen. Am 30. Januar wird die Regierung in Paris mit verschiedenen Finanzorganisationen einen modifizierten „Paris-Plan“ verabschieden, der ihr weitere 600 Millionen Dollar zur Verfügung stellt. Nach Michels Angaben betrugen die Staatseinnahmen Haitis im Oktober nur 4,42 Millionen Dollar.
Mit dem strukturellen Anpassungsprogramm trafen Michel und seine Regierung eine eindeutige Wahl. Michel plant, „Haiti mehr in die internationale Wirtschaft“ zu integrieren – was immer das heißen mag. Der Staat wird zudem die ohnehin mageren Dienstleistungen kürzen und sie dem privaten und Nicht-Regierungs-Sektor überlassen. „Wir haben einen Staat, der keine Dienste anbieten will… er will kontrollieren, überwachen“, so der Premierminister. Er sprach auch von der Notwendigkeit, Staatsbeschäftigte zu entlassen und Staatsvermögen zu verkaufen. Dabei vermied er, von „Privatisierung“ zu reden und gebrauchte den Ausdruck „Vermögensangleichung“. Das Wort „Gleichheit“ ist in Mode. In der Regierungsinterpretation bedeutet es, daß „alle Menschen die gleiche Chance bekommen… das heißt, wir werden die Subventionen abschaffen“, denn: „Wenn ein Produkt subventioniert wird, profitieren nur einige wenige Leute davon.“ Zur Zeit sind einheimische Produkte wie Getreide und Reis teilweise vor ausländischem Wettbewerb (insbesondere dem aus den USA) geschützt.
Die ohnehin mageren staatliche Dienstleistungen sollen weiter gekürzt werden
Die Regierung drängt auf Anleihen, aber nicht auf die so nötigen Wahlen. Im Gegensatz zum Präsidenten Aristide, der die Wahlen für Dezember oder Januar gewünscht hatte, kündigte Michel die Verschiebung um Monate an. Sie seien „technisch nicht möglich“, bevor nicht der Wahlrat mindestens 14 bis 22 Wochen bestehe. Die Amtszeit von mehr als 2.000 Abgeordneten im Parlament und auf kommunaler Ebene endete am 1. Dezember, wurde jedoch bis Anfang Februar verlängert. Danach will Michel das Land „mit Dekreten“ regieren. Das von den USA initiierte 24-Millionen-Dollar „Wahlprogramm“ kann die Öffentlichkeit mindestens drei Monate lang beeinflussen. Diese Aussichten sind für die Demokrat*innen auf Haiti ein Anlaß zur Sorge.
US-Delegation: Menschenrechtsverbrechen bleiben ungesühnt
(Port-au-Prince, 2. Dezember 1994, hib-POONAL).- Nach einem fünftägigen Besuch hat sich eine US-Delegation unter Führung des früheren Justizminister Ramsey Clark aufgebracht über die Zustände auf Haiti gezeigt. Sie beklagte heftig das Versagen der Regierung, die Putschverbrecher zu verfolgen und kritisierte das parteiische und zum Teil rechtsverletzende Verhalten der US-Besatzungstruppen. Die Delegation rief die Bevölkerung auf, „jetzt zu handeln.“ Clark forderte die Regierung von Präsident Jean-Bertrand Aristide auf, „Anzeigen aufzunehmen, zu untersuchen, zu verfolgen und zu verurteilen“. Würde dies nicht geschehen, dann müßten „die Volksorganisationen eigene Gerichte schaffen.“ Er verurteilte die US-Invasion und bezeichnete es als „tragische Illusion, zu glauben, das Hilfe von den USA kommt“.
Die Anwälting Debra Jackson von der Amerikanischen JuristInnenvereinigung fühlte sich „wie vor den Kopf geschlagen, weil die Behörden jede Untersuchung unterlassen“. Tausende Morde, Vergewaltigungen, illegale Verhaftungen und Mißhandlungen müßten aufgeklärt werden. Viele der Menschen in der Hauptstadt, in Cap- Haitien, Grand-Goave und Petit-Goave hätten vom „einseitigen“ Verhalten der US-Truppen zugunsten der Militärs und der paramilitärischen Gruppen berichtet.
Protest gegen Giftmüll
(Port-au-Prince, 2. Dezember 1994, hib-POONAL).- Drei haitianische Gruppen forderten zusammen mit Greenpeace und dem Bostoner „Haiti Kommunikationsprojekt“ die US-Besatzungstruppen auf, mehr als 1.000 Tonnen giftiger Asche von einem Strand in Gonaives zu entfernen. Die Asche stammt von der Verbrennungsanlage der Stadt Philadelphia. Sie wurde 1987 vor Haiti ins Meer gekippt, nachdem das Regime von General Henri Namphi den Import von „Düngemitteln“ akzeptiert hatte. Das Schiff lud bis zu 4.000 Tonnen ab, bevor Aktivist*innen es zum Abdrehen brachten. Die Asche blieb am Strand. Dort ist heute ein verseuchter Müllplatz, wo nach Aussagen der Bewohner*innen von Gonaives Tiere sterben. (Die Bootsbetreiber wurden 1993 wegen Meineid verurteilt, nachdem US-Ermittlungsbeamte herausfanden, daß die verbleibenden etwa 10.000 Tonnen in den Indischen Ozean gekippt wurden.)
LATEINAMERIKA
Geordneter Rückzug: Streitkräfte dulden zivile Regierungen,
bleiben aber an der Macht (Teil III)
Wir beenden in dieser Ausgabe die dreiteilige Serie über die Lage der Streitkräfte in Lateinamerika mit einer Analyse der südamerikanischen Militärs. Im ersten Teil stand die Frage im Vordergrund, wie sich Veränderungen im globalen Kräfteverhältnis und in der US-Strategie auf die Rolle der lateinamerikanischen Streitkräfte ausgewirkt haben. Im zweiten Teil galt unser Augenmerk Mittelamerika: Welche Veränderungen haben sich dort ergeben? In diesem Heft werfen wir einen Blick auf die wichtigsten Länder der Anden und des Cono Sur. Als Fazit bleibt festzuhalten: Zwar haben die Militärs in den meisten Ländern Platz für zivile Regierungen gemacht, doch die Macht haben sie nicht abgegeben. Gegen ihren Willen können die neuen „demokratischen“ Regierungen wenig ausrichten.
PERU
Von der Drogenbekämpfung zum Rauschgiftterrorismus
(Lima, November 1994, noticias aliadas-POONAL).- Mit der Wahl des Republikaners Ronald Reagan ins Präsidentenamt der USA (1980) wurde die Bekämpfung des Drogenhandels zu einem Vorwand, damit die US-Streitkräfte ihre unter der Regierung von Jimmy Carter verlorenen Kontakte zu ihren lateinamerikanischen Kollegen wieder aufnehmen konnten. Die Einbeziehung der lateinamerikanischen Militärs in die Bekämpfung des Drogenhandels erlaubte den USA angesichts der Angst vor einem Vormarsch des sandinistischen Sozialismus Nicaraguas und vor einem möglichen Sieg der Guerilla in El Salvador eine größere militärische Einflußnahme in der Region. Was die Strategen des Pentagon nicht vorhersahen, war die Korruption der Militärs. Der chilenische Politologe Raúl Sohr schrieb 1992: „Die USA wollen nicht wahrhaben, daß die Militärs genauso korruptionsanfällig sind wie die zivilen Autoritäten. Die größte Gefahr dabei: Wenn die Korruption des Drogenhandels die Streitkräfte durchdringt, dann ist eine permanente Institution des Landes davon betroffen. Der Versuch, sie abzurüsten, wird wahrscheinlich in einem Staatsstreich enden.“
Die jüngste Gefangennahme der mächtigen peruanischen Drogenbosse Demetrio Chavez Peñherrera (genannt der „Vatikan“) und Lucio Tijero Guzman enthüllte die Verwicklung hoher Offiziere in das Geschäft. In einem der beschlagnahmten Notizbücher tauchen die Namen eines nordamerikanischen DEA-Agenten, eines peruanischen Oberst und eines Richters auf. In einem Interview gegenüber der Tageszeitung „La Republica“ versicherte der ehemalige Chef des politisch-militärischen Kommandos des Huallaga-Tals (eines der wichtigsten Drogenanbaugebiete in Peru; die Red.), Oberst Evaristo Castillo: „Dies sind keine isolierten Fälle, sondern es handelt sich um ein ganzes System.“ Castillo wurde in den Ruhestand versetzt, nachdem er die Verbindung von Offizieren mit dem Drogenhandel offengelegt hatte.
Peru, Bolivien: Die Militärs machen glänzende Geschäfte mit den Drogenbossen
Fünf Jahre dauerte es bis zur Verhaftung des ehemaligen bolivianischen Diktators General Luis García Meza, bevor er im vergangenen März endlich in Brasilien entdeckt wurde. Er wird nicht nur wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen angeklagt, sondern auch, weil seine Regierung sich als erste mit dem Drogenhandel arrangierte. Die gesamte Zeit, die er flüchtig war, erhielt García Meza Unterstützung von bolivianischen Offizieren. Einer seiner engsten Mitarbeiter, der General Luis Arce Borja verbüßt in den USA eine Haftstrafe wegen Drogenhandels. Ein weiterer Militär, der Oberst Faustino Rico Toro, zuvor Mitglied in der Militärjunta, wurde vom damaligen bolivianischen Präsidenten Jaime Paz Zamora zum Chef der Spezialeinheit im Kampf gegen den Drogenhandel (FELCN) ernannt. Rico Toro mußte jedoch auf Druck der US-Botschaft und der Öffentlichkeit zurücktreten. Zur Zeit befindet sich der Oberst in Isolationshaft. Seine Ausweisung in die USA scheint kurz bevorzustehen.
Die Offenlegung der Beziehungen zwischen der Regierung von Paz Zamora mit Schlüsselfiguren des bolivianischen Drogenhandels produzierte im März 1994 einen Skandal größeren Ausmaßes. Weihnachten 1993 ging der Drogenhändler Carmelo Domínguez der Polizei ins Netz. Einen Monat später wurde sein Teilhaber Isaac Chavarría festgenommen. Letzterer war zuvor Hauptmann in der bolivianischen Armee und machte Finanzgeschäfte mit Leuten aus Zamoras Umgebung. Einer der wichtigsten Beweise über die Beziehungen mit der Regierung ist ein Brief an den Regierungschef. Darin schlägt Chavarría bestimmte Militärs für hohe Posten in den Streitkräften vor. Vier Monate später beförderte Paz Zamora die von dem Drogenhändler zu seinem Schutz vorgeschlagenen Personen in die Schlüsselpositionen. Das US-Außenministerium selber räumt ein, daß die niedrigen Löhne derer, die den Drogenhandel bekämpfen sollen, Grund für die Korruption sei.
Die Expertin María Flóres-Estrada meint: „Wenn die USA den wirklichen Willen zur Drogenbekämpfung hätte, könnten sie ohne große Schwierigkeiten strenge Kontrollen über die chemischen Stoffe ausüben, die zur Drogenherstellung benutzt werden; über die Banken, die die Narco-Dollars reinwaschen; über die Küsten und Grenzen, damit die Drogen nicht ins Land kommen.“ Doch die USA haben ihren Krieg auf das erste und schwächste Glied der Kette konzentriert: die Campesinos, denen der Anbau der Koka-Pflanze zumindest die Existenz sichert. Doch beim Kampf gegen die Kokaproduktion stützen sich die USA ausgerechnet auf jene Politiker, Polizisten und Offiziere, die selbst tief in den Handel verstrickt sind und sich daran bereichern.
Cono Sur: Die Militärs leisten Widerstand gegen die Beschneidung ihrer Macht
Die Teile der Streitkräfte, die sich der aufgezwungenen neoliberalen Politik widersetzen, haben einen „nationalistischen“ Diskurs eingeschlagen. Dies hat Auswirkungen auf die Koordinierung des Gemeinsamen Marktes des Südens (Mercosur). Lohnstreiks in Argentinien, destabilisierende Attentate in Uruguay, Parallelarmeen in Paraguay und institutioneller Druck in Brasilien kennzeichnen im Cono Sur die tiefen Widersprüche zwischen den Regierungen und den Streitkräften über die Neustrukturierung der Armeen. Diese Politik ist ein von der US-Regierung und dem Pentagon verfolgtes strategisches Ziel mit doppelter Absicht: die neoliberale Wirtschaftspolitik macht vor den Kasernen nicht halt, die Verteidigungshaushalte werden reduziert; gleichzeitig wird die Eingliederung der jeweiligen Militärapparate in eine supranationale Kraft angestrebt. Die US-Strategie geht von dem Axiom aus, daß die Reduzierung der Truppenstärke und die Unterordnung unter ein multinationales Oberkommandos die demokratischen Entwicklungen stärkt und die Versuchung der Militärs eindämmt, allzu vehement in das politische Geschehen in den lateinamerikanischen Staaten einzugreifen.
Der General Barry R. McCaffrey, Chef des Südkommandos der USA mit Sitz in Pananma, informierte im März 1994 das Verteidigungskomitee des US-Senats über etwa 2.900 gemeinsame Operationen innerhalb eines Jahres, an denen mehr als 60.000 US-Soldaten teilgenommen hätten. Dies habe erlaubt, in Lateinamerika an „einer fundierten Entwicklung von angemessen strukturierten und ausgebildeten Streitkräften“ teilzunehmen, „die die Sicherheitsbedürfnisse in ihren Ländern garantieren“. Diese Aktionen schlossen die Simulierung eines Krieges niedriger Intensität in Ecuador, El Salvador und Venezuela ein. Zivile Aktionsprogramme in Belize, Kolumbien, Honduras, Guatemala, Panama und Uruguay betonten in der Sichtweise des Generals „die Unterstützung einer angemessenen Rolle der Streitkräfte in demokratischen Ländern, die Förderung des Friedens und der Stabilität und die Unterstützung von Antidrogen-Operationen“.
Aus lateinamerikanischer Perspektive gesehen, ist die Bilanz weniger vielversprechend. In ihrer Macht und Vorreiterrolle bedroht, sind die Streitkräfte in den lateinamerikanischen Demokratien tief gespalten. Die Schwächung der Hierachie und des Gehorsams gegenüber dem Oberkommando gefährden die Stabilität, die das Projekt als Ziel vorgibt. Im Cono Sur hat die Strategie, die Armeen in einfache „nationale Wächter“ zu verwandeln, einen permanenten Unruhezustand geschaffen. In Argentinien veranlaßte die Weigerung des Präsidenten Carlos Menem und in erster Linie seines orthodoxen neoliberalen Wirtschaftsministers Domingo Cavallo, das Militärbudget von 1.730 Millionen US-Dollar um 850 Millionen zu erhöhen, die unteren Ränge der drei Waffengattungen beinahe zum Streik.
Die brasilianischen Streitkräfte kontrollieren die „strategischenIndustrien“
In Brasilien, wo die Streitkräfte einen Großteil der sogenannten „strategischen Industrien“ kontrollieren, mußte die Zivilregierung ihr Privatisierungsprogramm für staatliche Unternehmen dosieren und mit etwa zehn Gruppierungen verhandeln, die alle Militärangelegenheiten berücksichtigen. In Paraguay leistet das vom General Lino Oviedo geführte Militär einen hartnäckigen Widerstand gegen die Bemühungen des Präsidenten Carlos Wasmosy, das neoliberale Rezept auf die Streitkräfte anzuwenden. Die Armee scheint sich dort sowohl im wirtschaftlichen wie im politischen Bereich zu stärken: Sie wird zunehmend im Finanzbereich aktiv und gründete kürzlich zwei Banken. Für ihre eigene Institution, obwohl bewaffnet, rekrutiert sie Zivilisten aus den Reihen der alten Strössner-Anhänger innerhalb der Colorado-Partei. In Uruguay wurden durch die Neustrukturierung zwölf Kavallerie-Einheiten abgeschafft. Die Auswahl der Soldaten für Friedensoperationen der UNO erfolgte willkürlich (sie erscheinen als der Versuch, kleine und technisch hochgerüstete Einheiten einzusetzen). Dieses Vorgehen reaktivierte geheime paramilitärische Gruppen, die für bewaffnete Propagandaaktionen verantwortlich sind, mit denen Druck ausgeübt und das Land destabilisiert wird.
Die Neustrukturierung weist ein Dilemma auf: ganz allgemein sind sich alle Flügel der Militärs darin einig, daß die Streitkräfte sich in die inneren Angelegenheiten einmischen müssen. Sie müßten die sozialen Konflikte, die aus der erwähnten (neoliberalen; die Red.) Politik entstehen, notfalls militärisch niederzuhalten. Sie weigern sich jedoch, ihre Vorreiterrolle und das besondere Gewicht zu verlieren, daß sie heute in der Gesellschaft haben. Die Versuche der Zivilregierungen, die gigantischen und kostspieligen Militärapparate abzuspecken und auf die Rolle „nationaler Wächter“ zu stutzen, kündigt neue Konflikte an.
Sind die Streitkräfte ein willfähriges Instrument Fujimoris – oder umgekehrt?
Als der peruanische Präsident Alberto Fujimori 1990 die Macht übernahm, besaß er keine solide politische Basis. Jetzt sagen seine Kritiker*innen angesichts der Militärpräsenz in seiner Regierung, seine „Partei“ seien nun die Streitkräfte. Er benutze sie, um sich seinen Sieg bei den nächsten Präsidentschaftswahlen zu sichern. In der Tat wird die Rolle der peruanischen Militärs ein entscheidender Faktor in der Wahlkampagne von Fujimori sein.
Im Laufe seiner Amtszeit pflegte Fujimori Beziehungen zur Militärspitze, die beiden Seiten zum Nutzen gereichten. Kurz nach der Amtsübernahme ließ Fujimori den Kongreß eine Gesetzgebung verabschieden, der ihm als Regierungschef erlaubt, die hohen Militärs zu ernennen und abzusetzen. Dies soll eine Form sein, sich die Treue dieser Institution zu sichern. Die Militärs haben dem Präsidenten mit ihrem Verhalten beim präsidentiellen „autogolpe“ im April 1992 und mit dem Niederschlagen des versuchten Gegenputsches einiger unterer Militärs im November desselben Jahres ihre Treue demonstriert. Für die Oppositionsparteien ist es klar, daß Fujimori die Streitkräfte benutzt, um seine Wiederwahl voranzubringen. Ihnen dient ein Foto als Beweis, daß den General Howard Rodríguez, den Kommandenten der Ersten Militärregion, dabei zeigt, Kalender mit Fujimoris Bild zu verteilen.
Der abgesetzte General Jaime Salinas, der wegen der Teilnahme am Putschversuch gegen den Präsidenten eine achtjährige Haftstrafe verbüßt, klagt die Streitkräfte an, „ein schlechtes Beispiel“ zu geben, „da sie nicht als Schutzinstitution für das Vaterland, sondern als Stütze des Fujimori-Regimes dienen“. Verschiedene politische Beobachter*innen glauben, die Militärs werden eine Niederlage Fujimoris bei den kommenden Wahlen nicht zulassen. Andere allerdings bezweifeln, daß die Streitkräfte derart geschlossen hinter dem Präsidenten stehen. Der Militärexperte Enrique Obando argumentierte kürzlich in „La Republica“: „Wenn auch die derzeitige Spitze (der Streitkräfte, d. Red.) Fujimori unterstützt und auf ihn setzt, so gilt das nicht für alle Generäle. Ich haben den Verdacht, die Generäle werden nicht alle Eier in denselben Korb legen. Javier Pérez de Cuéllar (bisher aussichtsreichster Oppositionskandidat) kann auf die – natürlich nicht offene – Unterstützung einer Gruppe Generäle zählen, die selber auf den Posten des Generalkommandanten spekulieren.“
Die Schattenarmee
Von Francisco Molina (Noticias de Guatemala)
Viele Anklagen richten sich gegen die Militärs, die ihr Diplom an der Militärakademie „Escuela de las Americas“ in dem US- Bundesstaat Georgia bekommen haben. Dabei geht es um das in den geheimen Kerkern vergossene Blut, die Trauer zahlreicher Familien ermordeter Journalist*innen und die geheimen Friedhöfe, auf denen tausende Personen verscharrt wurden. Die Menschenrechtsorganisation „Steuern für den Frieden“ glaubt: Wenn es eine Untersuchung über die Wirkungen der „Escuela de las Americas“ geben würde, dann bestünde die „Gefahr“, die Todeslisten zu finden, die von Militärs, Politikern und Geheimdienstlern aus den USA und Lateinamerika ausgearbeitet wurden. Diese Personen bilden zusammen ein dichtes Netz mit etwa einer Million indirekt Beteiligten auf dem Kontinent. Diese „Schattenarmee“ hat eine neue Machtstruktur hervorgebracht, die sich am lukrativen Drogen- und dem Waffenhandel bereichert. Die Menschenrechtsorganisation schätzt, daß im Laufe der Zeit mehr als eine halbe Million Menschen in die Hände dieser Diplomierten aus Georgia gefallen sind, die die Doktrin der Nationalen Sicherheit verteidigen. Diese wird jetzt nur unter dem Deckmantel der „kontrollierten Demokratie“ versteckt.
Ecuador: Unternehmer*innen gegen wachsenden Einfluß der
Streitkräfte in der Wirtschaft
In Quito wandte sich die Tourismusbranche gegen den Baubeginn eines Fünf-Sterne-Hotels, an dem die Streitkräfte und die Gruppe „Marriot International“ beteiligt sind. Sprecher*innen der Branche kritisierten die „fehlende Logik“ der Initiative. Innerhalb des Modernisierungsprozesses des Staates müßten sich die Streitkräfte von ihren Unternehmen trennen anstatt mit dem Bau eines Luxushotels zu beginnen. Darauf antwortete Verteidigungsminister José Gallardo, ein General im Ruhestand, die wachsende Wirtschaftsmacht der Militärs würde die Staatsausgaben entlasten und den Bestand einer „abschreckenden Sicherheitskraft“ garantieren. Nach unabhängigen Untersuchungen hat der Tourisimuskomplex der Armee ein Volumen von fast 100 Millionen US-Dollar.
Die seit August 1992 amtierende Regierung von Präsident Sixto Duran-Ballén verfolgt eine Modernisierungsstrategie für den Staat, die die Privatisierung von knapp 160 Unternehmen vorsieht. Die Streitkräfte verfügen über ein Konsortium von 22 Unternehmen. Dabei besitzen sie in zwei Fällen 100 Prozent der Aktien und haben in zehn weiteren Fällen die Aktienmehrheit. Die Militärs versichern, mit dem Wirtschaftsprojekt der Regierung einverstanden zu sein und reden davon, ihre Unternehmen seien gegenüber nationalem und internationalem Privatkapital offen. Gleichzeitig jedoch wollen sie ihre Expansionslinie weiterverfolgen und planen die Gründung sechs weiterer Unternehmen.
KOLUMBIEN
Verteidigungsminister will neue paramilitärische Gruppen gründen
(Bogotá, 6. Dezember 1994, AC-POONAL).- Neun Tage nach der Ankündigung von Präsident Samper, die Verhandlungen mit der Guerillakoordination eventuell wieder aufzunehmen, hat der Verteidigungsminister Fernando Botero Zea die Schaffung von neuen paramilitärischen Verbänden, sogenannten „Sicherheitskooperativen“, angekündigt.
Zum Abschluß des Nationalen Kongresses der Viehzüchter*innen und Großgrundbesitzer*innen versprach Botero am 25. November, daß sie mit legalen Mechanismen zur Bekämpfung der Guerilla werden rechnen können. Die „Sicherheitskooperativen“ würden unter der Kontrolle der Aufsichtskommission für Sicherheit und Überwachung stehen, ihr dürften nur Personen angehören, die nicht vorbestraft sind. Die Mitglieder sollen gegebenenfalls mit automatischen Waffen ausgerüstet werden. Die gesetzliche Grundlage wurde schon früher geschaffen: Die ländlichen paramilitärischen Verbände sind am 11. Februar dieses Jahres per Gesetz legalisiert worden.
Der Vorstoß des Verteidigungsministers löste selbst in der Regierung einige Irritationen aus. Sowohl Innenminister Horacio Serpa Uribe wie auch der Hohe Friedensabgeordnete Carlos Holmes Trujillo zeigten sich sichtlich ungehalten über den Vorschlag. Beobachter*innen sehen zwei gegensätzlichen Strömungen in der Regierung: die Hardliner um Botero, die Verhandlungen mit der Guerilla kategorisch ausschließen, und auf Versöhnung setzende Politiker*innen wie Innenminster Serpa.
Vorstoß des Verteidigungsminister löst Irritationen in der Regierung aus
Der Verteidigungsminister bemühte sich anschließend um Schadensbegrenzuing: „Es handelt sich um private Sicherheitsunternehmen unter der Aufsicht des Staates.“ Sie dürften nicht mit privaten Milizen, Selbstverteidigungs- oder paramilitärischen Banden verwechselt werden, die „von der Regierung als Feinde betrachtet werden“. Genau dieser Verwechselung scheint aber gerade auch sein Kabinettskollege Serpa erlegen zu sein. Zudem vermögen viele die vom Verteidigungsminister ausgerufene Feindschaft zu den paramilitärischen Verbänden kaum erkennen. Zumindest werden die bekannten Führer der Milizen bis heute kaum von den Ermittlungsbehörden behelligt. Mehr noch, erst unlängst brüsteten sich die Paramilitärs bei einer Versammlung, sie seien unter dem Schutz der Armee entstanden. Und mit ungebrochenem Selbstbewußtsein forderten sie, an etwaigen Friedensgesprächen beteiligt zu werden.
Noch befremdlicher erscheint vielen das Verhalten von Ernesto Samper. Er dementierte heftig, es gebe Meinungsverschiedenheiten über die Friedensgespräche. Samper unterstützte den Vorschlag des Verteidigungsministers, kündigte aber eine eingehende Prüfung an. „Wir werden die Wachsamkeit zur Verteidigung der verfassungsmäßigen Rechte der Kolumbianer*innen nicht vermindern, auch wenn wir einen Ausweg aus dem bewaffneten Konflikt mit der Guerilla suchen“, meinte Samper. Bei anderer Gelegenheit unterstrich er diese Aussage: „Wir werden mehr Polizisten und Soldaten für den internen Konflikt ausbilden und mehr in Helikopter investieren, welche uns erlauben, in die entlegensten Winkel des kolumbianischen Urwaldes vorzudringen.“
Großgrundbesitzer*innen und Viehzüchter*innen sind begeistert von den angekündigten neuen Privatverbänden
Manuel Arias Carrizosa, ehemaliger Innenminister in der Regierung Barco (1986-90) und bis vor kurzem Direktor der Vereinigung der Bananenunternehmer*innen, lobte „das Interesse der Regierung, unseren Schrei nach Sicherheit aufzunehmen“. Dem Präsidenten der Vereinigung der Großgrundbesitzer*innen Kolumbiens (SAC), Cesar de Hart Vegoechea, dünkte der Vorschlag eine „realistische Lösung. Mann kann nicht weiterhin die Landbesitzer*innen und Viehzüchter*innen völlig schutzlos der Gewalt ausgeliefert lassen.“ Auch den Einwand, die neuen Verbände könnten nur eine Kopie der berüchtigten paramilitärischen Banden sein, bereitete dem Großgrundbesitzer verständlicherweise keine Kopfschmerzen: “ Dies besorgt mich nicht, denn wir können nicht zulassen, daß dies als Entschuldigung dient, um die Leute auf dem Land völlig schutzlos zu lassen.“
Kritisch äußerte sich dagegen der Staatwsanwalt Orlando Vasquez Velasquez: „Die Geschichte hat gezeigt, daß diese Art von Privatorganisationen, die den Behörden eine tatsächliche Unterstützung zur Verbrechensbekämfung geben sollten, dieses Resultat nicht erbracht haben.“ Der Bischof von Apartadó in der Konfliktregion Urabá, Monseñor Isaías Duarte, meinte in einem Radiointerview: „Jedwede paramilitärische Organisation auf dem Land ist schwer kontrollierbar durch den Staat. So wie in Überwachung, in Waffen und in militärische Kontrolle investiert wird, so müßte man in soziale Entwicklung investieren. Der Weg zum Frieden sind nicht die Waffen.“
Der neue Vorschlag jedenfalls hat den Willen des Staatspräsidenten Samper, eine politische Lösung des Bürgerkriegs zu suchen, erheblich in Frage gestellt. Viele fürchten, die Institutionalisierung neuer paramilitärischer Verbände könnte das Vorspiel zu einer neuen militärischen Offensive sein. Zumindest scheint durchaus nicht gesichert, ob Samper den Krieg gegen die Guerilla nicht doch für gewinnbar hält. Zudem sind vor allem Menschenrechtler*innen über die Aufwertung der paramilitärischen Verbände besorgt. Eine Verfolgung und Bestrafung der berüchtigten Einheiten, die für die Ermordung von tausenden von Bauern und Indígenas verantwortlich sind, ist mit dem Vorstoß jedenfalls in noch weitere Ferne gerückt. Noch zwielichtiger erscheint die Ankündigung der Aufstellung neuer privater Einheiten zum „Schutz“ von Viehzüchter*innen und Großgrundbesitzer*innen, wenn man bedenkt, daß die Regierung zur gleichen Zeit nicht müde wird, die Entwaffnung der Zivilbevölkerung zu propagieren. Wessen Schutz und wessen Interessen fühlt sich diese Regierung verpflichtet? Allein dem der Agraroligarchie?
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