Poonal Nr. 141

Deutsche Ausgabe des wöchentlichen Pressedienstes lateinamerikanischer Agenturen Nr. 141 vom 02.05.1994

Inhalt


NICARAGUA

PANAMA

HAITI

GUATEMALA


NICARAGUA

Widerstand gegen den Anpassungsplan

– Interview mit José Adán Rivera von der „Vereinigung der Landarbeiter*innen“ (ATC) über die Wirtschaftspolitik von Präsidentin Chamorro

(Managua, 25. März 1994, Alai-POONAL).- Am 25. April beendete die Präsidentin Violeta Barrios de Chamorro ihr viertes Regierungsjahr. José Adán Rivera von der „Vereinigung der Landarbeiter*innen“ (ATC) zieht in einem Gespräch mit ALAI eine Bi- lanz der vierjährigen Amtszeit der konservativen Staatschefin.

Rivera: Nicaragua befindet sich wie ganz Mittelamerika in einem Entmilitarisierungs- und Befriedungsprozeß. Es schafft Bedingungen, um ein demokratisches Regierungssystem zu etablieren. Dabei ist es ziemlich vorangekommen. Aber das zentrale Problem ist, daß ein brutaler struktureller Anpassungsplan angewendet wird, der eine wirtschaftliche Rezession verursacht hat.

70 Prozent der Bevölkerung sind arbeitslos

Die Wirtschaftslage ist schrecklich. Die Unternehmen haben kein Geld. Sowohl die kleinen als auch die mittleren Produzenten in der Stadt und aufdem Land haben keine Finanzmittel. Das hat die Ar- beitslosigkeit verschärft, die bei etwa 70 Prozent liegt. Es gibt einen Privatisierungsprozeß, in dessen Verlauf die Ressourcen des Landes den transnationalen Unternehmen angeboten wurden. Und Nicaragua ist eine Art Müllplatz geworden: Die Hauptstadt ist voll von schrottreifen Autos, alten Reifen, gebrauchter Kleidung und überflüssig gewordenen Maschinen aus den USA, Kanada und anderen Orten. Die Arbeitslosigkeit hat zur Folge, daß viele Arbeiter*innen nach Costa Rica gehen, viele Facharbeiter und Intellektuelle in die USA. In den letzten zwei Jahren sind sogar mehr qualifizierte Leute weggegangen als in der Regierungsperiode davor.

Frage: Du sagst, die Demokratisierung sei vorangekommen. Aber man viele sagen, Nicaragua sei unregierbar geworden.

Rivera: Gut, politisch gesehen ist die derzeitige Regierung eine schwache Regierung. Die politische Koalition, die sie an die Macht brachte, die UNO, spaltete sich und existiert praktisch nicht mehr. Der Flügel, der die Regierung unterstützt, eine Gruppe des Zentrums, die bei moderaten Einstellungen geblieben ist, ist sich in der Nationalversammlung mit den Sandinisten einig geworden. So wird eine Mehrheit gebildet und dies gibt der Regierung ein Minimum an Stabilität.

„Das wichtigste ist die Wiedereingliederung der ehemaligen Soldaten und Contra-Rebellen“

Aber das wichtigste ist, daß es einen Wiedereingliederungsprozeß aller gibt, die direkt am militärischen Konflikt beteiligt waren. Die Streitkräfte mit ihren ehemals etwa 80.000 Mitgliedern haben jetzt noch 18.000 Soldaten. Das ist die kleinste Armee in Mit- telamerika. Die demobilisierten Contras ihrerseits haben sich ins wirtschaftliche, politische und soziale Leben integriert. Im vergangenen September gab es einen kleinen Militäraufstand mit dem sogenannten Kommando 3-80, das von „Chacal“ angeführt wurde. Aber im Gegenzug für ein politisches Forum und einige zweitrangige Zugeständnisse hat es sich aufgelöst.

Frage: Bleibt denn die Möglichkeit ausgeschlossen, daß ein anderer „Chacal“ auftritt?

Rivera: Es gibt einen Zustand der Zersetzung, es gibt Banden, Überfälle, Entführungen, aber es handelt sich um Raub oder ähnliche Sachen. Das ist keine politische Guerillaposition mehr. Der Krieg in Nicaragua ist definitiv beendet. Das gibt uns die Gelegenheit, ein demokratisches System aufzubauen, das den nationalen Interessen entspricht, das das Land in den Verhandlungen mit den Wirtschaftsblöcken repräsentieren kann oder wenigstens der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds würdig gegenübertritt. Denn die gegenwärtigen Regierungen in Zentralamerika, besonderes die in Nicaragua, gehorchen in erster Linie den Befehlen der Weltbank.

„Die Regierung gehorcht den Befehlen der Weltbank“

Mit den Wahlen an der Atlantikküste hat schon die Kampagne für die Präsidentschaftswahlen in zwei Jahren gewonnen, die Leute denken schon viel an 1996. Eine der Parteien, die am meisten in diesem Sinne gearbeitet hat, ist die Liberale Verfassungspartei, die vom Bürgermeister Managuas, Arnoldo Alemán, angeführt wird. Diese Partei wird der stärkste Gegner der Sandinisten sein (bei den Wahlen an der Atlanikküste setzte sie sich gegen die Sandinisten überraschend durch. Von 90 Regionalsitzen erreichte die Liberale Verfassungspartei 38, die Sandinisten 33). Der Sandinismus hat auf dem politischen Feld die ungemein wichtige Herausforderung, eine demokratische, volksnahe und revolutionäre Bewegung innerhalb der Spielregeln der Wahlen zu legitimieren. Wir haben das Volk militärisch organisiert und erreicht, die Somoza- Diktatur niederzuschlagen und die Macht zu übernehmen. Jetzt ist die Situation vielleicht noch komplizierter. Wir arbeiten dafür, die Wahlen zu gewinnen und die Regierung wieder zu übernehmen, damit die Menschen sehen, daß man (auch) mit Wahlen ein System ändern kann. Wenn wir das erreichen, hätte sich unsere Strategie voll durchgesetzt. Denn weder für die USA noch für irgendjemand gäbe es einen Vorwand, die Initiativen des Sandinismus und des Volkes zu blockieren, die auf die Vertiefung der Revolution zielen. Anders gesagt: Für uns geht die Revolution weiter.

Frage: Wie entfaltet sich die Volksbewegung innerhalb dieses Kontextes?

Rivera: Die Volksbewegung mit der Nationalen ArbeiterInnenfront (FNT) an der Spitze, hält ihren Widerstand aufrecht. Im letzten Jahr gab es zwei landesweite Streiks im Transportwesen, die von allen Seiten unterstützt wurden. Die Regierung wollte den Benzinpreis erhöhen. Doch diesen Plan haben wir verhindert. Den Haushalt für das Gesundheitswesen haben die Volksorganisationen verteidigt, ebenso den Bildungsetat. Wenigstens konnte das Niveau der vorhergehenden Jahre gehalten werden. Was die Privatisierungen angeht: Wir streiten dafür, daß sie zugunsten der Arbeiter*innen geschieht. Die zentrale Debatte geht um das Eigentum. Die Revolution demokratisierte es auf dem Land und in der Stadt. Die Leute verteidigen den Besitz ihrer Lotes (kleine parzellenähnliche Grundstücke; die Red.), ihrer Bauplätze, ihrer Häuschen. Auf dem Land handelt es sich um die 4 Millionen Manzanas Land, die im Zuge der Agrarreform vergeben wurden.

„Viele müssen ihr Land an die Reichen verkaufen“

Dennoch ist die Landbevölkerung wirtschaftlich blockiert. Da sie keine finanzielle Unterstützung erhält, geht ihr wirtschaftlich die Luft aus. Viele müssen ihr Land an die Reichen verkaufen. Die Regierung selbst hat den ehemaligen Eigentümer*innen Entschädigungsbonds gegeben. Jetzt versuchen diese, die Besitztümer, die die Sandinist*innen konfiszierten, wieder zurück zu bekommen. Es gibt ein rechtliches Problem im Hinblick auf das Land. Die Revolution überreichte in einigen Fällen zwar Titel, aber konnte den Übergabeprozeß nicht abschließen. Also kommen die ehemaligen Eigentümer*innen und sagen: Hier habe ich meine Urkunden, dieser Besitz gehört mir, der nicaraguanische Staat hat ihn mir niemals abgekauft noch offiziell konfisziert. Daher komme ich, damit sie mir zahlen, mich entschädigen und die Leute dort vertreiben.

Frage: Sind Vertreibungen vorgekommen?

Rivera: Dazu ist es nicht gekommen, denn dafür ist das sandinistische Volksheer nicht da. Es ist kein Unterdrückungsinstrument der Oligarchie oder im Dienst der Oligarchie gegen die Bevölkerung. So konnten wir den erreichten Status aufrechterhalten und haben außerdem einige Gesetzesinitiativen präsentiert, um diesen Besitz zu verteidigen. Nun sind wir kurz davor, eine Reihe von Landkonflikten zu lösen. Wichtig ist, daß wir Landbesitz haben und über einige Voraussetzungen verfügen, um dem Konzentrationsmodell Widerstand entgegenzusetzen. Anfang Februar gab es Demonstrationen der (in Nicaragua überwiegend kleinen und mittleren) Kaffeeproduzenten, aber auch die kleineren und mittleren Viehzüchter bewegten sich und forderten Kredite. Sie wandten sich auch gegen die Steuerlast, denn in Nicaragua sind die Steuern brutal, die höchsten in Mit- telamerika. Zum Beispiel ist auch der Konflikt um das Benzin der Tatsache zu verdanken, daß die Gallone in Nicaragua im Vergleich zu den anderen mittelamerikanischen Ländern am teuersten ist. Wenigstens sollte ein Preis auf vergleichbarem regionalem Niveau festgesetzt werden. Auch die wirtschaftliche Integration in Zentralamerika hat wenig Vorteile gebracht, Nicaragua befindet sich in der schlechtesten Position. Die Integration erleichtert den transnationalen und nationalen Unternehmen, ihre Geschäfte in der Region zu machen. Den Arbeiter*innen bringt die wirtschaftliche Integration kaum etwas. Aus diesem Grund arbeiten wir in der Zentralamerikanischen Koordination der Arbeiter*innen (COCENTRA) zusammen.

Gewerkschaften auf neuen Wegen

– Von Helene Roux und Michele Faure

(Managua, April 1994, Apia-POONAL).- Als sie von der bevorstehenden Privatisierung ihres Unternehmens erfuhren, legten die Arbeiter der Medikamentenfabrik SOLKA ein dickes Buch mit Dokumenten an, die belegen sollten, daß die Fabrik ihnen gehört. Der Unternehmer, der SOLKA zurückfordert (zu Beginn der Sandinistischen Revolution wurde die Fabrik beschlagnahmt), ist nicht irgendein Industrieller. Es handelt sich um Ariel Solórzano, Präsident des „Verbandes der von Konfiszierung Betroffenen“, der die die reaktionärsten Sektoren des Landes vereint. Für die Arbeiter*innen ist es klar: Sie haben in zehn opfervollen Jahren die Schulden des früheren Eigentümers getilgt, für das Unternehmen Kapital aufgetrieben und ein Land im Krieg mit Medikamenten versorgt; also haben allein sie Anspruch auf die Un- ternehmenswerte, wenn sich der Staat nun zurückzieht.

Arbeiter*innen reklamieren Staatsbetriebe für sich

Als sie bei der Privatisierungsverhandlung nur 40 Prozent der Anteile zugesprochen bekamen, forderten die Arbeiter*innen, daß weitere 20 Prozent einem „neutralen“ Investor anzubieten seien und daß der ehemalige Besitzer, sofern er auf Rückgabe bestehe, seinen Anteil genau wie die Arbeiter*innen bezahlen müsse. Schließlich habe er bei seiner Flucht kurz nach dem Sturz Somozas 1979 das Unternehmen verschuldet zurückgelassen. Aus denselben Gründen forderten die Arbeiter*innen der Schuhfabrik CECALSA, daß ihnen das Unternehmen zugesprochen werde. Heute besitzen sie 100 Prozent der Aktien; die einzige Spur des früheren Chefs ist der Maschendrahtzaun um das Produktionsareal, der freie Bewegung und Organisierung verhindern sollte.

Gewerkschaften lehnen Privatisierung nicht mehr kategorisch ab

Die konservative Koalition, die bei den Wahlen im Febraur 1990 die Sandinist*innen schlug, trat die Regierung mit einem ultraliberalen Programm an und mit dem Ziel, schleunigst sämtliche Staatsbetriebe an private Unternehmer*innen zu verkaufen oder an ihre früheren Besitzer*innen zurückzugeben. Die in der Nationalen Arbeiterfront (FNT) zusammengeschlossenen sandinistischen Gewerkschaften waren zuerst gegen jede Privatisierung, da sie den Verlust tausender Arbeitsplätze und der sozialen Errungenschaften fürchteten. Als sie aber die hohen Risiken dieser kategorischen Ablehnung erkannten, begannen sie, einen Teil des Kuchens einzufordern. „Wir wollten 100 Prozent der zu privatisierenden Unternehmen, aber die Regierung schlug fünf Prozent vor und die FSLN bat uns, zehn Prozent zu akzeptieren. Wir waren isoliert. Schließlich erreichten wir 25 Prozent“, sagt Ronaldo Membreño, einer der Führer der Sandinistischen ArbeiterInnenzentrale (CST). Die Regierung hatte mit der Rückgabe an die ehemaligen Besitzer*innen begonnen, so blieb der FNT nicht viel Zeit zum Überlegen. Bei den Verhandlungen über ein Abkommen zwischen Regierung und Opposition erreichte sie, daß den ArbeiterInenn das Recht auf Eigentum zugestanden wurde. „Wir merkten aber, daß 25 Prozent der Aktien in einem Betrieb keinen realen Machteinfluß bedeuten.“ „Wir hatten bereits eine Idee von einer wirklichen Demokratisierung des Eigentums und wollten eine ökonomische Grundlage für die ArbeiterInnenbewegung und die Zivilgesellschaft, um Einfluß auf die wirtschaftlichen, politischen und sozialen Entscheidungen zu nehmen, unabhängig von der jeweiligen Regierung“, sagt CST-Führer Membreño. Daher entschloß sich die Gewerkschaft zu verhandeln, um den Besitzanteil der Arbeiter auf Unternehmen zu konzentrieren, die ganz ihnen gehören sollten. DieserProzeß mündete am 2. Februar 1992 in ein Abkommen mit der Regierung.

In 93 Unternehmen besitzen Arbeiter*innen 100 Prozent der Aktien

Heute setzt sich dieser neue Sektor, der „Bereich im Eigentum der Arbeiter*innen“ (APT), aus 17 Landwirtschafts-, Industrie- und Dienstleistungsunternehmen zusammen. In 93 Unternehmen besitzen die Arbeiter*innen 100 Prozent der Aktien, in zehn den Mehrheitsanteil und in 44 zwischen neun und 50 Prozent. Juristisch wurde die Form einer Aktiengesellschaft gewählt, wobei die Versammlung der ArbeiterInnenaktionäre je nach Anteil entweder den gesamten Unternehmensvorstand oder ihre Vertreter*innen in die Geschäftsführung wählt. Die FNT hat zwar aus einer Defensivposition heraus begonnen, hat hat aber dann ein ehrgeiziges Projekt entwickelt, das nicht die Anhäufung individuellen Kapitals, sondern Wachstum will, um Arbeitspläzte zu schaffen und Gewerkschaftskämpfen Rückhalt zu geben. Daher fördert sie den Zusammenschluß dieser selbstverwalteten Betriebe zu einem Wirtschaftsblock, um sich gemeinsam zu verteidigen und um gemeinsam Finanzmittel aufzutreiben und eigene Vermartkungsnetze aufzubauen, Dienstleistungen auszutauschen und innerhalb dieses gemeinsamen Blockes zu investieren, um nicht auf Privatkapital angewiesen zu sein. Es wird erhofft, daß dieser Zusammenschluß stark genug wird, um wirksamen politischen Druck auszuüben, vor allem dann, wenn es gelingt, alle Unternehmen kollektiven Eigentums einzubinden, wie die Kooperativen oder die Landgüter, die den demobilisierten Contras und Soldaten übergeben wurden. Die APT ist aber nicht nur für die Arbeiter*innen und die Gewerkschaftsbewegung eine Erungenschaft. „Mit dem APT festigen die Arbeiter*innen die gesamte Nation“, erklärt Edgardo García, Generalsekretär der LandarbeiterInnengewerkschaft ATC. „Das Kapital hat keine Heimat, wir hingegen schon. Wir werden die Naturressourcen nicht verschwenden oder Kapital exportieren.“ Kurz, der APT könne zu einer wirtschaftlichen Alternative und zu einem neuen politischen Projekt werden.

Neues Konzept erzeugt auch in Reihen der Sandinist*innen Irritationen

In dieser Richtung haben einige Expert*innen langfristige Perspektiven entworfen. „Die früheren Revolutionen waren ein Fortschritt, aber es fehlte ihnen ein Träger im Volk, der sie direkt umsetzte“, meint der Ökonom Orlando Nuñez. „Heute suchen die Kräfte des Volkes einen autonomen Weg, um ihre Interessen durchzusetzen. Sie stellen radikal alle Vermittlerinstanzen wie den Staat und die Partei in Frage, ohne der Revolution abzuschwören.“ Die APT sei eine Erfahrung direkter Verwaltung des Kapitals, um es in den Dienst der menschlichen Bedüprfnisse zu stellen, und zwar dank der Herausbildung eines neuen polit- ökonomischen Subjets, der ArbeiterIn-ProduzentIn. Diese neuen Konzepte beunruhigen viele, selbst die Sandinistische Front, und können – besonders in der gegenwärtigen Anfangsphase, nicht alle innerhalb der revolutionären Bewegung überzeugen. Die Gewerkschaftsführer*innen geben zu, daß ihre neuen Augabe innerhalb ihrer Reihen Verwirrung und Unruhe stiftete. „Die Kapitalist*innen sind aber in der gleichen Lage, denn sie sind nicht gewohnt, sich mit uns auf ihrem Terrain auseinanderzusetzen“, meint Menbreño. Dennoch ist eines gewiß: In der derzeitigen wirtschaftlichen Krise werden auch die selbstverwalteten ArbeiterInnenbetrieben zu kämfpen haben.

Zudem verstärken die Regierung und ihre neolieralen Verbündeten, die auf einen raschen Tod des Experiments hoffen, die Hindernisse. Die Fristen zu Bezahlung der – keineswegs geschenkten – Unterneh- men sind sehr kurz (zwischen sechs und zehn Jahren, plus zwei zahlungsfreie Jahre). Oft wurden die Fabriken überbewertet. Daher behautpen einige Gegner*innen des APT, daß die Arbeiter*innen vor allem Eigentümer*innen einer ernormen Schuldenlast seien. Regierung legt Arbeiter*innen Hindernisse in den Weg Problematisch ist auch die langsame Legalisierung des Eigentums durch die Regierung, wodurch die Kreditvergabe behindert wird. „Die sandinistsichen Regierung erleichterte Darlehen und erließ Schulden“, sagt ein Landarbeiter, „aber heute fordert die Bank den Besitztitel als Garantie.“ Das bedeutet die Aufnahme einer Hypothek – mit dem Risiko, das Eigentum bei der ersten Schwierigkeit zu verlieren. In der Industrie fehlt das für den Kauf von Rohstoffen notwendige Geld. Und die Produktion sinkt, wie in der Schuhfabrik CECALSA, wo die Arbeiter*innen sich auf zwei Wochen Arbeitszeit pro Monat be- schränken mußten. Der Lohn ist gering (ca. 30 Dollar im Monat), doch ersprart das die schmerzliche Entscheidung, Arbeitskolleg*innen zu entlassen, wenn diese auch den geringen Trost hätten, weiter TeilinhaberIn des Unternehmens zu sein. Die Gewerkschaftsführer*innen der CST beschönigen keineswegs die Lage. Sie geben zu, daß in vielen Unternehmen die Sozialleilstungen abgebaut wurden, die Löhne sehr niedrig sind und es auch Entlassungen gab, aber „die Privatunternehmer*innen hätten genauso gehandelt und zudem die Gewinne für sich eingeheimst. Die Arbeitslosigkeit ist Ergebnis der Krise, der fehlenden Liquidität und nicht der Eigentumsform“, argumentiert Membreño.

Niedrige Löhne, Einsparungen bei Sozialleistungen und Entlassungen

Es gilt nun durchzuhalten, bis Finanzmittel gefunden sind. Die Suche nach Unterstüztung oder privaten Investoren wurde zum Hauptanliegen des APT. Derzeit scheint die Lage am günstigsten in der Landwirtschaft zu sein. Schließlich beruht die Wirtschaft Ni- caraguas auf Agrarexport. Der Agrasektor erhielt einige Darlehen von der Staatsbank, Subventionen von NGOs und Finanzierungen seitens europäischer Gewerkschaften und konnte Produkte – zum Beispiel Kaffee – zu guten Preisen an internationale Organisationen des „fairen Handels“ verkaufen. Daher bezeichnet Edgardo García die Situation in der Landwirtschaft als „erträglich“; sie ist außerdem weniger abhängig von Importen als zum Beispiel die Industrie. Diese hat, neben dem akuten Finanzierungsproblem, mit dem Wettbewerb zu kämpfen, der durch die Öffnung der zentralamerikanischen Grenzen entstand und der sich durch das jüngst unterzeichnete NAFTA-Abkommen zwischen Mexico, den USA und Kanada zu verschärfen droht. Die private Kofinanzierung erscheint somit als einziger Ausweg, obwohl dies bedeutet, daß die Arbeiter*innen einen Teil ihres Einkommens einem Unternehmer abtreten. „Wenn sich der Betrieb rettet und rentabel wird, können mit den Gewinnen neue Unternehmen gegründet werden, die dann ganz den Arbeiter*innen gehören“, erläutert García.

Manchmal kann es auch interessant sein, den Minderheitsanteil einer sehr rentablen Fabrik zu halten. Die Arbeiter*innen von Pepsi halten mit zwölf Prozent der Aktien mehr Gewinn als der gesamte Textilbereich. In der gegenwärtigen Anlaufphase laufen die „gemischten“ Betriebe weniger Gefahr unterzugehen. Dennoch bereiten sie den Arbeiter*innen Kopfzerbrechen. Vor allem bereichert jede Erhöhung der Rentabilität durch die Arbeiter*innen zunächst lediglich die Mitbesitzer*innen. Die Strategie besteht nun darin, die Sozialleistungen aus den Einnahmen des Unternehmens und nicht aus den Gewinnen der Arbeiter*innen zu finanzieren. Die Streichholzfabrik Momotombo wurde zu 50 Prozent einem ehemaligen Freund Somozas zurückgegeben. Dennoch konnten die Arbeiter*innen Errungenschaften der Revolution „auf Kosten“ des Chefs verteidigen: Die ärztliche Versorgung, die freie Verpflegung und den kostenlosen Transport.

Kapitalist*innen im Overall?

Auf die historische Forderung der Landarbeiter*innen nach Land stellt der APT eine offfenbar sinnvolle Antwort dar. Die städtischen Arbeiter*innen sind hier skeptischer. Manche fragen sich, ob das Projekt APT nicht zu einer neuen ArbeiterInnenelite führen wird. Andere fürchten, daß das neue Modell Fehler wie Bürokratie und Hierarchien, wie sie unter der sandinistischen Regierung in den Straatsbetrieben begangen wurden, wiederholt. Aber der APT ist noch in der Aufbauphase. „Ein Prozeß, der sicher nicht geradlinig verläuft“, bemerkt García und gibt die Existenz von Wiedersprüchen zu, die das Projekt aus der Bahn werfen könnten. „In einigen Landwirtschaftsbetrieben wurden bereits die Kindergärten geschlossen, weil sie nicht rentabel waren, in anderen forderten die Vorstandsmitglieder Luxuswagen. Daher haben wir ein Kontrollkomitee gegründet“, berichtet die Arbeiterin einer Kaffeefinca. Kontrolle gibt es bereits in zahlreichen Betrieben. Vor allem soll blindes Rentabilitätsdenken auf Kosten der Arbeiter*innen verhindert werden. „Vieles wird von den künftigen Instanzen der Beteiligung abhängen“, meint ein Forscher des Studien- und Analysezentrums der CST. Derzeit werden die Strukturen der Revolutionszeit ausgewertet,. um jene beizubehalten, die erfolgreich waren. Einstweilen bietet die FNT Kurse an, damit alle die Entscheidungen der Unternehmensführungen verstehen und beurteilen können. „Wir wollen, daß alle in der Lage sind, die Kontenbücher zu lesen“, sagt Membreño. Die Position der Gewerkschaft ist entscheidend. Durch ihre Protagonistenrolle zu Beginn der Privatisierung übernahmen die Gewerkschaften eine große Verantwortung. „In unserer Fabrik übernahm die Gewerkschaft die Unternehmensführung. Plötzlich fand ich mich an der Spitze der Betriebsleitung“, erinnert sich ein Gewerkschaftsführer. Problematisch können Fälle werden, wo die Gewerkschaft die Interessen der APT als Wirtschaftsblock schützen will und dabei gegen die Interessen eines Einzelbetriebs verstoßen würde.

Ein Kind der Revolution

Die Gewerkschafter*innen sehen die Lösung dieser Widersprüche im Klassenbewußtsein, der Solidarität und der ideologischen Arbeit. Wie viele vertraut auch García darauf, ein ausreichend hohes Bewußtsein zur Verteidigung dieses neuen Modells schaffen und be- wahren zu können. „Die Geschichte wird zeigen, ob wir einen großen Irrtum begangen haben“, meinte Lucio Jiménez, Koordinator der FNT, kurz nach der Unterzeichnung des Abkommens. Fest steht bereits, daß die Privatisierung zu Gunsten der Arbeiter*innen den Niedergang der Gewerkschaftsbewegung zu einem Zeitpunkt bremste, als zwei Drittel der CST-Mitglieder bereits entlassen waren. Deshalb und weil er zur Demokratisierung des Eigentums beiträgt, ist der APT ein Dorn im Auge jener, die hoffen, daß mit der Wahlniederlage von 1990 alles zur Situation vor 1979 zurückkehren würde.

PANAMA

Wahlapathie inmitten der Korruption

– Von Marco A. Ganásegui, jr.

(Panama-Stadt, 25. März 1994, Alai-POONAL).- Am 8. Mai gehen etwa 1,5 Millionen Panameños zu den Urnen. Sie wählen den Präsidenten der Republik, 71 Abgeordnete, 40 Bürgermeister*innen und 510 Ver- treter*innen an Gerichten (representantes de corregimiento). Es wird die erste Wahl seit 26 Jahren sein, an der keine Militärs beteiligt sind. Am 11. Oktober 1968 putschte die Nationalgarde gegen die erst einige Tage zuvor gewählte Regierung. 21 Jahre später, am 20. Dezember 1989 drängten die nordamerikanischen Invasoren die Militärs um General Noriega von der Macht.

Trotz ihrer Popularität zu Beginn der Amtszeit haben die derzeitige Regierung und ihre Parteigänger*innen die Sympathien des Wahlvolkes zu einem großen Teil verloren. Die jüngsten Umfragen geben dem stärksten Oppositionskandidaten einen klaren Vorteil. Die Regierungskoalition ist mittlerweile auseinandergebrochen, die ehemaligen Verbündeten treten mit drei verschiedenen Kandidat*innen gegeneinander zur Präsidentschaftswahl an. Sieben Kandidat*innen bewerben sich für das höchste Amt. Das Wahlgericht hat zudem 16 Parteien für die Parlamentswahlen zugelassen. Ernesto Pérez Balladares, der Kandidat der Revolutionären Demokratischen Partei (PRD) führt die Meinungsumfragen mit 30 Prozent der Stimmen an. Ihm folgt einer der Regierungskandidaten, Rubén D. Carles, der es auf einen Anteil von etwa 15 Prozent bringt. Danach kommt der populäre Liedermacher Rubén Blades mit ungefähr 13 Prozent. Mireya Gruber, die Kandidatin der Arnulfistischen Partei, der der amtierende Präsi- dent Endara angehört, erreicht den Umfragen zufolge nicht einmal 10 Prozent. Die ehemals mächtige christdemokratische Partei (PDC) wird mit ihrem Kandidaten Eduardo Vallarino bei knapp fünf Prozent geortet (die allerneuesten Umfragen sahen Rubén Blades schon bei 24 Prozent, nur noch vier Prozentpunkte von Balladares entfernt; die Red.).

Ehemalige Regierungskoalition tritt mit drei Kandidaten an

In den Straßen der Hauptstadt Panama-Stadt deutet kaum etwas auf eine hitzige Wahlkampagne hin. Es scheint vielmehr, als ob die Kandidat*innen das alltägliche Leben der Pananmeños nicht unterbrechen wollten. Das Wahlvolk seinerseits fühlt keinen be- sonderen Enthusiasmus für die blassen Programme und die wenig originellen Kandidat*innen. Pérez Balladares gehört mit der PRD der Partei an, die von dem 1978 umgekommenen General Omar Torrijos gegründet wurde. Die Partei hievte mit inniger Unterstützung des Militärs 1978 Aristides Royo und 1984 Nicolás Ardito Barletta auf den Präsiden- tensessel. 1989 wurde sie jedoch durch eine anti-militaristische Parteienkoalition geschlagen. Daraufhin anullierten die Streitkräfte die Wahlen, erst nach der nordamerikanischen Invasion kamen die Wahlgewinner an die Macht. Die PRD bezeichnet sich als sozialdemokratisch und sagt, daß sie Positionen der Mitte annehme. Gegenüber den USA betont sie ihre nationalistische Einstellung. Innerhalb der Partei spielen die nationalen Unternehmer*innen eine dominierende Rolle. Gleichzeitig ist aber auch ihr Einfluß in den Gewerkschaftszentralen des Landes spürbar. Während der Ära von Torrijos (1970-1978) verfolgte die Partei ein Konzept der nationalen Entwicklung, das starke Investitionen in die Infrastruktur und eine hohe Staatsverschuldung mit sich brachte. PRD-Kandidat Balladares – einst eng mit den Militärs liiert – liegt nach Umfragen vorn

In den Jahren, in denen General Noriega den Ton angab (1983-1989), trat sie für eine militarisierte Zukunft des Panamakanals ein. Nach der Invasion war sie die beständigste Partei in der Opposition zur gegenwärtigen Regierung. Die Erfahrung der PRD hat sich bisher jedoch immer nur in durch Militärs beherrschten Regierungen gezeigt. Die Hauptschwäche des Kandidaten Balladares (Spitzname: „Der Stier“) sowie der Partei insgesamt sind die ehemals innigen Verflechtungen mit den Militärs. Allerdings betont der Kandidat allein seine enge Beziehung zu dem legendären General Torrijos. Gleichzeitig streitet er jegliche Verbindung zu General Noriega ab. Die militaristische Erfahrung des „Torrijismo“ liegt lange zurück. Viele Leute erinnern sich vor allem an die Investitionsprojekte und das wirtschaftliche Wachstum jener Zeit. Doch Balladares präsentierte in seiner Kampagne Vorschläge, die sich kaum von denen der derzeitigen Regierung unterscheiden. Er verspricht nur, effektiver und aktiver zu sein. Balladares ist 47 Jahre alt und erhielt seine akademische Ausbildung in den USA (Notre Dame und Pennsylvenia). Mit 30 Jahren war er unter Torrijos Finanzminister und besetzte später noch verschiedene Ministerämter. 1989 dirigierte er die fehlgeschlagene Wahlkampagne des damaligen PRD- Kandidaten. Er hat zwei konservativ eingestellte Unternehmer als Kandidaten für die Vizepräsidentschaft aufgestellt. Der stärkste Kandidat der Regierungsseite ist Rubén D. Carles. Er wurde während der Amtszeit von Endara als der „Finanzzar“ angesehen. In seiner Funktion als oberster Rechnungsprüfer der Nation von 1990 bis 1993 trieb er die Sanierung des Staatshaus- haltes voran, verhandelte mit den privaten Banken über die Verringerung der Auslandsschulden und wachte über die Einhaltung der Forderungen der internationalen Finanzinstitutionen. Er gilt als der Architekt der neoliberalen Schockpolitik, die die pana- maische Regierung nach der Invasion anwendete.

USA sehen Panama noch immer als wichtigsten Drogenumschlagplatz

Von 1990 bis 1994 verschärfte sich das Problem der Arbeitslosigkeit und der öffentlichen Sicherheit. Außerdem beschuldigen die USA Panama, immer noch zu den wichtigsten Drogenumschlagsplätzen der Hemisphäre zu gehören. Leitende Angestellte der US-amerikanischen Drogenbehörde DEA behaupten, daß in Panama die effektivsten Banken besitze, um Drogengelder zu waschen. Der Regierungskandidat Carles hat drei wesentliche Schwächen: Ihm wird das wirtschaftspolitische Scheitern der Regierung vorgehalten, insbesondere gelang es nicht, neue Investitionen anzuziehen. Die Unternehmer*innen wollen keine weiteren fünf Jahre mit leeren Versprechungen. Im sozialen Bereich kann der ehemalige Rechnungsprüfer nichts anderes als seine harte Linie präsentieren, die sich negativ auf die Beschäftigung auswirkte, Investitionen in Gesundheits-, Bildungs- und Wohnungsprogramme entmutigte und viele Menschen in die Armut trieb. Die dritte Schwäche liegt darin, daß Carles damit identifiziert wird, die Sicherheit in den Straßen unterhöhlt zu haben, weil er die alten, von Noriega kommandierten Verteidigungskräfte auflöste ohne gangbare Alternativen vorzuschlagen. Carles ist 74 Jahre alt und war fast sein ganzes Leben lang Funktionär der Chase Manhattan Bank. Dieses bekannte nordamerikanische Unternehmen operiert seit den 20er Jahren in Panama. Politisch war Carles in konservativen Parteien aktiv. 1983 war er an der Gründung der Liberalen Republikanischen Nationalen Bewegung (MOLIRENA) beteiligt. Diese ist eine von den drei Parteien, die ihn als Kandidaten ins Rennen schicken. Im Wahlkampf versuchte er, sich ein liberal-soziales Image zu geben und sich von der neoliberalen Regierungspolitik zu distanzieren. Seine Anhänger*innen bemühten sich gar, eine geistige Verwandtschaft zum nordamerikanischen Präsidenten Bill Clinton glaubhaft zu machen.

Rubén Blades: Fehlende Strategie ließ seine Popularität sinken

Das originelle Element der Wahlkampagne bringt der berühmte Salsasänger Rubén Blades ein. Vor zwei Jahren gründete er die Bewegung Papa Egoró (Mutter Erde). Ende 1993 stellte die Bewegung ihn als Kandidaten auf und wandelte sich offiziell zur Partei. In der zweiten Jahreshälfte 93 führte er die Umfragen an. Doch angesichts einer fehlenden Wahlstrategie stagnierte seine Popularität (lange Zeit). Anfang 1994 traten mehrere Parteien, darunter die PDC, an Blades heran, um ein Wahlbündnis zu vereinbaren. Dieser lehnte jedoch ab, um seine Bewegung in reiner Form den Bürger*innen zu präsentieren. Blades hat sich mit einer zahlreichen Intellektuellengruppe und persönlichen Freunden umgeben, die mit der panamaischen KünstlerInnenwelt verbunden sind. Die Heterogenität der Führung der Bewegung hat bei der Kandidatur für einige Probleme gesorgt. Papa Egoró hat kein Wirtschaftsprogramm, obwohl in der Plattform der Wunsch, die Arbeitslosigkeit und die Armut abzuschaffen, an erster Stelle steht. Blades ist der Kandidat, der mit dem stärksten Nachdruck auf die sozialen Probleme hinweist und Lösungen fordert. Seine Schwäche ist jedoch zweifelos seine mangelnde Fähigkeit, sein Denken in konkrete Aktionvorschläge umzusetzen. Blades bringt die Unzufriedenheit mit der momentanen Regierung und den halbkolonialen Beziehungen mit den USA von allen Kandidaten sicherlich am stärksten zum Ausdruck. Er tritt beispielsweise dafür ein, daß die nordamerikanischen Streitkräfte auf jeden Fall aus dem Land müssen. Pérez Balladares dagegen sagt (nur), die USA müßten die Torrijos-Carter-Verträge erfüllen und die Militärbasen vor dem Jahr 2000 zurückziehen. Carles schlägt eine Verhandlung vor, damit die ausländischen Truppen länger im Land bleiben. Ein Wahltriumph von Blades ist nicht wahrscheinlich. Seine engsten Mitarbeiter*innen gehen davon aus, daß die Kampagne aber immerhin bewirken werde, die Bewegung Papa Egoró längerfristig als eine politische Alternative zu etablieren. Blades selber hat seinen Anhänger*innen denn auch versichert, er werde das Land nicht verlassen, wenn der Wahlkampf abgeschlossen sei.

HAITI

Armee besetzt Stadt im Norden

(Port-au-Prince, 22. April 1994, Hib-POONAL).- Zwei Wochen nachdem Nachrichten über eine bewaffnete Konfrontation in Le Borgne in der Hauptstadt durchsickerten, herrscht nach wie vor Konfusion über die tatsächlichen Geschehnisse. Seit dem 8. April wurde die Militärpräsenz in der Stadt Le Borgne, 60 Kilometer von Cap- Haitien entfernt, deutlich erhöht. Berichten zufolge sind zwischen 250 und 500 schwer bewaffnete Soldaten aus anderen Städten an- gefordert wurden.

Die Informationen bestätigen auch, daß die Soldaten etwa 100 Häuser niederbrannten und mindestens 100 Landarbeiter*innen verhafteten. Die meisten von ihnen gehörten der „ti legliz“ oder Campesinoorganisationen an. Die Soldaten vergewaltigten Frauen, zerstörten Felder, Kaffeeplantagen und Viehbestände. Von den Bewohner*innen erpressten sie hunderte von Dollars. Am 10. April verhafteten und schlugen sie einen Richter, dessen Aufenthaltort bis heute unbekannt ist. Schlechte Telefonverbindungen und die Tatsache, daß die Region von Militär umstellt ist, die die Ein- und Ausreisenden aus der Region untersuchen und schikanieren, haben genauere Informationen aus der Stadt verhindert. Genausowenig konnten bis heute Angaben über die Ursache der bewaffneten Auseinandersetzung gemacht werden. Zahlreiche Regierungsangehörige haben von der Armee, die sich in Schweigen hüllt, Aufklärung verlangt. Die Internationale Zivile Mission von OAS und UNO hat eine Delegation in den Norden angekündigt.

Örtliche Führer*innen sagen, der Konflikt habe Anfang April begonnen, als Landarbeiter*innen Bambus und anderes Holz, unter großer Geräuschentwicklung verbrannten. Der Bereichschef meldete den „Vorfall“ der Armee. Am 7. April begannen in diesem Gebiet Schiessereien. Daraufhin habe wohl der Bereichschef, so die Führer*innen, der Armee erzählt, er habe drei Gewehre gefunden und die Landarbeiter*innen würden einen Aufstand vorbereiten. In den nächsten zwei Tagen besetzten dann Soldaten die Stadt. Ein Lehrer aus dem Gebiet erzählte: „Am 9. April kamen Soldaten zurück und verbreiteten Nachrichten, in denen sie von den Bassin Caiman- Leuten erzählten, die von Ausländer*innen mit Hilfe eines Helikopters mit Waffen versorgt würden… Es habe tote Soldaten gegeben“. Der befragte Lehrer war jedoch der Meinung, daß die Geschichte erfunden sei, um die bewaffnete Auseinandersetzung zu begründen. In den folgenden zwei Wochen lebte die gesamte nördliche Region in Furcht. Aus Le Borgne und den umgebenden Gemeinden sind die Menschen in die Berge geflüchtet. Die Militärs durchsuchen und schikanieren weiterhin die Bewohner*innen.

Guerilla-Rebellion?

Eine andere Version wurde am 12. April von einem örtlichen IPS- Korrespondenten veröffentlicht. Danach griff eine Guerillagruppe einen Militärposten in Le Borgne an und tötete fünf Soldaten. Als Vergeltungsmaßnahme schickte die Armee laut IPS hunderte Soldaten in das Gebiet. Die Nachrichtenagentur berichtete von 250 Guerilleros „mit Uzis, Panzerfäusten und M-1 Gewehren bewaffnet“, die sich in den Bergen nahe Le Borgne verstecken würden. Ihr An- führer trage den Namen eines Regierungsfunktionärs aus dem Gebiet. IPS schrieb auch, die Guerilla habe „im Ausland ausgebildete“ Führer.

Es gibt keine weiteren Quellen, die diese Details bestätigen könnten. Als Folge der Gerüchte scheinen Menschen in anderen Städten ermutigt zu sein, ihre Rechte einzufordern. In Gonaives sollen zwei Tage lang Barrikaden aufgebaut worden sein. Die Folge waren zahlreiche Verhaftungen.

Voodoo und andere Religionen

– 2. und letzter Teil

Lawless gibt auch der Analyse beliebter Interpretationen der heimischen Religion, des Voodoo, breiten Raum. Voodoo wird von 50 bis 70 Prozent der ländlichen Bevölkerung und einem Teil der Stadtbewohner*innen praktiziert. Der Anthropologe beschreibt das, was genauer bezeichnet „den Göttern dienen“ heißt. Er weist darauf hin, daß ausländische Autor*innen sich nur auf die aufsehenerregenden Praktiken konzentrieren, die von der eher sparsam betriebenen „schwarzen Magie“ herrühren – obwohl eine Fülle von Informationen in leicht zugänglichen anthropologischen Studien bereitsteht. „Sich auf die dunklere Seite des Voodoo zu beziehen, ist so wie ein Buch über die Satanskulte in Südkalifornien zu schreiben und es als eine Untersuchung über das Christentum zu präsentieren“, schreibt Lawless. Die Welt sei jedoch weiterhin vom exotischen Voodoo fasziniert. Er kritisiert auch einige Haitianer*innen wie den Voodoo-Priester Max Beauvoir, die diese Interpretation für ihren eigenen Nutzen fortschrieben.

Außerdem geht er auf den Katholizismus ein, den er „die Religion der Sklavenbesitzer*innen“ nennt. Der Protestantismus, der besonders von den US-Missionaren praktiziert und gefördert wird, sei „unlösbar mit den Werten des Kapitalismus wie des Individua- lismus verbunden“. Den Katholik*innen, besonders der „ti legliz“ (sozusagen die haitianische „Kirche von unten“, von Aristide mitbegründet; d. Red.) gesteht er das Verdienst der Mobilisierung zu, die zur Vertreibung von Jean Claude Duvalier im Jahr 1986 führte. Dennoch bleibe die katholische Hierachie extrem „anti- fortschrittlich“.

Der Katholizismus, die Religion der Sklavenbesitzer*innen

Wesentlich kritischer äußert sich Lawless aber über die protestantischen Missionare, die auf das Land ausgeschwärmt sind, wo zwischen 65 und 85 Prozent der Bevölkerung leben. Heutzutage wird geschätzt, daß sich etwa 10 bis 25 Prozent der Haitianer*innen zum Protestantismus bekennen. Viele konvertieren offensichtlich, um den Verpflichtungen zu entfliehen, die das „dienen für die Götter“ mitsichbringt. Die Missionare kümmern sich augenscheinlich nicht so sehr darum, daß die Konvertiten von den Aufgaben und Verpflichtungen des Voodoo befreit sind, die aus der ländlichen Gemeinde ein Netz gegenseitigen Respektes machen und die zwischenmenschlichen Beziehungen stärken. Lawless urteilt, daß Voodoo gleichmache und demokratisch sei. (Er macht jedoch nicht auf den Mißbrauch durch sogenannte „Doktoren“ und andere aufmerksam, die ihre Machtpositionen ausnutzen, um die Bäuer*innen auszupressen.) Für ihn sieht die Elite den Voodoo „als bedrohend an, weil er eng mit der afrikanischen Landbevölkerung und dem städtischen Proletariat in Verbindung gebracht wird“. Der Anthropologe folgert: „Die Religionsfreiheit sollte auf- rechterhalten werden, aber jedem Land muß es erlaubt sein, den Import fremder Prediger*innen zu kontrollieren.“

Lawless behandelt auch die negative und ausbeuterische Rolle, die die USA während dieses Jahrhunderts auf Haiti gespielt haben. Er verurteilt die Intervention der USA 1915, ihre Unterstützung der Duvaliers und ihre Einmischung in die Wirtschaft. Die US-Besetzung (1915-1934) verstärkte den Rassismus auf Haiti, weil die Besetzer die hellerhäutigen Bürger*innen begünstigten. Die Marines gründeten die Armee, die sie vor allem in den 80er Jahren mit viel Geld aufrüsteten – Reagan gab fünfmal soviel wie Carter. So legten sie den Grundstein für einen Staatsstreich. Lawless geht die „Entwicklungsarbeit“ der USA hart an und „den schädlichen Zugriff nordamerikanischer Kapitalisten, die billige Arbeitskraft suchen“. Aber er geht nicht soweit, die USA als den entscheidenden Faktor in der aktuellen Krise zu identifizieren.

„Aristide war unfähig, die verschiedenen Segmente der Gesellschaft zusammenzubringen“

„Aristide war… unfähig, die verschiedenen Segmente der haitianischen Gesellschaft zusammenzubringen“ und wurde deswegen „ausgeschlossen“, kommentiert Lawless. Die Wirklichkeit verlange jedoch, daß die Rolle der USA vor und nach dem Putsch untersucht und streng verurteilt werde. Vielleicht vermutete Lawless nicht, was andere vermuteten und was jetzt bekannt ist: daß General Raoul Cedras und viele andere Offiziere CIA-Agenten waren (und wahrscheinlich immer noch sind) und der 1986 von der CIA ge- schaffene Geheimdienst „Service d'Intelligence Nationale“ bis zu einer Million US-Dollar jährlich für seine politischen Unterdrückungsmaßnahmen erhielt.

Der Autor des Buches ist ebenfalls ambivalent, was Aristide und die Gewalt anbelangt. Er spekuliert sogar, daß der Präsident den Mord an Roger Lafontant in seiner Gefängniszelle in der Putschnacht befahl. Die Mitglieder des demokratischen Flügels stimmen dagegen allgemein überein, daß die Anführer des Staatsstreiches Lafontant opferten, um Rückhalt für ihre Rechtfertigung – die demokratische Korrektur der Menschenrechtsverletzungen Aristides – zu haben. Es war kein Zufall, daß der „Menschenrechtsbeobachter“ Jean-Jacques Honorat zum illegalen Premierminister bestimmt wurde.

Irritierendes Vorwort eines Aristide-Vertrauten

Ein Vorwort, das der haitianische Botschafter in den USA, der Soziologe Jean Casimir, acht Monate nach dem Putsch schrieb, fügt dem Buch eine enttäuschende und irritierende Note hinzu. Casimir sagt, daß zwei Jahrhunderte von „Versuchen, ihre Gesellschaft zu zerstören, zu entmenschlichen und von ihrer Kultur zu trennen“, bewirkt hätten, daß die meisten Haitianer*innen nichts von Politik und dem Staat wissen. Sie hätten zum Teil selbst die Schuld an ihrer „schlechten Presse“.

Casimir fährt fort, in dem er die Presse aufruft, keine Klischees mehr zu benutzen, damit der „Westen“ Haiti und die „Eingeborenen dieser Welt“ besser kennenlernen kann und so „menschlicher“ wird. Im Gegenzug, so reflektiert er, würden die „Eingeborenen“ den „Menschheitsbeitrag“ der dominierenden Kultur schätzenlernen. Das impliziert, daß die Haitianer*innen und andere Völker bis jetzt nur nach innen gerichtet und isoliert waren. Der Botschafter schließt mit der Einschätzung, daß durch diese gegenseitige Entdeckung und den „friedfertigen Dialog“ die Welt verändert werden wird, daß „alle Formen der politischen Gewalt“ aufhören werden und „die besondere Gewalt der eingeborenen Völker geheilt werden wird, da sie nutzlos für ihre geistige Gesundheit wird“. Es ist von überwältigender Tragik zu sehen, wie Casimir in genau das „Volksmodell“ verfällt, das Lawless auf den folgenden Seiten so erbittert kritisiert. Noch tragischer ist es, zu erkennen, daß der Top-Berater von Aristide in Washington, nämlich Casimir, unzweifelhaft eine der am meisten verantwortlichen Personen ist, seine Regierung in „Verhandlungen“ und „Gespräche“ hineinzuziehen, die jetzt 30 Monate dauern. Vielleicht hat dies genauso viel, wenn nicht mehr als die schlechte Presse der vergangenen zwei Jahrhunderte dazu beigetragen, Haitis Kultur, Umwelt, die Wirtschaft und vor allem die Menschen zu zerstören. Schlußfolgerung: Trotz des Vorworts und der kleinen Schwächen in seiner politischen Analyse, bietet „Haiti's Bad Press“ einen exzellenten und kritischen Überblick, wie Haiti von der übrigen Welt gesehen, falsch interpretiert und mißbraucht wurde – von Journalist*innen, ausländischen Staatsleuten und Missionaren gleicherweise. Lawless Respekt vor Haitis politischer, wirtschaftlicher, kultureller und religiöser Souveränität und seinem Recht, sich zu einer modernen Nation zu entwickeln, ist inspirierend und erfrischend.

GUATEMALA

Stimmung gegen NordamerikanerInnen

– Von Ileana Alamilla

(Mexiko-Stadt, 25. April 1994, cerigua-POONAL).- Nach dem 29. März, der Tag, an dem das Menschenrechtsabkommen unterzeichnet wurde, ist in Guatemala eine fremdenfeindliche Welle ausgebrochen. Sie wird von den Streitkräften gefördert und läßt die Probleme voraussehen, denen internationale Beobachter*innen ausgesetzt sein werden.

Zu den aufsehenerregendsten Fällen gehörten in den letzten Wochen die Angriffe auf US-Bürgerinnen. Am 29. März umringte beispielsweise in dem Ort San Cristóbal in der Provinz Alta Verapaz eine Menschenmenge die US-Journalistin Diane Weston. Die Menschen, darunter Mitglieder der paramilitärischen Zivilpatrouillen und Militärbeauftragte, klagten die 51jährige an, sie wolle ein Kind rauben. Sie schrien: „Gringo gesehen, Gringo tot“ und schlugen auf die Journalistin ein, bis die Feuerwehr (die in Guatemala zugleich die Funktion einer Ambulanz hat; die Red.) rettend eingriff. Im ganzen Land tauchten Graffitis mit ausländerfeindlichen Sprüchen auf. Menschenrechtsexpert*innen gehen davon aus, daß mit den jüngsten Vorfällen ein abweisendes Klima gegen ausländische Beobachter*innen geschaffen werden soll. Die Aktionen geschehen im Vorfeld der Vorbereitungen einer internationalen UNO-Mission, die die Menschenrechte in Guatemala überwachen soll. Das tatsächlich existierende Problem des Kinderhandels, in das größtenteils Nord- Amerikaner*innen verwickelt sind, wird vorgeschoben, um eine anti- nordamerikanische Stimmung zu schaffen. Diese könnte sich gegebenenfalls genauso gegen Staatsangehörige anderer Länder richten.

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