Poonal Nr. 174

Deutsche Ausgabe des wöchentlichen Pressedienstes lateinamerikanischer Agenturen Nr. 174 vom 20.12.1994

Inhalt


EL SALVADOR

KOLUMBIEN

ARGENTINIEN

PARAGUAY

NICARAGUA

KUBA

ECUADOR

URUGUAY

GUATEMALA


EL SALVADOR

Guerillagruppierungen verlassen FMLN

(Mexiko-Stadt, 16. Dezember 1994, POONAL).- Da waren's nur noch drei: Die ehemaligen Guerillagruppierungen ERP und RN haben die Nationale Befreiungsfront Farabundi Marti (FMLN) in El Salvador endgültig verlassen. Dies ist der Schlußpunkt unter monatelange ideologische und persönliche Streitereien zwischen den fünf Gruppen, die die FMLN ursprünglich formten. In der FMLN bleiben die FPL, die Kommunistische Partei (PCS) und die PRTC. Dazu kommt der Dissidentenflügel innerhalb der RN, der sich nicht von dem Zusammenschluß lossagen will.

Den entscheidenden ersten Schritt machte vor wenigen Tagen die von Joaquín Villalobos geführte ERP. Nach vielen vorausgegangenen Ankündigungen erklärte sie ihren offiziellen Austritt aus der ehemaligen Guerillafront. Dabei forderte sie zugleich die völlige Auflösung der FMLN. Die RN, die den Schritt der ERP kurz darauf nachvollzog, äußerte sich bei ihrem Abgang gemäßigter. Ihr Führer, der Ex-Kommandant Eduardo Sancho, sprach zwar von einem fehlenden Spielraum für die verschiedenen ideologischen Tendenzen und einer Vorherrschaft der „autoritären“ Strömungen in der FMLN. Er versicherte jedoch, deren Mitglieder blieben „Compañeros“. Die Arbeit für die Einheit aller Kräfte der Linken würde fortbestehen. Sancho kündigte die Gründung einer Demokratischen Bürgerlichen Bewegung mit sozialdemokratischer Ausrichtung an. Mittelfristig ist die Bildung einer sozialdemokratischen Partei zusammen mit der ERP und der Revolutionären Nationalen Bewegung (MNR) vorgesehen.

KOLUMBIEN

Pakt zwischen Kokabauern und Regierung

(Mexiko-Stadt, 16. Dezember 1994, POONAL).- Mehr als eine Woche hielten etwa 10.000 Campesinos und Campesinas den Flughafen der kolumbianischen Provinzhauptstadt San José besetzt. Am 15. Dezember kamen sie zu einer vorläufigen Einigung mit der Regierung. Die Bäuer*innen der Urwaldregion in der Provinz Guaviare hatten sich mit ihrer Aktion gegen die Giftbesprühung ihrer Felder gewehrt, auf denen sie die Kokapflanze und Mohn anbauen. Der Gouverneur Jorge Zapata Betancour versprach nach den Verhandlungen, die Besprühung kleinerer Koka- und Mohnfelder (bis zu drei Hektar) zu stoppen. Als Alternative für die Campesinos kündigte er Investitionen und Infrastrukturmaßnahmen an.

Die Bäuer*innen erklärten sich daraufhin damit einverstanden, die illegalen Anbaufelder besonders der Kokapflanze zu vernichten und sie schrittweise zu ersetzen. Diesen Entschluß hatte Kolumbiens Innenminister Horacio Serpa erleichtert, indem er den Campesinos einen Fonds von 150 Millionen Dollar für den Anbau traditioneller Produkte anbot. Die Bundesregierung will eine offizielle Kommission in das Gebiet schicken, die die Modalitäten aushandeln soll. „Für uns ist klar, daß die Kleinbauern und Knechte Opfer eines Problems gewesen sind, das von den großen Drogenhändlern geschaffen wurde. Darum verdienen sie eine andere Behandlung als die, die den Verbrechern vorbehalten ist“, so Serpa in einer Senatsdebatte.

Der Innenminister drohte jedoch zugleich, die Zerstörung der Koka- und Mohnfelder fortzusetzen. Kolumbien habe eine internationale Verpflichtung, gegen den Drogenhandel vorzugehen. Ebenso hielt er seine Meinung aufrecht, der Protest der Campesinos sei von der Mafia und den Guerilleros organisiert, die in der Region präsent sind. Während der Senatsdiskussion wiesen mehrere Sprecher*innen darauf hin, daß die Besprühung der Anbaufelder mit Glyphosphat die Gesundheit der Bäuer*innen, die Lebensmittel und das Ökosystem schädigten. Auch die protestierenden Campesinos weisen auf diese Gefahren hin. Der Innenminister behauptet dagegen, die Chemikalie habe keine Nebenwirkungen.

ARGENTINIEN

Menem hat die Justiz im Griff

– Von Dafne Plou

(Buenos Aires, 24. November 1994, alai-POONAL).- Mit der Ernennung von Julio Nazareno zum Vorsitzenden des Obersten Argentinischen Gerichtshofes befindet sich ein Großteil der Macht des Landes in den Händen von drei Männern, die alle aus der Provinz La Rioja stammen und in derselben Anwaltskanzlei arbeiteten, bevor sie in die Politik gingen. Die Kanzlei bestand aus zwei starken Männern und einem schwachen. Der erste starke heißt Carlos Menem, derzeitiger Präsident der Republik. Der zweite starke Mann ist sein Bruder Eduardo Menem, der heute dem argentischen Senat vorsitzt. Der Schwache schließlich ist Julio Nazareno, der vom Senat in das Gericht geschickt und kurz darauf zum Präsidenten ernannt wurde.

Wer die Einflußnahme der argentinischen Regierungauff die Justiz beobachtet, der ist von dieser Personalentscheidung kaum überrascht. Die Rechtsprechung hat in den vergangenen Jahren viel von der notwendigen Unabhängigkeit verloren. Kaum gelangte Carlos Menem an die Macht, da erhöhte er die Zahl der Richter*innen des Obersten Gerichtshofes von fünf auf neun. Die Initiative stand unter schwerer Kritik der Opposition. Da die Mitglieder des Gerichts nicht abgesetzt werden können und ihr Amt auf Lebenszeit innehaben, war es offensichtlich, daß die neue Regierung ihre eigenen Kandidat*innen einsetzen wollte.

Die obersten Richter*innen werden vom Senat bestimmt, in dem für jede Provinz zwei Vertreter*innen sitzen. Seit 1983 hat dort die aktuelle Regierungspartei von Menem die Mehrheit. Doch unter der Regierung des Präsidenten Alfonsín gab es einen Konsens, einen unabhängigen Gerichtshof zu ernennen. Die obersten Richter galten als unabhängige und respektable Persönlichkeiten, sie wurden einstimmig gewählt. Seit der Erweiterung des obersten Gerichtes war es mit der Einigkeit vorbei. Fast täglich gab es Gerüchte über die Parteilichkeit der neuen Mitglieder. Nicht umsonst sinkt die Glaubwürdigkeit des Rechtswesens in den Umfragen. Dies zeigt das fehlende Vertrauen der Bevölkerung in ein System, das zwar langsam zu seinen Entscheidungen kam, aber als würdig und prestigebeladen angesehen wurde.

Menems Intimus zum Präsidenten des Obersten Gerichtshofes ernannt

Es stellt sich die Frage, wie diese Dominanz der Regierung über die richterliche Gewalt einzuschätzen hat. An der Spitze der Gerichte sind Dutzende Regierungsfunktionäre und oft handelt es sich um persönliche Freunde und Familienangehörige des Präsidenten Menem. Die Anklagen über Verwaltungskorruption, Veruntreuung von Geldern und Staatsbetrug häufen sich in Argentinien, ohne daß eine Lösung in einem einzigen Fall in Sicht ist.

Als Carlos Menem 1989 seinen Wahlkampf führte, war er von zwölf ergebenen Freunden umringt, die alle seine Aktivitäten organisierten und ihn auf seinen Reisen durch das Land begleiteten. Im Volksmund waren sie wegen ihrer Treue zu ihrem Herrn als „die zwölf Aposteln“ bekannt. Im Bericht einer Tageszeitung aus Buenos Aires wurden die zwölf zwei Jahre später allesamt der Korruption, der Veruntreuung von Geldern und des Staatsbetruges bezichtigt. Zwar wurden alle Fälle untersucht und angeklagt, doch niemand erhielt eine Strafe. Auch nicht jemer „Apostel“, der verdorbene Milch produzierte und sie an den Staat verkaufte. Diese Milch lieferte er an Kindergärten und staatliche Schulen. Hunderttausende Kinder tranken die verdorbene Milch während mehrerer Monate.

Der derzeitige Innenminister Eduardo Bauzá war in ein aufsehenerregendes Geschäft mit Schulschwämmen verwickelt, die für Grundschüler*innen vorgesehen waren. Am Ende des ersten Regierungsjahres ordnete er kurz vor Beginn des Schuljahres die Verteilung von 1 Million Schwämme an die Kinder im Alter zwischen 6 und 14 Jahren an. Es setzte eine heftige Debatte über die Schwämme ein, denn etliche Details blieben im Dunkeln. Bis heute ist nicht sicher, wieviele Schwämme verteilt wurden, wieviel Steuergelder dafür ausgegeben wurden und ob nicht staatliche Mittel in privaten Kanälen verschwand. Die Angelegenheit fand nach kurzer Zeit ihre letzte Ruhestätte in irgendeinem Gerichtsarchiv.

Das größte internationale Echo fand jedoch ohne Zweifel die Intervention der Regierung in die richterlichen Entscheidungen im Fall von Menems Schwägerin Amira Yoma und ihres Ehemannes Ibrahim Al Ibrahim. Yoma arbeitete als Privatsekretärin des Präsidenten. Ihr Mann, ein ehemaliger Agent des syrischen Geheimdienstes erlangte innerhalb weniger Wochen die argentinische Staatsbürgerschaft und wurde – ohne ein Wort Spanisch zu sprechen – zum Verantwortlichen der Zollabteilung des Internationalen Flughafens von Ezeiza ernannt. Dort schloß er großzügig beide Augen, wenn Drogenhändler kofferweise Narco-Dollars ins Land schleppten, um es in Uruguay zu „waschen“. Ramón Puente, ein Mitglied des Drogenhändlerringes in Calí und momentan in den USA in Haft, schleuste wöchentlich etwa zwei Millionen Dollar im Diplomatengepäck unter den Augen der Zollbehörde ins Land. Mehrmals übernahm Amira Yoma unter den zerstreuten Augen ihres Ehemannes diese Aufgabe. In Uruguay wurde das Geld gewaschen.

Justiz unterwirft sich den Interessen der Regierung

Für den Fall war die Richterin María Servini de Cubría verantwortlich. Sie erhielt beharrlich Besuch von Angestellten des Präsidentenbüros. Am Ende stellte sie das Verfahren ein – aus Mangel an Beweisen. Ibrahim kehrte nach der Scheidung von Amira nach Syrien zurück. Seine ehemalige Frau führt weiterhin ein ruhiges Leben in Argentinien. Diese und ähnliche Fälle lassen die Argentinier*innen am Rechtssystem zweifeln. Eine Einstellung, die nicht leicht zu ändern sein wird. Mit der Ernennung des früheren Präsidenten-Sozius zum Vorsitzenden des Obersten Gerichtshofes wird die Abhängigkeit der Justiz verstärkt.

PARAGUAY

Politische Gewalt und Korruption erschweren den demokratischen

Neubeginn

(Ascunción, 24. November 1994, alai-POONAL).- Den Oktober 1994 werden die Paraguayer*innen in Erinnerung behalten. Es war ein von Gewalt und Unsicherheit geprägter Monat. Auf diejenigen, die die Bürger*innen schützen müßten, ist kein Verlaß. Die Behörden selbst sind auf die eine oder andere Weise für die Situation verantwortlich. Viele Personen, die sich für die Ruhe der Bürger*innen einsetzen sollten, sind in Korruption, Schmuggel und Drogenhandel verwickelt.

Sind staatliche Stellen in den Mord an den obersten Drogenfahnder verwickelt?

Am 10. Oktober kamen General Ramón Rosa Rodríguez und sein Fahrer bei einem Anschlag ums Leben. Rodríguez war Chef der nationalen Anti-Drogenbehörde (SENAD). Obwohl es noch keine Untersuchungsergebnisse gibt, wird spekuliert, daß staatliche Stellen in den Mord verwickelt sein könnten; vielleicht sollte der General, der sich als konsequenter Ermittler gegen den Drogenhandel zahlreiche Feinde gemacht hatte, zum Schweigen gebracht werden. Jedenfalls ist kein Wille erkennbar, das Verbrechen aufzuklären. Weder die Polizei noch die Justiz sind bislang durch besonderen Fleiß bei den Ermittlungen aufgefallen.

Das Fehlen einer ehrenwerten Justiz hatte eine weitere Folge: außer den Militärs und den Gerichten untersuchen noch andere Gremien den Fall. Die Zweikammer-Kommission für Verbrechen (CBI) forscht ebenso wie Oppositionführer*innen und einzelne Parlamentarier*innen. Sie suchen nach neuen Hinweisen, um das berüchtige „opa rei“ zu verhindern (der Ausdruck ist der guaraní- Sprache entlehnt und bedeutet: „das, was im Nichts endet“). Paraguay ist immer angeklagt worden, Durchgangsstation für den Drogenhandel zu sein. Mit dem Tod von Rodríguez kam das Thema der verdeckten Operationen wieder auf den Tisch. Diese bestehen im Drogenankauf durch Agenten der Behörden, die mit der Abschaffung dieses Geschäfts beauftragt sind. Das Ziel dabei ist, am Ende die „dicken Fische“ verhaften zu können.

In Paraguay werden diese Aktionen zusammen mit nordamerikanischen Drogenfahndern unternommen. Dennoch hat es seit Beginn der verdeckten Aktionen keine großen Erfolge gegeben. Mehr noch: es wird hartnäckig behauptet, die Menge der abgekauften Drogen sei größer als in den offiziellen Dokumenten angegeben. Was passiert mit einem Teil der Ware? Die Spekulationen weisen auf die Agenten selbst hin, die den nicht deklarierten Anteil weiterverkaufen. Wenige Tage vor dem Mord am SENAD-Chef strahlte das Fernsehen eine Sendung über eine fehlgeschlagene verdeckte Operation aus dem Jahr 1990 aus. Es wird angenommen, daß die beiden Ereignisse miteinander in Verbindung stehen. Der ehemalige Präsident General Andrés Rodríguez und der frühere SENAD-Chef General Marcial Samaniego wurden von dem Piloten, der die überwachte Ladung Drogen transportierte, schwer belastet. Aufgrund dieser Verdächtigungen wird die Ernsthaftigkeit dieser Aktionen schwer in Zweifel gezogen. Offizielle und Agenten der Nationalen Drogenabteilung (DINAR) und der US-Drogenbekämpfungsbehörde DEA beschuldigen sich gegenseitig, ins Drogengeschäft verwickelt zu sein.

Zornige Proteststimmen versichern, das vom Parlament verabschiedete Gesetz, das die verdeckten Operationen erlaubt, setze die nationale Souveränität aufs Spiel. Die Absicht, den Ruf des Landes im Ausland aufzupolieren, sei keine Rechtfertigung, es als Freizone den Drogenhändler*innen beziehungsweise Drogenbekämpfer*innen zur Verfügung zu stellen. Die paraguayische Demokratie funktioniere, solange die Mächtigen nicht belästigt würden. Und unter diesen Mächtigen, so meinen Kritiker*innen, befinden sich viele, die erhellende Daten über den Mord an General Rodríguez mitteilen könnten.

Ambivalente Rolle der Massenmedien bei der Aufdeckung von Korruptionsskandalen

Die Rolle der Massenmedien bei den letzten Ereignissen war zweischneidig. Zum einen haben sie Informationen recherchiert und aufgedeckt, die wohl nach dem Willen hochrangiger Funktionäre nie ans Tageslicht gekommen wären. Die Korruption auf hoher Ebene stand am Pranger. Im Fall des Generals wurde der Mord aus allen möglichen und unmöglichen Perspektiven beleuchtet, von den „Verdächtigungen“ bis zu den „Verdächtigten“. Alle vorstellbaren Versionen wurden der Öffentlichkeit präsentiert. Ähnlich engagiert zeigte sich die Presse zuvor 1981 nach dem Attentat auf den ehemaligen Diktator Nicaraguas, Anastasio Somoza, und nach dem Staatsstreich von 1989.

Zum anderen trugen die immer neuen Enthüllungen zuweilen aber auch zur Verschleierung der wesentlichen Zusammenhänge bei. Im „opa rei“, im Nichts, versandeten die Versuche, die Fälschung von Dokumenten und Reispässen für Ausländer*innen aufzuklären, wahrscheinlich ein Werk des Innenministers Carlos Podestá und des Direktors der Migrationsbehörde, Augusto Rotela. Das gleiche passierte mit der Klage über Schmiergeldaffären und doppelte Lohnzahlungen in der Nationalen Schiffahrts- und Hafenverwaltung, mit der unberechtigten Kreditvergabe durch die ArbeiterInnen- Nationalbank und mit den ungewöhnlich hohen Rechnungen, die die staatliche Sozialversicherung an Privatsanatorien zahlte – über all diese Skandale wurde der Schleier des Vergessens gedeckt. Insofern war das Attentat ein schrecklicher „Zufall“. Die Medien sind zu einem der Aktivposten der Aufklärung von Korruption geworden. Doch von der Menge der „großen Ereignisse“ wurden sie überrollt. Auf der Jagd nach neuen und sensationsträchtigen Skandalen geraten die alten rasch in Vergessenheit.

Reform der Justiz geht schleppend voran

Unterdessen ist Paraguay weiter auf der Suche nach der Demokratie. Nach mehr als einem Jahr Zivilregierung und dem sogenannten Übergang von der Militärdiktatur zur Demokratie stehen zwei Punkte im Zentrum der Debatte: die Neustrukturierung des Gerichtswesens und die Unterwerfung der Streitkräfte. Im Oktober hat es wenigstens mit der Bildung des Richterrates einen wichtigen Fortschritt gegeben, die zwei noch fehlenden Mitglieder wurden endlich gewählt. Die acht Richter, alles Männer, werden die Kandidat*innen für den Obersten Gerichtshof und die unteren Gerichte vorschlagen. Das heißt: von ihrer unparteiischen und aufrichtigen Arbeit wird abhängen, ob es eine wirksame und unabhängige Justiz im Land geben wird. Trotz zahlreicher Hindernisse, die die regierende Colorado-Partei der Opposition in den Weg legte, um sich die zahlenmäßige Überlegenheit im Richterrat zu sichern, kam es in dem Gremium zu einem Patt. Dies macht Verhandlungen und Vereinbarungen erforderlich.

Während das Gerichtswesen insgesamt den Erneuerungsweg geht, behindert das noch amtierende Oberste Gericht die Trennung von Partei und Militär. Als im Parlament und der Exekutive die Verhandlungsmöglichkeiten erschöpft waren, machte Präsident Wasmosy von seinem Vetorecht Gebraucht. Er wollte so verhindern, daß das Gesetz 261/94 in Kraft tritt. Dieses verbietet den aktiven Militärs und Polizisten die Parteizugehörigkeit. Der Kongreß stimmte für das Gesetz. So fiel die Entscheidung in die Hände des Obersten Gerichtshofes. Die Richter entblößten ihre Parteilichkeit und unterwarfen sich ganz den Interessen der Colorado Partei und der Militärs, sie erklärten das Gesetz für ungültig. Die Streitkräfte werden damit nicht einmal formal unabhängig von den Parteien. In der Praxis sind sie eng mit den „Colorados“ verbunden. Das Gleichgewicht der Staatsgewalten rückte damit wieder in weite Ferne.

NICARAGUA

„Wer gehen will, soll gehen“

– Interview mit Daniel Ortega, Parteichef der sandinistischen FSLN

über die innerparteilichen Auseinandersetzungen (Teil 1)

(Managua, Dezember 1994, Apia-POONAL).- Daniel Ortega reflektiert in einem Interview mit der nicaraguanischen Zeitschrift „El Pais“ die Lage der FSLN und die Auseinandersetzung mit Sergio Ramirez über die Führung der Partei. Wir veröffentlichen das Gespräch in zwei Teilen. Die Übersetzung stammt von Werner Hörtner.

Frage: Viele können den Streit zwischen Daniel Ortega und Sergio Ramírez, die lange Zeit ein nahezu perfektes bildeten, nicht nachvollziehen. Einige glauben gar, die Auseinandersetzung sei nur inszeniert. Was geht tatsächlich vor in der FSLN?

Daniel Ortega: Erstens ist es keine persönliche Auseinandersetzung. Die FSLN befindet sich in einem umfassenenden Restrukturierungsprozeß. Der Konflikt geht ja nicht um die Führung der Partei. Auch Nicaragua erlebt den Neoliberalismus mit all seinen schädlichen Folgen für die Gesellschaft. Von 100 Nicaraguaner*innen leben 70 bis 80 in Armut. Diese Situation spitzt die Klassenwidersprüche zu. Auch wenn dieser Ausdruck heute etwas altmodisch klingt, so gewinnt er an Aktualität, wenn die Kluft zwischen Reichen und Armen immer größer wird.

Frage: Zeigt sich diese Kluft nicht auch innerhalb der Sandinistischen Front?

Ortega: Natürlich. Und darin liegt der hauptsächliche Grund unserer Widersprüche. Als wir an der Regierung waren, gab es eben durch die Macht selbst einen Kohäsionsfaktor, der eine Haltung der Solildarität schuf. Dieses Element half – mehr schlecht als recht und mit allen Fehlern, die wir begangen haben mögen -, die Probleme, unter denen die Bevölkerung litt, zu kompensieren. Heute sieht sich die Solidarität, die ja das Wesen eines revolutionären Projets darstellt, durch den Individualismus negiert, der das Wesen des Neoliberalismus ist. Damit ein Kapitalist immer mehr Kapital anhäuft, muß er ein unerbittlicher Individualist sein. We im Bereich des Sandinismus als UnternehmerIn oder ProduzentIn tätig ist, tritt ebenfalls in diese Dynamik ein. Ind damit steht er im Widerspruch zwischen seinem ethischen Anspruch als RevolutionärIn und seiner Tätigkeit als ProduzentIn.

Frage: Und wie haben Sie persönlich diesen Widerspruch bewältigt?

Ortega: Der besteht nicht darin, Las Colinas zu leben (elegantes Villenviertel etwas außerhalb von Managua, wo Daniel Ortega wohnt; Anm. d. Übersetzers), sondern in Las Colinas zu bleiben. Mein Status ist zweifellos privilegiert. Doch was mache ich damit? Es ist ja nicht dasselbe, ob ich mich von der Bevölkerung entferne und mich dem Gelderwerb widme oder ob ich meine Mittel einsetze, um für ein revolutionäres Proljekt zu arbeiten.

Doktor Virgilio Godoy lebte im Viertel Colonia Centroamérica, als er Univwersitätsprofessor war, später als Minister und auch heute als Vizepräsident. Er ist nie umgezogen. Warum wählten die sandinistischen Führer*innen nicht, wenigstens des Anscheins wegen, einen schlichteren Lebensstandard?

Ortega: Wir sind eben keine Stammtischpolitiker*innen. Doktor Godoy hatte das Privileg, ein Haus zu besitzen, wir nicht. In meiner Familie träumten wir immer davon, auch so ein Häuschen zu besitzen wie die in der Colonia Primero de Mayo. Doch wir hatten nie ein eigenes Haus, mußten immer eines mieten. Trotz aller Anstrengungen starb mein Vater, ohne ein eigenes Haus erarbeitet zu haben. Ich respektiere den Doktor Godoy wegen seines politischen Engagements, denn er war ein antisomozistischer Kämpfer, aber wir traten in die Guerilla ein. Der Untergrund, das Gefängnis, das war unser Engagement. Wir hatten keine Zeit, um an eine Familie zu denken. Das erklärt, warum wir später jene Maßnahmen bezüglich der Nutzung von Wohnungen ergriffen haben. Das Haus, in dem ich wohne, habe ich zuerst gemietet. Später kam ich erfuhr, daß es mit zwei Hypotheken belastet war, und es ging in das Eigentum der Bank über. Dann habe ich den Besitz zum damaligen Wert gekauft. Damals konnte man mit relativ wenig Geld Immobilien erwerben, da sie ziemlich entwertet waren.

(Anmerkung des Interviewers: Daniel Ortega hat die Gabe, auf natürliche Art zu schweigen. Die Frage nach gewissen „Extravaganzen“ von einigen Comandantes – ein Funktionär zum Beispiel besitzt allein neun Privatautos – hörte er aufmerksam an, antwortete aber mit keinem Wort darauf. So kam ich wieder zum Anfangsthema:)

Frage: Was ist nun die Ursache der Auseinandersetzung mit Ramírez' „Movimiento de Renovación Sandinista“ (MRS)?

Ortega: Das hat mit den Veränderungen, die sich im Land ergeben haben, und mit diesen Widersprüchen im Innern der Partei zu tuen. Und auch stark mit den kommenden Wahlen. Was nun den Vorschlag von Veränderungen im Sandinismus betrifft, so kann ich mich erinnern, daß zur gegebenen Zeit Mitglieder der Nationalen Führung selbst die Erneuerung anführten. Als wir dann an der Regierung waren, haben wir – und ich selbst stand fest dahinter – eine Politik der Offenheit verfolgt, die vielen Minister*innen nicht gefallen hat. In „La Voz de Nicaragua“, einem staatlichen Sender, haben wir ein Programm der Mitsprache eingerichtet, in dessen Rahmen die Leute anrufen und Beschwerden vorbringen konnten. Da waren viele Minister*innen entrüstet. Manchmal war die Kritik übertrieben und zu hart, aber die Öffnung an sich hatte einen guten Effekt und brachte diesem Staatssender die größte Zuhörerschaft aller Stationen des Landes ein. Auch sl wir die „Cara al Pueblo“ einführten (öffentliche Diskussionsrunden mit Regierungsvertreter*innen, Anm. d. Ü.), stieß ich auf den Widerstand vieler Minister. Das störte sie, ermüdete sie – und sie nahmen die Leute nicht ernst. „Komm, stell das wieder ein!“ sagten sie zu mir. Und heute sind dieselben Herrschaften große Demokrat*innen und Verteidiger*innen der Meinugsfreiheit, doch ich erinnere mich gut daran, daß sie die Stimme des Volkes nicht gerne hörten. Und diese Haltung lebt auch heute nocht weiter: auch wenn eine demokratische Diskussion entsteht, wollen sie nicht auf die Basis hören.

Frage: Eigentlich sind sich die Entwürfe der „Izquierda Democrática“ und des MRS sehr ähnlich. Warum enstann sich dann so ein heftiger Streit?

Ortega: Zuerst einmal möchte ich feststellen, daß es in der Sandinistischen Front keine „Demokratische Linke“ gibt. Es gibt die Sandinistische Front, und nichts weiter. Die „Demokratische Linke“ war ein Ausdruck, der vor dem letzten Parteikongreß entstand und dessen Anhänger*innen aausdrücken wollten, daß sie gegen die Strömungen waren. Die „Erneuerungsbewegung“ (MRS) jedoch hat dieses Thema aufgegriffen, was vom Kongreß zurückgewiesen wurde. Einige Compañeros und Compañeras möchten die innere Demokratie des Sandinismus nicht wahrhaben. Sie sprachen davon, sich von der Frente zu lösen und eine andere Partei zu gründen. Und genau hier zeigt sich ein Unterschied. In dieser „Erneuerungsbewegung“ finden sich widersprüchliche Interessen und Positionen. Offenbar steht die Frage der Wahlen und die Bildung einer „Zentrumsalternative“ im Vordergrund.

Frage: Ist es möglich, daß Sergie Ramírez aus der Frente ausgeschlossen wird?

Ortega: Ich wäre dagegen. In der Sandinistischen Versammlung gibt es Compañeros und Compañeras, die den Ausschluß vorschlagen, doch meiner Meinung nach ist es am besten, vorauszublicken, zusammenzuhalten und diese Diskussionen beiseite zu schieben. Diejenigen, die gehen wollen, sollen gehen! Das ist ihr gutes Recht, ihre politische Willensäußerung. Wir werden ihnen keine Märtyrerkrone aufsetzen.

Frage: Welchen Eindruck haben Sie von Sergio Ramírez, als Sie ihn kennenlernten?

Ortega: Das war 1977. Ich lernte damals eine ganze Gruppe von Compañeros und Compañeras kennen, darunter waren Sergio, Fernando Cardenal und Miguel D'Escoto. In ihrer Gesamtheit – und nicht so sehr als Einzelwesen – schätzten wir diese Compañeros und Compañeras als Nicaguaner*innen, die sich sehr stark für das revolutionäre Projekt engagierten.

Frage: Wer hat Sergio Ramírez als Mitglied der Regierungsjunta und später als Vizepräsident vorgeschlagen?

Ortega: Das war ich. Das war eine vertikale Entscheidung. In dieser Zeit waren wir Vertikalist*innen. Einige waren nicht einverstanden, aber ich habe Sergio unterstützt. Bei den Wahlen von 1984 war ich dafür, daß Sergio für das Amt des Vizepräsidenten kandidiert, und 1990 ebenfalls. Er hatte in der sandinistischen Regierung viel Macht. Er war Vizepräsident mit außergewähnlichen Funktionen – ganz logisch, denn wir vertrauten ihm. Und er war auch mit allem, was wir machten, einverstanden.

Frage: Und wie würden Sie Sergio Ramírez heute charakterisieren?

(Ein langes Schweigen, und dann antwortet Daniel Ortega mit einem ausdruckslosen Ton, der nicht sehr glaubwürdig klingt): Ein Compañero, auf den wir viele Jahre zählen konnten. Er hat seinen Beitrag zum Sandinismus geleistet, aber nachh der Wahlniederlage hat sich entschieden, seinen eigenen Weg zu gehen. So eine Situation wie diese ist immer unangenehm, doch es handelt sich um ein Phänomen, das nicht neu ist. Und somit ist es auch keine Tragödie.

Frage: Doch Sergio Ramírez war nicht nur Ihr Kollege, sondern auch ein Compañero und Freund. Wie bewältigen Sie gefühlsmäßig die entstandene Distanzierung?

Ortega: Ich hatte viele Compañeros und Compañeras, so viele … Es gibt auch noch Compañeros und Compañeras, die ich noch länger kenne als Sergio. (Die Antwort kommt sehr langsam und stockend, aber bestimmt, Anm. d. Interviewers)

Frage: Erscheint Ihnen eine Wiederannäherung möglich?

Ortega: Wir können die Trennung nicht fatalistisch hinnehmen, wir müssen immer für die Einheit kämpfen

KUBA

„Die wirtschaftliche Krise hat den Tiefpunkt erreicht“

– Interview mit Luis Aparicio Cruz von Kubanischen Vereinigungen der

Wirtschaftswissenschaftler*innen

(Havanna, Dezember 1994, prensa latina-POONAL).-

Was ist für Sie das bedeutendste Problem der kubanischen Wirtschaft?

Die Suche nach der Effizienz in unserem Unternehmensbereich.

Warum?

Weil dort das Vermögen produziert wird.

Und wie soll diese Effizienz erreicht werden?

Kuba hat in all diesen Jahren eine Industrie entwickelt. Wir beginnen nicht bei Null. Allerdings muß sie den aktuellen Bedingungen angepasst, modernisiert und mit einer wirkungsvollen Technik ausgerüstet werden. Sie muß den Bedürfnissen und Anforderungen des Weltmarktes entsprechen. Das geschieht schon.

Sie sprechen von Hoffnung und Optimismus. Worauf beruht dies?

Auf dem Fundament, das die Revolution gegründet hat, um den Absprung zu schaffen.

Den Absprung?

Ja. Wenn unsere Krise noch nicht den Tiefpunkt erreicht hat, so ist sie meiner Meinung jedoch kurz davor. Wenn wir diesen Punkt überschritten haben, dann wird unsere Wirtschaft in einer ersten Phase vielleicht nicht quantitativ wachsen, aber qualitativ auf ein höheres Niveau kommen. Einige Daten zum erwähnten Fundament: Ende 1993 hatte jeder/r dreizehnte kubanische ArbeiterIn einen akademischen Abschluß, jede/r sechste ist eine Fachkraft. Die durchschnittliche Schulbildung beträgt neun Jahre. Das ist ein sozialer Erfolg der Revolution, aber es bedeutet gleichzeitig für die Wirtschaft, daß wir mit die am besten ausgebildeten Arbeitskräfte auf dem Kontinent haben. Wir können uns Technologien unter besseren Bedingungen als jedes andere Land der Dritten Welt aneignen. Unsere Bevölkerung ist jung und gesund. Das Durchschnittsalter ist 33 Jahre und das Bevölkerungswachstum stellt keine Bedrohung dar. Wir haben weder 35, 30 noch 10 Jahre verloren, wie manchmal gesagt wird. Wir haben eine vollständige Infrastruktur.

Und das Embargo?

Es erschwert uns Kredite, Rohstoffe, usw. Aber ich glaube, auch mit Embargo können wir zum Absprung beitragen, wenn wir mehr Effizienz und Rationalisierung erreichen.

Über den Markt wird gestritten. Es gibt Erwartungen, Zweifel, Vorbehalte…

Marktwirtschaft und Markt in der Wirtschaft, das ist nicht dasselbe. Die Kapitalisten haben sich den Begriff angeeignet und nennen den Kapitalismus Marktwirtschaft, aber er ist weder zwingend noch wesentlich für die Marktwirtschaft. Die Veränderungen die wir schon unternommen haben werden uns zu einem notwendigen Markt hinführen. Unser Binnenmarkt muß sich entwickeln, ohne daß wir fürchten, daß er vom Sozialismus wegführt.

Welche Aufgaben kommen auf die Ökonom*innen in praktischer Hinsicht zu?

Wir müssen mit Argumenten, nicht mit Rechtfertigungen die Maßnahmen erklären. Sie tuen unserem Geldbeutel genauso weh wie den übrigen, nur kennen wir die Ursachen etwas besser. Wir müssen den Ruf nach Information befriedigen. Es ist die Stunde gekommen, die Handbücher an die Seite zu legen und sie gegen Kreativität und die neuesten Technologien einzutauschen, die unseren Bedingungen entsprechen. Wir müssen mit unserem eigenen Kopf denken.

ECUADOR

Jedes Wochenende im Alkoholrausch

– Von Consuelo Albornoz Tinajero

(Quito, November 1994, sem-POONAL).- Der populärste Heilige in Ecuador hat nichts mit Religion zu tun. Für die Ecuadorianer*innen ist es „San Viernes“ (Heiliger Freitag). Dieser Heilige steht für eine Feier, die für viele bereits Donnerstagnacht beginnt und sich manchmal bis Montagmorgen hinzieht. Festorte sind die Bars, Diskotheken, Parks und Straßen. Gefeiert wird mit Alkohol. Die Gläubigen sind in ihrer Mehrheit Männer jeglichen Alters und aus allen sozialen Klassen. Die Glaubensgegner*innen sind fast ausschließlich die Frauen.

Alkohol verringert die Produktivität um sieben Prozent

In der Hauptstadt Quito ist der Alkoholmißbrauch besonders groß. Der „San Viernes“ wird sogar als „Reinigung“ gerechtfertigt. Die Kehrseite: Am Wochenende geschehen die meisten Unfälle im Land. In jedem fünften Fall ist Trunkenheit am Steuer die Ursache. In den ersten neun Monaten dieses Jahres kamen bei Straßenunfällen etwa 1.000 Menschen ums Leben. Eigentlich gelten die Ecuadoreaner*innen nicht als alkoholabhängig. Doch mit 3,16 Litern Branntweinverbrauch pro Kopf und Jahr liegen sie über dem weltweiten Durchschnitt von 2,5 Litern. Mitarbeiter*innen des Gesundheitsministerium schätzen, daß jeder dreizehnte Erwachsene im Land AlkoholikerIn ist. Das sind knapp eine halbe Million Menschen. Die dadurch verursachte Abwesenheit, die geringere Arbeitsproduktivität und der Arbeitsplatzverlust sollen das Bruttosozialprodukt um mehr als sieben Prozent verringern. Der Alkoholgenuß ist landesweite Praxis und in allen Gesellschaftsschichten zu finden. Nur die Marke des Likörs und der Ort des Trinkgelages wechseln. Und in Guayaquil hat „San Viernes“ im Gegensatz zu Quito auch den Segen der Frauen.

Besondere Bedeutung scheint der Heilige Freitag bei bestimmten Gruppen von Büroangestellten zu haben. Mittags beginnen sie mit einigen Bierchen, um den Ärger vom Donnerstag herunterzuspülen. Am Abend sind sie bereits betrunken und haben ihre Persönlichkeitsstruktur verändert. Die ganze Woche über unterdrückt und machtlos, erleben sie im „San Viernes“ eine Art Wiederauferstehung. Für viele Jugendliche nimmt der Tag ebenso eine wichtige Bedeutung an. Bis jetzt haben weder die wirtschaftliche Krise, noch die Konjunkturschwankungen oder der Gott des Neoliberalismus den „San Viernes“ besiegen können.

URUGUAY

Erfolgreiches Haussanierungsprojekt

– Von Cristina Canoura

(Montevideo, November 1994, sem-POONAL).- Die Abkürzung PRETYL steht für „Palermo recycelt, arbeitet und kämpft“. Sie bezeichnet das erste Wohnungsbauprojekt in Uruaguay, das nach dem Prinzip von Selbstverwaltung und gegenseitiger Hilfe funktioniert. Nach etwas mehr als einjähriger Arbeit konnten jetzt die ersten acht Familien mit niedrigem Einkommen in ihre eigene Wohnung einziehen. Die Mitglieder von PRETYL glauben an eine neue und erfolgreiche Möglichkeit, die Wohnungsbedürfnisse von Familien befriedigen zu können, deren Einkommen unterhalb von fünf Mindestlöhnen liegt (der monatliche Mindestlohn beträgt in Uruguay 90 US-Dollar).

Stadtverwaltung unterstützt das Sanierungsprojekt

Das „Recycling“ alter Häuser, um sie in mehrere Appartments umzuwandeln, wird seit mehreren Jahren in Montevideos Innenstadtvierteln praktiziert. Doch normalerweise sind Familien mit mittlerem Einkommen damit beschäftigt. Der Stadtteil Palermo, wo PRETYL arbeitet, liegt im Süden der Hauptstadt. Das architektonische Gesicht Montevideos hat sich in den vergangenen Jahrzehnten rapide geändert. Seit Anfang der 80er Jahre sind viele der alten Herrenhäuser und Villen aus der Zeit um die Jahrhundertwende durch Appartmenttürme für die Mittel- und Oberklasse ersetzt worden. Die Bevölkerungsschichten mit geringerem Einkommen wurden dagegen aus den zentral gelegenen Zonen verdrängt. Ohne Möglichkeit, die steigenden Mieten bezahlen zu können, wurden viele Familien aus ihren Wohnungen gejagt. Ihr Schicksal sind die „Pensionen“ oder kärgliche Wohnungen am Stadtrand.

Die Stadtverwaltung von Montevideo gab PRETYL einen Kredit von 70.000 Dollar für den Kauf der Häuser und weitere 160.000 Dollar für die Baumaterialien. Sie zahlte den Lohn für einen Meister und einen Maurer sowie die Beratung durch das Genossenschaftszentrum Uruguays, eine Nicht-Regierungsorganisation. Das Geld muß in Monatsraten von 140 Dollar in den kommenden 25 Jahren zurückgezahlt werden. Es soll für einen Fonds verwendet werden, der für ähnliche Unternehmungen gedacht ist. Die Monatsrate ist geringer als die Miete, die zur Zeit für ein Zimmer in einer Pension gezahlt wird – ohne daß das Bad mit mehreren Familien geteilt werden muß und Kinder unerwünscht sind. Bis PRETYL sie vom Gegenteil überzeugte, bezeichneten die Expert*innen das „Hausrecyceln“ als eine zu teure Lösung für das Wohnungsproblem der Familien mit geringem Einkommen.

GUATEMALA

Unternehmen kritisieren neues Steuergesetz

(Guatemala, 15. Dezember 1994, NG-POONAL).- Der Unternehmerdachverband CACIF wendet sich scharf gegen die neu eingeführte Rechtsfigur des Steuerbetruges und spricht in diesem Zusammenhang von „Steuerterrorismus“. Der guatemaltekische Kongreß hatte zuvor ein entsprechendes Gesetz verabschiedet. CACIF- Vorsitzender Juan José Gutiérrez hält das Gesetz für unklar, subjektiv geprägt und mit Formfehlern behaftet. Der persönliche Ermessensspielraum für die Prüfer*innen des Finanzministeriums sei zu groß. Der CACIF behält sich laut Gutiérrez vor, gegen das Gesetz und weitere Steuerreformen vorzugehen. Guatemala gehört zu den Ländern, in denen im Verhältnis zum Einkommen die wenigsten Steuern gezahlt werden.

Witwenverband zweifelt an den Friedensverhandlungen

(Guatemala, 15. Dezember 1994, cerigua-POONAL).- Fermina López aus der Führung der Nationalen Koordination der Witwen Guatemalas (CONAVIGUA) bezweifelt, daß Regierung, Armee und Guerilla zum Thema „Identität und Rechte der Indígenas“ ein Abkommen unterschreiben werden, das auch die Interessen der Bevölkerung wiederspiegelt. Die Verhandlungsparteien versuchen schon seit Wochen eine Einigung zu erzielen. López verglich die aktuellen Probleme des Mayavolkes mit einem „vierten Holocaust“. Der erste sei die spanische Invasion gewesen, der zweite 1954 nach dem Sturz der demokratischen Regierung und der dritte in den 80er Jahren, zur Zeit der großen Massaker, die die Armee begang.

Zu dem derzeitigen Verhandlungsthema der Kriegsparteien merkte das CONAVIGUA-Mitglied an, es sei „nicht als Teil des bewaffneten Konfliktes entstanden, sondern Bestandteil der Bedürfnisse und Rechte der Indígenas“. Für die Mayabevölkerung stehe zudem nicht im Vordergrund, daß die Parteien eine Feuerpause erreichten. Es müsse vielmehr endgültig Schluß sein mit „Einschüchterungen, Marginalisierungen und jeder Art diskriminierenden Vorgehens gegen die Indígenas“.

Militär kündigt Massenrekrutierung an

(Guatemala, 13. Dezember 1994, cerigua-POONAL).- Im nächsten Jahr könnten etwa 10.000 Jugendliche zum Militärdienst eingezogen werden. Dies erklärte der stellvertretende Verteidigungsminister, General Julio Otzoy. Er wies darauf hin, in letzten Drittel dieses Jahres habe es keine Rekrutierungen gegeben. Dies müße im folgenden Zeitraum kompensiert werden. Zur Zeit verfügen die Streitkräfte über ungefähr 65.000 Soldaten. Auf Druck von Volks- und Menschenrechtsorganisationen mußte die Armee ihre Praxis der zwangsweisen Rekrutierung unter den Indígenas zeitweise einstellen.

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