Poonal Nr. 160

Deutsche Ausgabe des wöchentlichen Pressedienstes lateinamerikanischer Agenturen Nr. 160 vom 13.09.1994

Inhalt


GUATEMALA

GUATEMALA/MEXICO

HAITI

INTERNATIONALE ENTWICKLUNG

KUBA

NICARAGUA

* Mirna Cunningham ist Abgeordnete der Sandinisten für die Region


GUATEMALA

Provinzchef der Nationalpolizei abgesetzt

(Guatemala, 9. September 1994, NG-POONAL).- Der Bereichschef der Nationalpolizei der Provinz Quetzaltenango, Reyes, wurde auf Weisung des guatemaltekischen Präsidenten Ramiro De Leon Carpio abgesetzt. Grund sind die Vorkommnisse auf der Finca El Ceibal am 12. August. Damals räumte die Nationalpolizei auf brutale Art und Weise das von Campesinos besetzte Gelände. Zwei Campesinos kamen ums Leben und es gab viele Verletzte. Der Menschenrechtsbeauftragte Jorge García hatte sowohl die Absetzung des Provinzchefs als auch des Chefs der Nationalpolizei, Salvador Figueroa, gefordert. Obwohl der Präsident öffentlich sagte, über die Empfehlungen von García werde nicht diskutiert, sie würden befolgt, weigerte sich der Innenminister in einer Pressekonferenz, auch Figueroa zu entlassen. Die offizielle Begründung für die Absetzung von Reyes lautet, dieser habe sich nicht an die vorgesehenen Richtlinien bei dem Polizeieinsatz gehalten und daher seine Arbeit nicht erfüllt.

Campesinos halten zehn Fincas besetzt

(Guatemala, 8. September 1994, NG-POONAL).- Die guatemaltekischen Campesinos und ihre Familien unterstreichen nach wie vor mit Plantagenbesetzungen ihre Forderungen nach eigenem Land und höheren Löhnen. Gewerkschaftsführer*innen informierten darüber, daß in verschiedenen Provinzen des Landes insgesamt zehn Fincas besetzt sind. In einigen Fällen bestehen die Konflikte fort, weil die Großgrundbesitzer nicht einmal die vom Gesetz vorgeschriebenen Löhne zahlen und keine gewerkschaftliche Organisierung der Arbeiter*innen erlauben.

GUATEMALA/MEXICO

Widerstand gegen Rückkehr der Flüchtlinge – schwierige Situation

in Mexiko

(Guatemala, 9. September 1994, cerigua-POONAL).- Der Direktor der Staatlichen Kommission für Repatriierte (CEAR), Mauricio Rodríguez, hat sich gegen die Rückkehr von 345 Flüchtlingsfamilien auf die Finca San Cayetano in der Provinz Huehuetenango ausgesprochen. Die noch in Mexiko lebenden Familien haben sich diesen Ort für die Wiederansiedlung in Guatemala ausgesucht. Laut Rodríguez würde der Kauf der Finca jedoch für die CEAR zu kostspielig. Der verlangte Preis betrage 40 Millionen Quetzales (etwa 7 Millionen Dollar), der Gesamtetat der staatlichen Kommission jedoch nur 62 Millionen Quetzales.

Unterdessen kündigten das Flüchtlingskomissariat der Vereinten Nationen (ACNUR) und die mexikanische Flüchtlingskommission (COMAR) im mexikanischen Bundesstaat Quintana Roo ein Notprogramm für dreihundert Familien an. Diese verloren aufgrund einer andauernden Trockenheit ihre Ernten. In Kürze sollen ihnen über das Welternährungsprogramm insgesamt 151 Tonnen Lebensmittel (Mais, Bohnen und Getreide) zur Verfügung gestellt werden. Außerdem soll es billige Kredite für die Campesinos geben, damit sie Saatgut und Dünger für einen erneuten Anbau kaufen können.

Die Ständigen Kommissionen (CCPP) der guatemaltekischen Flüchtlinge in Mexiko informierten über eine besonders kritische Situation in vier Flüchtlingslagern in Quintana Roo. Falls es keine schnelle Hilfe gebe, würden die Menschen um jeden Preis nach Guatemala zurückkehren. Trotz der Zusage des guatemaltekischen Konsuls in Chetumal, Quintana Roo, sich um Hilfe zu kümmern, habe es von der guatemaltekischen Regierung keine Unterstützung gegeben.

HAITI

Regierung erläßt verzweifelte Wirtschaftsmaßnahmen

(Port-au-Prince, 10. September 1994, hib-POONAL).- Angesichts der desolaten Wirtschaftslage kündigte das illegale Regime in den vergangenen Tagen eine Reihe von Maßnahmen an, die „das Überleben der Bevölkerung garantieren, die hohen Lebenshaltungskosten bekämpfen und das Schwanken des Wechselkurses stoppen“ sollen. Die neuen Pläne müssen als Farce erscheinen. Das Regime hat weder die finanziellen noch institutionellen Kapazitäten, sie durchzusetzen. Selbst die Geschäfts- und Finanzgruppen, die eigentlichen Verbündeten des Regimes, ignorieren bis heute die neuen Wirtschaftsprogramme. Hier wird der illusorische Charakter besonders deutlich.

Zwar scheint sich der Wert der einheimischen Währung bei 18 bis 20 Gourdes pro Dollar (d.h., etwa 5 bis 5,5 Cent pro Gourdes) stabilisiert zu haben, doch wird bald eine erneute Abwertung erwartet. In dem Versuch, den Wechselkurs zu kontrollieren, befahl das Regime: – alle Geldtransferinstitute „sind verpflichtet, in Gourdes zu bezahlen, zu dem von der Zentralbank täglich ausgegebenen Wechselkurs“;

– SOGERCARTE (eine mit VISA verbundene Organisation, die eine Kreditkarte herausgibt) „darf keine neün Karten ausgeben oder die Kreditlinien für bereits ausgegebene Karten erhöhen“. SOGERCARTE muß außerdem eine Liste aller Karteninhaber bereitstellen;

– „Wirtschaftsagenten, die in mißbräuchlicher Weise auf dem Devisenmarkt intervenieren, werden identifiziert und es werden geeignete Maßnahmen unternommen.“ Den Importeuren wurde befohlen, jede Dollareinnahme zu melden. Für den Fall, daß der Wechselkurs mehr als drei bis fünf Prozent am Tag steigt und „übermäßige Spannungen“ schafft, ist die Schließung des Devisenmarktes (bestehend aus Privatbanken, Wechselstuben und hunderten Geldwechslern in den Strassen) angekündigt.

„Alle Operationen gehen wie gewöhnlich weiter“ Paradoxerweise wurden die Maßnahmen von einem Regime ausgearbeitet, das keine Gelegenheit ausläßt, seinen Glauben in den Neoliberalismus zu bezeugen. Die Begrenzung der umlaufenden Geldmenge und der Kredite ist ein Weg, die Inflation zu kontrollieren. Indem jedoch die wahren Ursachen – die Geldemission und das Ansteigen der Staatsausgaben bei einer steil abfallenden Produktion – nicht beachtet werden, ändern die Maßnahmen nichts. Geldinstitute berichten, sie würden soweit möglich, ihren Kunden immer noch Dollar auszahlen und das zu einem Wechselkurs, den sie festlegen. SOGERCARTE startete eine Öffentlichkeitskampagne in den Zeitung und im Radio, „um alle Verwirrung aufzuklären“, die Operationen würden „wie gewöhnlich weitergehen“.

Das Regime kündigte ebenfalls an, 100 Millionen Gourdes auszugeben, um die Preise zu senken und das Bildungswesen, landwirtschaftliche und bedürftige Gruppen zu unterstützen. Es wolle mit den Importeuren einen Weg verhandeln, die Preise zu drücken. Schulbücher, der Unterricht für 25.000 Kinder, Lebensmittel, Baumaterial, Treibstoff, Medizin und Saatgut sollen subventioniert werden. Weiter wurde das Säubern von Bewässerungskanälen, die Fortbildung von Farmer*innen und die Wasserverteilung angekündigt. Auf der Einnahmenseite ist eine Erhöhung um 15 bis 20 Millionen Gourdes pro Monat geplant. Vorgesehen sind Eigentumssteuern, erhöhte Zollgebühren sowie ein Einfrieren der öffentlichen Löhne und weniger Unterstützung für die Lokalregierungen.

Die Veränderungen haben keine Chance, durch die derzeitige Verwaltung, die von der Korruption unterwandert ist, befolgt zu werden. Ebenso ist es illusorisch, anzunehmen, das Regime würde Wirtschaftsmaßnahmen fördern, die die Gewinne der Zement- und Rohstoffimporteure beschneiden könnten. Gerade dieser Wirtschaftsbereich hat immer den Putsch unterstützt. Armee und Regierung zählen immer noch auf sie. Die steigenden . Lebensmittel- und Treibstoffpreise beweisen, daß die Rhetorik bis jetzt wenig Wirkung gezeigt hat.

Trauerfeier für Pater Vincent

(Port-au-Prince, 7. September 1994, hib-POONAL).- Trotz der Angst vor einem erneuten Anschlag während des Begräbnisses nahmen am 2. September 2.000 Menschen an der dreistündigen Trauerfeier für den am 28. August ermordeten Pater Jean Marie Vincent teil. Lastwagen mit schwerbewaffneten Soldaten und die paramilitärischen Attachés patrouillierten auf der Strasse, während die Menschen die Kirche St. Louis und den Pfarrhof füllten.

Unter den etwa 100 der Messe beiwohnenden Priestern befanden sich erstaunlicherweise auch der besonders reaktionäre päpstliche Nuntius und sechs Bischöfe der Kirchenhierachie. Darunter Bischof Fritz Colimon, der direkt mit dem Massaker von Jean-Rabel in Verbindung gebracht wird. Diese Kirchenhierachen unterstützten offen den Putsch und unterstützen nach wie vor das Putsch-Regime. Sie arbeiteten gegen Pater Vincent, gegen Jean-Bertrand Aristide und andere Priester und Nonnen in der Demokratiebewegung.

Weitere Trauergäste waren Diplomat*innen und Abgeordnete, der Bürgermeister von Port-au-Prince, Paul Evans, der frühere Premierminister Robert Malval sowie Dutzende einheimischer und ausländischer Journalist*innen. Die vielleicht eindrucksvollsten Trauergäste waren die, die direkt die Arbeit von Pater Vincent erlebten und die ihn während der Messe beweinten. An einem Punkt der Feier drängte die Menge auf den Sarg zu und schien in einem Protestmarsch auf die Strasse ziehen zu wollen. Die Menschen riefen „Gerechtigkeit für Jean-Marie! Gerechtigkeit für das haitianische Volk!“ Trotz Trauer und Emotionen blieben sie jedoch in der Kirche.

In seiner Predigt sprach Vincents Ordensbruder Alphonse Quesnel von „einem weiteren Opfer des Staatsterrors. Die, die den Mord an unserem Bruder Jean-Marie planten und durchführten, haben einen schweren Fehler begangen. Er wird lebendig bleiben und sein Blut wird an allen Gerichten der Welt nach Gerechtigkeit schreien. Die Opfer zählen Tausende. Die Mörder laufen frei herum. Es wird Zeit, daß die Verbrecher verfolgt werden und daß dieser Mord den Menschen Haitis am Ende Gerechtigkeit und Frieden bringt.“ Jean- Marie Vincent wurde auf dem Grundstück der Padres vom Montfortain- Orden beerdigt.

Schockierende Armut

(Cap-Haitien, 6. September 1994, hib-POONAL).- Nach einem 120 Kilometer langen Fußmarsch erreichten 30 völlig mittellose Menschen die Stadt Cap-Haitien. Die Gruppe kam aus Derac, einem Ort aus der von Trockenheit heimgesuchten Nordost-Provinz nahe der Grenze zur Dominikanischen Republik. Die Leute berichteten, in ihrem Ort seien viele Einwohner*innen gestorben.

Ein Journalist berichtete: „Die Mehrheit hatte ein- oder zweijährige Babys bei sich. Es war ein absolut trauriges Bild. Viele Bewohner*innen Cap-Haitiens näherten sich ihnen und fragten nach ihrer Gesundheit, andere halfen direkt.“ Nach den Angaben des Reporters wuchs die Menschenmenge an. Im Gespräch untereinander begannen die Leute, die Armee für die Zerstörung des Landes verantwortlich zu machen. Aus Angst, die Menge könne feindselig werden, hätten die Soldaten die Flüchtlinge in einen Schlafsaal geschickt.

Attentat auf Anwalt

(Port-au-Prince, 8. September 1994, hib-POONAL).- Auf den Treppenstufen zum Gerichtsgebäude erschossen zwei bewaffnete Männer den 32jährigen Anwalt Charles Jean-Baptiste. Er gehörte einer Anwaltskanzlei an, die die Putsch-Regierung unterstützt hatte. Schon oft hatte die Kanzlei gerade in Drogen- und Schmuggelfällen die Verteidigung übernommen. Die Nationale Anwaltsvereinigung äußerte sich „erschüttert“ über das Attentat und nannte die Namen von vier weiteren Anwälten, die unter ähnlichen Umständen ermordet wurden. Ihr Tod wurde nie untersucht.

INTERNATIONALE ENTWICKLUNG

Kein Weg, die Weltbank zu humanisieren

– Von Pierre Galand, Vorsitzender von Oxfam-Belgien

(8. August 1994, alai-POONAL).- Als die Weltbank meinte, es sei dienlich, sich den Nicht-Regierungsorganisationen (NGO) anzunähern, schaffte sie in ihrem Innern eine NGO-Arbeitsgruppe. Pierre Galand, Vorsitzender von Oxfam-Belgien, war eines der Mitglieder dieser Instanz. Vor kurzem verließ er sie der „Ehrbarkeit“ wegen. In seinem Rücktrittsbrief kritisiert er die Verfahrensweisen und die Politik der internationalen Finanzorganisation hart:

„Am Vorabend des 50. Geburtstages der Vereinten Nationen und der durch die Abkommen von Bretton Woods geschaffenen Institutionen möchte ich meinen Rücktritt aus der Arbeitsgruppe der NGOs der Weltbank und seines Initiativenkomitees bekanntgeben. Ich treffe diese Entscheidung aus Gründen der intellektuellen Ehrbarkeit und wegen des Anstandes, den ich vielen Freund*innen in der Dritten Welt schulde, mit denen ich gearbeitet habe. Nachdem ich während der vergangenen drei Jahre die Gelegenheit hatte, das Verhalten der Weltbank zu beobachten, schließe ich mich einigen meiner Kolleginnen aus den NGOs an, die glauben, der einzige Weg zur Gerechtigkeit und zum Zusammenleben der Völker dieser Erde sei die Abtrünnigkeit.

„Die von der Weltbank verschriebenen Mittel sind vergiftete Medikamente“

Ich hatte die Hoffnung, durch eine so direkte Zusammenarbeit mit der Arbeitsgruppe der NGOs innerhalb der Weltbank würden wir Schritte für eine gemeinsame Verantwortung gegenüber dem Schicksal der weniger wohlhabenden Völker der Welt entwickeln. Dies war nicht so: Die Armut steigt, der Hunger tötet – sicher mehr als die Kriege -; die Zahl der Menschen ohne medizinische Versorgung, der jugendlichen Analphabeten, der Obdachlosen erhöht sich täglich und erreicht nie dagewesene Zahlen. Die von der Weltbank verschriebenen Mittel für die Entwicklung sind vergiftete Medikamente, die die Probleme verschärfen. In meiner Seele und in meinem Bewußtsein fühle ich die Verpflichtung, zu sagen: Es reicht! Sie haben sich die Diskurse der NGOs über die Entwicklung, über die ökologische Zerstörung, über die Armut und über die Bevölkerungsbeteiligung angeeignet. Gleichzeitig fördern Sie eine strukturelle Anpassungspolitik, die das „Sozialdumping“ in den Ländern des Südens verschärft. Diese werden gegenüber der Willkür des Weltmarktes völlig alleine und wehrlos gelassen.

Die transnationalen Unternehmen kommen in den Süden, weil Sie und Ihre Kolleg*innen des Internationalen Währungsfonds die Bedingungen geschaffen haben, um zu den geringsten sozialen Kosten zu produzieren. Die gemeinsame Intervention von Weltbank und Internationalem Währungsfonds bedeutet einen wachsenden Druck auf die Wirtschaften, damit sie immer wettbewerbsfähiger werden und jedes Mal besser ihre Funktion erfüllen. Dieses Ziel wird nur mit dem unaufhörlichen Druck erreicht, den Sie auf die Regierungen ausüben, damit diese bei den als sehr teuer angesehenen Sozialleistungen sparen und sie reduzieren.

„Die Weltbank hat eine nie zuvor gesehene Macht, in die internen Dinge der Nationen zu intervenieren“

Aus ihrer Perspektive sind nur jene Regierungen gute Regierungen, die es akzeptieren, ihre Wirtschaft gegenüber den Interessen der multinationalen Unternehmen und den allmächtigen internationalen Finanzierungsgruppen zu prostituieren. Die Weltbank ist eine internationale Institution, die für die Entwicklung in der ganzen Welt verantwortlich ist. Es ist auch eine Institution, die jedesmal arroganter agiert. Sie hat die niemals zuvor in der Geschichte gesehene Macht, in den internationalen Angelegenheiten und in den internen Dingen der Nationen zu intervenieren. Sie setzt die Bedingungen für die Entwicklung, aber übernimmt keine Verantwortung für die Folgen.

Die Weltbank hat es gelernt, exzelente Analysen auszuarbeiten und ist in der Lage, über weitreichende Themen zu sprechen: die Bevölkerungsbeteiligung – besonders die der Frau -, der Kampf der Völker gegen die Armut und die Notwendigkeit, die Umwelt zu schützen. Sie geht noch weiter: Sie verteidigt die Menschenrechte und die Rechte der Minderheiten. Sie übt Druck auf die Regierungen aus, damit diese sie respektieren. Sie ist sogar fähig, diese Ideale attraktiver zu machen, indem sie auf ihre Wichtigkeit für die Entwicklung hinweist, damit diese oder jene Nation sie erfüllt.

Schöne Reden und skandalöse Praktiken

Im Anblick all dessen entsteht nur eine einzige Frage: Warum werden so schöne Reden von so skandalösen Praktiken begleitet? Warum knüpft die Weltbank in der Praxis ihre Hilfe an die Anwendung der sozial gesehen kriminelle Politik der strukturellen Anpassung? Die Weltbank ist sehr gut über die Armut und die Verarmung und den Ausschluß enormer Teile der Bevölkerung auf unserem Planeten informiert. Also stellt sich die Frage: Handelt es sich um puren Zynismus, um politische Lügen? Ich für meinen Teil glaube, es gibt ein tiefes Mißverständnis, vor allem unter uns selbst. Denn, unsere Reden mal beiseite gelassen: Die Weltbank ist nicht mehr als ein Instrument im Dienst eines orthodoxen Wachstumsmodells, das auf dem Wettbewerb und nicht auf der Zusammenarbeit beruht. Es ist eine Verpflichtung der Weltbank, sicherzustellen, daß alle – Große und Kleine – am Weltmarkt teilnehmen können. Äußerst selten, aber mit Sicherheit NICHT zur Zeit, ist Wirtschaftswachstum ein Synonym für Entwicklung.

Am Ende dieses Jahrhunderts sind Wachstum und Wettbewerb einzig und allein Mittel für die beschleunigte und unverhältnismäßige Bereicherung einer Minderheit, ohne daß dies Entwicklung, geschweige denn Zusammenarbeit oder eine gerechte Verteilung der Reichtümer mit sich brächte. Die Ungleichheiten sind jedesmal gravierender. Und der Hunger tötet täglich Tausende, ohne daß dies eine Rebellion oder Empörung hervorruft. Solange die Weltbank ihre gefühllose strukturelle Anpassungspolitik durchführt, sind wir verpflichtet, uns zusammen mit der größtmöglichen Zahl der Opfer gegen diese Art von Intervention zu kämpfen.

„Ich will kein Komplize sein“

Nachdem ich als Mitglied der Arbeitsgruppe dreieinhalb Jahre an einem Dialog mit der Weltbank teilgenommen habe, reiche ich meinen Rücktritt ein, weil für mich klar ist: es gibt keinen Weg, die Weltbank zu humanisieren. Afrika stirbt und die Weltbank bereichert sich. Asien und Osteuropa sehen, wie ihre Reichtümer geplündert werden und die Weltbank unterstützt die Initiativen des Internationalen Währungsfonds und des GATT, welches diese Plünderung der materiellen und intellektuellen Reichtümer zuläßt. Lateinamerika – genauso wie diese anderen beiden Kontinente – sieht mit Horror, wie seine Kinder als Arbeitskraft benutzt werden oder, schrecklicher noch, als unfreiwillige Organspender für den florierenden Transplantationsmarkt in Nordamerika dienen.

In ihren Diskursen spricht die Weltbank von den unvermeidlichen Opfern, die die strukturelle Stabilisierung erfordert, damit die Nationen sich in den Gesamtweltmarkt eingliedern. Als ob es sich um eine öde Wüste handeln würde, die durchquert werden muß, um ins gelobte Land der Entwicklung zu kommen. Ich will kein Komplize dieser unerbittlichen Schicksalhaftigkeit sein, die von der Weltbank verkündet wird. Ich ziehe die Aufgabe vor, mitzuarbeiten an der Stärkung der Organisationen der Campesinos ohne Land, der Straßenkinder, der Frauen, die in den asiatischen Städten nicht ihre Körper verkaufen wollen, der Arbeiter*innen und der Gewerkschaften, die gegen die Plünderung ihrer Ressourcen und gegen die Demontage ihrer Produktionskapazitäten kämpfen.

Nach einer langen Erfahrung weiß ich: es gibt viele Freund*innen in den NGOs, die glauben, ein Dialog mit der Weltbank sei nützlich, um deren institutionelles Verhalten zu ändern und sie zu einem besseren Verständnis der Forderungen nach Zusammenarbeit und Entwicklung anzuleiten. Ich respektiere diese Haltung und ich respektiere die Position derer, die innerhalb der Weltbank hoffen, ein Dialog mit den NGOs werde Änderungen in der Analyse und in den Initiativen der Bank mit sich bringen. Aber nach meiner langen Erfahrung in der Arbeitsgruppe, ziehe ich es vor, sie vorzeitig zu verlassen. Ich will nicht weiter Komplize sein.

„50 Jahre sind genug“

Meine Wünsche für die Bank sind einfach: 50 Jahre sind genug. Sie ist einer der Hauptfeinde der Armen und der Rechte, die diese innerhalb der Vereinten Nationen verteidigen. Sie ist die außergewöhnlichste und ausgeklügelste Öffentlichkeitsmaschinerie, die derzeit auf der Welt besteht, um allen ein ängstliches Schicksalsgefühl aufzuzwingen, das sie akzeptieren läßt, daß die Entwicklung nur einigen wenigen vorbehalten ist und alle übrigen, die weder als ausreichend wettbewerbsfähig noch als zähmbar gelten, nur eine unvermeidliche Armut erwartet.

Die Zurückweisung einer Entwicklungsökonomie, die die soziale Gerechtigkeit durch den Zugang einer größtmöglichen Zahl von Personen zu einem gerechten Lohn fördert, zwingt uns, dringend eine andere Institution zu suchen. Eine Institution, die die Weltbank ersetzt, muß den Menschen erlauben, an Maßnahmen teilzunehmen und von Maßnahmen zu profitieren, die ihnen ihre Würde zurückgeben, die ihnen erlauben, sich zu ernähren und die ihnen das Recht auf Unterschiedlichkeit innerhalb einer gleichmäßigen Entwicklung garantiert. Ich grüße bei meinem Rücktritt die Kolleg*innen, die ich nach wie vor respektiere und drücke meine Wertschätzung für die zahlreichen Angestellten dieser Institution aus. Nur mit einer Neuorganisierung und einem neuen Kampf für die Umwandlung der Vereinten Nationen und der durch das Abkommen von Bretton Woods geborenen Organisationen werden wir in der Lage sein, neue Bedingungen zu schaffen, um den Krieg gegen den Hunger und zugunsten der Solidarität der geteilten Entwicklung zwischen den Menschen zu unternehmen.

KUBA

Schulbildung ein weiteres Jahr gesichert

– Von Edda Diz Garces

(Havanna, 6. September 1994, prensa latina-POONAL).- Alle Kubaner*innen im Schulalter haben für das am 3. September begonnene Schuljahr 1994/95 einen Lehrer oder eine Lehrerin, einen Klassenraum und Schulmaterial. Der Bildungsminister Luis Ignacio Gomez Gutierrez versicherte in einem Interview gegenüber der Zeitschrift „Arbeiter“, die zur Verfügung gestellten Materialien seien besser als im Vorjahr. Während es bei den Schulbüchern überhaupt keine Probleme gebe, seien weitere Anstrengungen im Bereich der technischen und der Berufsausbildung notwendig. Dies betreffe vor allem die praktischen Übungen. Hier sei viel Kreativität und Koordination mit Unternehmen und Organisationen notwendig.

Gomez äußerte sich auch zu den Rationalisierungsmaßnahmen bei den Lehrkräften: „Wir haben eine gründliche Arbeit in Bezug auf die rationellste Nutzung der menschlichen Ressourcen gemacht. In einem Bildungszentrum gab es zehn oder zwölf Direktoren und verschiedene stellvertretende Direktoren. Jetzt bleiben ein Direktor und drei Abteilungsdirektoren, der wirklich notwendige Teil.“ In der Bürokratie im Ministerium, in den Provinzen, in den Gemeinden und den sogenannten „Institutos de Perfeccionamiento“ (diese wurden ganz abgeschafft) seien etwa 7.000 Stellen eingespart worden. Auf vielen dieser Stellen hätten Personen mit großer Qualifikation und Erfahrung gesessen, die nun in den Klassen unterrichten würden.

7000 Stellen eingespart

Alle Maßnahmen zusammen erlaubten nach Gomez die Freistellung von ungefähr 25.000 Lehrer*innen und Dozent*innen. Bei diesen handele es sich zum Teil um Personen, die ihr Studium noch nicht abgeschlossen hätten oder denen aufgrund ihrer Verdienste ein einjähriger Bildungsurlaub zugebilligt wurde. Bei den übrigen 11.000 Lehrkräften seien Schwierigkeiten beim Ausbildungsniveau und bei der Themenbeherrschung festgestellt worden. Diese würden bei vollem Gehalt ein Jahr lang neu qualifiziert, könnten allerdings nur auf ihre alten Stellen zurück, wenn sie die Abschlußprüfung bestehen würden. Der Minister: „Diese Entscheidungen haben wir zusammen mit der Gewerkschaft und dem Arbeitsministerium getroffen.“ Gomez betonte, allein in seinem Ministerium seien die Planstellen um 60 Prozent verringert worden. Trotz einer um 50.000 erhöhten SchülerInnenzahl (an Schulen und Hochschulen sind dieses Jahr 2,5 Millionen Menschen eingeschrieben) und weniger Personal werde die Qualität der Arbeit erhöht.

NICARAGUA

Sergio Ramírez abgesetzt

(Mexiko-Stadt, 11. September 1994, POONAL).- Die Spaltungstendenzen innerhalb der Nationalen Sandinistischen Befreiungsfront (FSLN) sind erneut öffentlich zutage getreten. Die Führung der größten nicaraguanischen Partei setzte am Samstag, den 10. September, den ehemaligen Vizepräsidenten des Landes, Sergio Ramírez, als Fraktionschef ab. Offizieller Auslöser war ein Entwurf für Verfassungsreformen, den Ramírez fünf Tage zuvor ohne Zustimmung der „Sandinistischen Versammlung“ im Parlament eingebracht hatte. Die Sandinistische Versammlung ist das höchste Führungsorgan der Partei. Dieses entschied nach siebenstündiger Debatte, Ramírez wegen „Ungebühr“ seines Amtes zu entheben, obwohl im Parlament selbst 33 der 39 sandinistischen Abgeordneten dem Projekt ihres Fraktionschefs zugestimmt hatten. Mit der Entscheidung des Parteiorgans wird Ramírez wohl auch seinen Parlamentssitz verlieren, da er diesen nur stellvertretend für Daniel Ortega, den früheren Präsidenten Nicaraguas, besetzt. Die Sandinistische Versammlung hat Ortega bereits nominiert.

Der Bestrafte bezeichnete die Entscheidung in einer ersten Stellungnahme als „verderblich“. Sie würde die Einheit des Sandinismus nicht größer machen. Er dementierte jedoch, die Partei verlassen zu wollen und erklärte, falls Ortega seinen Parlamentssitz geltend mache, so werde er ihn freigeben. Die Mehrheit der sandinistischen Parlamentsabgeordneten warnte allerdings bereits, falls Ortega der Fraktion vorsitzen wolle, müße er sich einer internen Abstimmung unterziehen. Der Ex- Präsident machte seine Ambitionen deutlich, indem er die Sitzung der Sandinistischen Versammlung mit den Worten kommentierte, er stehe bei der FSLN in der Pflicht und werde dem Beschluss gehorchen. Sergio Ramírez und etwa zwanzig weitere sandinistische Parlamentsabgeordnete hatten angesichts der Mehrheitsverhältnisse an der Debatte im parteiinternen Führungsgremium (130 Parteimitglieder) gar nicht erst teilgenommen. Ramírez wollte seiner „eigenen Hinrichtung nicht beiwohnen“.

Gründet Ramírez jetzt eine eigene Partei?

Sein Verfassungsprojekt begründete er damit, daß „die nationalen Interessen stärker und dringender als die Parteidisziplin sind“. Ein Artikel des Entwurfes schließt die Wiederwahl des Präsidenten sowie die Kandidatur seiner nächsten Familienangehörigen aus. Betroffen sind davon in erster Linie Daniel Ortega sowie der derzeitige „Kanzleramtsminister“ Antonia Lacayo, ein Schwiegersohn der derzeitigen Präsidentin Violeta Barrios. Weitere 100 der 202 Artikel der von der sandinistischen Regierung 1987 verabschiedeten Verfassung sollten nach dem Willen von Ramírez reformiert werden. Die Sandinistische Versammlung wollte für das kontrovers diskutierte Projekt des ehemaligen Vizepräsidenten mehr Zeit haben, bevor es in die Parlamentsdiskussion eingebracht wurde.

Der jetzt ausgebrochene Konflikt hat jedoch tiefere Ursachen. Innerhalb der FSLN wird Ramírez als Kopf der sogenannten „Sandinistischen Erneuerungsbewegung“ angesehen. Sein parteiinterner Gegenspieler Daniel Ortega dagegen gilt als der führende Vertreter der orthodoxeren Linie. Auf dem Parteikongreß vor wenigen Monaten schienen die beiden Strömungen sich noch auf ein gemeinsames Vorgehen und eine Machtverteilung geeinigt zu haben. Das ist jetzt wieder in Frage gestellt. Die Ortega-Fraktion dominiert zweifellos. Aber Ramírez hat zusammen mit anderen prominenten Direktoriumsmitglieder der Partei wie Luis Carrión Henry Ruiz und Dora María Téllez durchaus keine schwache Stellung. Es wird nicht ausgeschlossen, Ramiréz könne eine eigene Partei gründen. Dann hätte sich der Weg der früheren Kampfgefährten für die sandinistische Revolution endgültig getrennt.

Die Misquitas vom Rio Coco

– Von Mirna Cunningham*

(Managua, August 1994, alai-POONAL).- Der Rio Coco bildet die Grenze zwischen Honduras und Nicaragua. Dort im Nordosten, an der Atlantikküste Nicaraguas, wohnen etwa 42.000 Menschen. Es ist eine Region, in der 99 Prozent der Siedler*innen Misquitos und Sumas sind. Dazu kommt der verschwindend kleine Anteil der Mestizen. Der Rio Coco ist 470 Kilometer lang. An seinem Flußlauf haben sich 88 Gemeinden angesiedelt. Die größten haben zwischen 2.000 und 3.000 Einwohner*innen. Diese Zone der Atlantikküste wurde vom Krieg schwer betroffen. Alle Gemeinden wurden evakuiert und die Siedler*innen gingen weg. Einige flohen für mehr als neun Jahre nach Honduras, der Rest lebte während dieses Zeitraumes über Nicaragua verstreut. In der Region sind heute praktisch 100 Prozent der Bevölkerung mit dem Neuaufbau beschäftigt, mit der Wiederansiedlung auf den traditionellen Böden.

Die Atlantikküste Nicaraguas wurde durch die Engländer kolonisiert. Sie wendeten Kolonisationsformen an, die sich von den spanischen unterschieden. Sie kamen an die Küsten und gründeten Allianzen mit den Misquitos. Sie gaben ihnen Waffen und erfanden mehr als 100 Jahre lang ein Königreich Misquito – mit einem König, der erst in England, danach auf Jamaica gekrönt wurde. Mit diesem König gingen sie ein Abkommen ein, um die Naturschätze zu plündern. Später, im Jahr 1860, unterschrieb die Regierung Englands mit der Regierung der USA den „Vertrag von Managua“. Damit wurde bis zum Jahr 1894 ein britisches Protektorat an der Atlantikküste installiert. 1894 entschied, so sagen sie, ein nicaraguanischer Präsident, die Atlantikküste wieder an den Pazifik anzuschließen. Wir sind also bereits 100 Jahre eine innere Kolonie Nicaraguas.

Sofort nach dem, was als Wiedereingliederung bekannt ist, kamen die transnationalen nordamerikanischen Unternehmen und holten Gold, Silber, Kupfer, Holz, kurz: sie beuteten die Naturschätze des Landes aus. Sie etablierten an der Atlantikküste das, was wir das Modell der Enklavenwirtschaft nennen: Wenig Investitionen, um eine große Menge Naturschätze auszubeuten.

Seit dem Jahr 1847 ist die Morava-Kirche aktiv an der Misquito Küste. Es handelt sich um eine in Europa gegründete, evangelische Kirche, die von der katholischen Kirche verfolgt wurde. Diese Kirche kam an die Atlantikküste und wandelte die Gebräuche der Misquito-Gemeinden. Es gibt viele Misquito-Sitten, die heute völlig mit den Morava-Gebräuchen vermischt sind. Durch die Evangelisierung entstanden seßhafte Gemeinden. Die Häuser wurden um die Kirche herumgebaut usw.

Die Frauen – Verteidigerinnen der Kultur

Historisch gesehen haben die Frauen des Rio Coco in der Misquito- Kultur immer eine bedeutende Rolle gespielt: Sie waren dafür verantwortlich – wie in jeder Indígenakultur – die Werte und die Traditionen zu vermitteln. Sie lehrten ihren Kindern den Respekt vor den Alten und der Sprache. Aber alle erwähnten kulturellen Kontakte haben das Leben der Gemeinde und natürlich das Leben der Frauen stark beeinflußt. Es sind fremde Gebräuche oder Kulturen, die seit den Zeiten der Kolonisierung die Rolle des Mannes als Arbeiter in den transnationalen Unternehmen, als Fischer (sogar für die Piraten), als Gegenüber der Händler, verstärkten. Dies hat dazu geführt, dass der Mann mehr Zeit ausserhalb der Gemeinde lebt. Wer in der Gemeinde bleibt, für die Landwirtschaft sorgt, die Ernährung und die Erziehung der Kinder sichert, das ist die Frau. D.h., auf bestimmte Weise hat die Frau eine erhebliche Macht, weil sie die Gemeinde regiert. Von den anderen Kulturinterventionen wurde dies nicht anerkannt.

Es kamen die transnationalen Konzerne, sogar Vertreter der Regierung Nicaraguas. Dennoch, die Frauen haben ihre Rolle behalten. Im Jahr 1854 gab es beispielsweise ein Kastellanisierungsprogramm am Rio Coco. Alle wurden gezwungen, Spanisch zu sprechen, die Erwachsenen und die Kinder in den Schulen. Auch für die Hausfrauen gab es Spanischprogramme. Die Frauen mußten in Nähkursen lernen, wie die „spanischen“ Frauen in der Pazifikregion lebten. Aber die Misquitas verloren nie ihre Bedeutung in der Gemeinde. Es war vielleicht eine ziemlich geheime Rolle, doch immer hatte die Frau beispielsweise die Möglichkeit, „Sukia“, Heilerin zu sein. Die Sukia heilt durch die Riten. Die Frau war auch die „spirit uplika“, d.h., die Person, die mit den Geistern spricht und durch die Geister heilt. Obwohl die kulturellen Kontakte den Misquitas verboten, zur Schule zu gehen oder in den Unternehmen zu arbeiten, blieb ihre spirituelle Rolle in der Gemeinde immer erhalten.

Das große Problem an der Atlantikküste war der Krieg der letzten zehn Jahre. Das, was durch die Kolonisationszeit hindurch gerettet werden konnte, erlitt mit den zehn Jahren Krieg einen enormen Rückschlag. Viele Frauen flüchteten nach Honduras. Heute wird sowohl im öffentlichen als auch privaten Bereich ein Unterschied gemacht, jenachdem ob die Frauen nach Honduras gingen oder in Nicaragua blieben.

Ehemalige Flüchtlinge nach Honduras spielen im öffentlichen Leben keine Rolle mehr

Die Frauen, die in Nicaragua blieben, gingen wie die Männer in den Krieg. Sie spielten eine öffentliche Rolle. Diese Frauen gingen in die Schule, weil die Erziehung kostenlos war. Sie konnten an Alphabetisierungskampagnen teilnehmen. Es sind Frauen, die begannen, in verschiedenen Büros zu arbeiten, in Regierungsinstanzen und in Instanzen der Kirche. All diese Frauen sagen, die zehn Jahre Revolution hätten ihre Teilnahme auch auf anderen Gebieten des öffentlichen und privaten Lebens total verändert. Was das letztere angeht, so stellten die Frauen neue Maßstäbe für das Zusammenleben mit dem Partner auf. Sie begannen, sich gegen Mißhandlung zu wehren, die vorher vielleicht als Normalität angesehen wurden. Bei den Frauen, die in den Flüchtlingslagern in Honduras lebten, ist die Situation ganz anders. Sie spielten im öffentlichen Leben überhaupt keine Rolle, ihr privater Spielraum reduzierte sich eher noch. In den Lagern prostituierten sich viele durch die Anwesenheit der US-Truppen. Viele Frauen verloren ihre Ehemänner im Krieg. Nach zehn Jahren Krieg hat sich der Anteil alleinstehender Frauen stark erhöht.

Der kulturelle Einfluß auf diese Entwicklung ist nicht von der Hand zu weisen. Die Misquito-Kultur zeichnet sich durch starke Familienbande aus, bei denen die Frau das Zentrum bildet. Die Mutter, die Schwiegermutter, die Tochter sind bestimmend im Leben zuhause. Wenn eine Frau sich verheiratet, wird sie in die Nähe des Hauses der Mutter ziehen oder dort ihr Haus bauen. Das heißt, im zentrum der Kultur stand immer die Frau. Die Form, in der sich eine Person identifiziert, hat mit den Verwandtschaftsbeziehungen zu tun: Ich bin die Mutter von Carlito oder die Tante von Yuli oder die Grossmutter von Wilfredito. Diese Familienbande sind die wichtigsten Grundlagen der Misquito-Kultur. Die Frau bestimmt die Regeln der Familienbeziehungen.

Die Kultur kennzeichnet sich in weiten Teilen auch durch Großzügigkeit. Wenn jemand in dein Haus kommt, mußt Du ihm etwas geben. Wenn Du ein Tier schlachtest, mußt Du den Rest des Fleisches unter den Leuten verteilen. Auch dies ist Aufgabe der Frau, denn der Mann jagt, doch die Frau verteilt die Beute oder den Fang. In den Gemeinden gibt es zudem die Tradition des „Talamana“: Wenn einer einem anderen Schaden zufügt, muß er dies mit Waren oder durch Arbeit bezahlen. Ein anderer Brauch ist der „Papana“ oder der „Bahanco“: Die Arbeit der Ernte, der Aussaat, des Hausbaus, der Kinderbetreuung ist eine gemeinsame, solidarische Arbeit. Hinzu kommt die starke Spiritualität in der Misquito-Kultur. Alles im Leben hat eine mystische Beziehung, eine mystische Erklärung. Dir passiert etwas wegen des Windes, wegen der Luft. Alles findet eine Erklärung, die mit den Mächten zu tun haben, die im Wasser, im Wald, im Haus, in der Erde usw. leben.

Krieg zerstörte die gewachsene Misquito-Kultur

Durch die Frau hat dieses spirituelle Leben überlebt, trotz des Krieges und trotz aller kulturellen Kontakte. Es gibt eine lebendige Kultur in der Gemeinde. Die Männer wissen, wem sie dies zu verdanken haben. Als wir die Studie über die Situation der Frauen in den Gemeinden am Rio Coco machten bemerkten wir gleichzeitig zum kulturellen Phänomen ein anderes Phänomen, das die Leute hart trifft. Es handelt sich um die Wirtschaftsmaßnahmen. Sie bewirken, daß die Menschen viele ihrer Bräuche nicht ausüben können, weil es nichts gibt. Du kannst nicht großzügig sein, wenn Du überhaupt nichts hast. Die Arbeitslosigkeit ist äußerst hoch. Als Folge haben die Menschen mehr mit Drogenhandel und -Konsum zu tun. Dies trägt zu einer verstärkten Gewalt in den Gemeinden bei. Zudem haben die Männer noch mehr unter den Wirkungen und den kulturellen Veränderungen des Krieges gelitten. Sie lernten, Soldaten zu sein. Die kulturellen Werte wurden praktisch beiseite gestellt, denn sie haben eine völlig militarisierte Mentalität. Sie haben keinen Respekt mehr vor der Autorität der Alten. Die jungen Männer, die aus dem Krieg zurückkamen, wollen diese Alten ersetzen.

Viele Nicht-Indígenafrauen, mit denen wir gearbeitet haben, meinen, die Frauen, die unter primitiven Bedingungen in den Gemeinden leben, hätten kein Geschlechterbewußtsein. Sie seien Frauen, die sich um andere Dinge kümmerten als um die organisatorische Entwicklung als Frauen. Aber als wir die Frauen interviewten, stellten wir ein Geschlechterbewusstsein fest. Erstens, die Frau weiß, daß sie unterdrückt ist, unterdrückt durch diesen Mann, der sie mißhandelt, weil er andere kulturelle Werte lernte; unterdrückt durch den Priester, beispielsweise, der in der Kirche sagt, sie hätte diesem Mann zu gehorchen, auch wenn er schlecht sei, denn so sage es Gott, usw. Die Frau bemerkt das als eine Form der Unterdrückung; aber sie sieht es auch als Form der Unterdrückung an, daß sie die Gemeinde verlassen muß, weil sie nichts zum Überleben hat, daß sie Arbeit suchen muß, daß sie in den städtischen Zentren als Prostituierte leben muß.

Die Frau bemerkt, daß andere Frauen diese Situation genauso erleben. Ihr Hauptanliegen ist, sich zu organisieren. Aber sie sind der meinung, daß die Organisation nicht nur die frauenspezifischen Probleme behandeln dürfe, sondern genauso Antworten auf die wirtschaftlichen Probleme suchen sollte. Es ist noch sehr schwierig, über Sexualität zu sprechen. Die Frauen würden es gerne tun, aber das erfordert noch bestimmte Bedingungen, ein gewisses Vertrauen. Aber die Beziehungen mit dem Partner wurden besprochen, die Probleme der Mißhandlung.

Frauen wollen gemeinsam mit ihren Männer an den Schulungen teilnehmen

Ich würde sagen, es existiert schon eine allgemeine Forderung der Frauen, ihre Rechte kennenzulernen. Sie sind aber der Meinung, es nütze überhaupt nichts, wenn nur sie sie kennen, die Männer aber nicht. Aus diesem Grund wolle die Frauen das Bildungsangebot auch auf die Männer ausweiten. Zur Zeit gibt es verschiedene Organisationen. In unseren Umfragen kommen fünf Frauenorganisationen zu Wort. Drei davon sind mit der Kirche verbunden. Eine weitere besteht aus Indígena- und Nicht- Indígenafrauen. In der fünften sind nur Indígenas, besonders die Repatriierten und Schutzlosen.

Bei der Verabschiedung des Autonomievorschlages für die Atlantikküste haben die Frauen eine ganz wichtige Rolle gespielt. Der Vorschlag wurde noch zu Kriegszeiten ausgearbeitet, die Beratung fand von Haus zu Haus statt. Wir mußten große Überzeugungsarbeit leisten, damit die Männer die Waffen niederlegten. Dabei spielten die Frauen die größte Rolle. Sie organisierten sich in den Kommissionen für Frieden und Autonomie. Sie gingen durch die Gemeinden und zwangen die Männer praktisch, die Waffen niederzulegen.

Die Frauen vom Rio Coco finden es wichtig, mit Frauen, die sich in anderen Teilen des Landes organisieren, Erfahrungen auszutauschen. Ich bin optimistisch, was die Arbeit der Frauen angeht. Aber ich habe immer geglaubt, daß man sehr vorsichtig sein muß. Denn in den Gebieten, über die wir sprechen, bedeutet die Autonomiegarantie die Einheit zwischen den Küstenbewohner*innen. Oft wird die Arbeit der Frauen falsch interpretiert. Es handele sich bei ihrer Organisierung darum, die Gemeinden zu spalten, heißt es. Mir erscheint es darum äußerst positiv, daß die Frauen erklären, die Schulungen müsse mit allen zusammen stattfinden.

* Mirna Cunningham ist Abgeordnete der Sandinisten für die Region

der Atlantikküste. Vor kurzem schloß eine Studie über die Lage der

Misquito-Frauen unter ihrer Koordination ab.

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