Poonal Nr. 216

Deutsche Ausgabe des wöchentlichen Pressedienstes lateinamerikanischer Agenturen Nr. 216 vom 25. Oktober 1995

Inhalt


MEXIKO

MEXICO

GUATEMALA

ECUADOR

LATEINAMERIKA

MITTELAMERIKA

LATEINAMERIKA

KUBA

CHILE


MEXIKO

Chiapas-Wahlen: Enthaltung gewinnt vor der PRI

In San Cristóbal und San Andrés diskutieren erneut Zapatisten und

Regierung

(San Cristóbal de Las Casas, 18. Oktober 1995, POONAL).- Die Bekanntgabe der offiziellen Endergebnisse bei den Abgeordneten- und Gemeindewahlen im mexikanischen Bundesstaat Chiapas zögert sich wie in vorherigen Fällen länger hinaus als angekündigt. Doch die Würfel sind gefallen. Zwischen 50 und 70 Prozent der 1,6 Millionen stimmberechtigen Wähler entschieden sich, nicht abzustimmen. Nach den Wahlenthaltungen kam die Regierungspartei PRI überraschend deutlich auf den zweiten Platz. Von den abgegebenen Stimmen erhielt sie mehr als die Hälfte. Dieses Resultat sichert ihr im 40köpfigen Chiapas-Parlament mit mindestens 27 Sitzen eine Zwei-Drittel-Mehrheit. In den 109 der 111 Landkreise, in denen gewählt wurde – in zwei Landkreisen wurden die Wahlen in letzter Minute auf den 5. November verschoben – wird die PRI in mindestens 80 Kreisstädten den Bürgermeister stellen. Hinter der Regierungspartei folgt die linke Oppositionspartei PRD, die etwa 30 Prozent der abgegeben Stimmen erhielt. Das bedeutet sechs Abgeordnete im Parlament und mindestens 17 Bürgermeisterämter. Doch am Ziel gemessen, die neue Mehrheitspartei in Chiapas zu werden, ist das Ergebnis für die PRD eine mittlere Katastrophe. Die in dem Bundesstaat bisher bedeutungslose konservative PAN dagegen erreichte als dritte Kraft einen spektakulären Sieg in der Hauptstadt Tuxtla Gutiérrez – bei allerdings über 70 Prozent Enthaltung in dieser Stadt.

Wahlmanipulationen zugunsten der PRI hat es offensichtlich gegeben, doch nicht im früher bekannten Ausmaß. Die Befürchtungen gewältätiger Nach-Wahltage bestätigten sich bis auf einige Ausnahmen bisher nicht. Verbal dagegen ist an heftigen Konflikten kein Mangel. So beschuldigte der Bischof der Diözese Tapachula direkt seinen San Cristobalenser Kollegen Samuel Ruiz, neben dem Zapatistensprecher Subcomandante Marcos für die hohe Wahlenthaltung verantwortlich zu sein. Hohe PRD-Mitglieder machten einen Wahlboykott der Zapatistischen Armee für die Nationale Befreiung (EZLN) für das schlechte Abschneiden der Partei als Grund aus. Subcomandante Marcos antwortete bei seinem zweiten öffentlichen Auftritt innerhalb von zwei Wochen in dem Urwald-Dorf La Realidad, die EZLN habe sich nicht in Waffen erhoben, um die PRD an die Macht zu bringen, sondern um Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit zu erkämpfen. Er bezeichnete zudem die PAN als „einzige organisierte Oppositionskraft, die an die Macht kommen kann“, auch wenn dies weder eine wünschenswerte Option noch eine Alternative für das Land sei. Wütende Proteste der PRD ließen nicht auf sich warten. In der Tat kann der nicht öffentlich ausgesprochene, jedoch faktische Wahlboykott der EZLN und ihrer Sympathisanten die PRD bis zu 20 Landkreise gekostet haben. In San Andrés Larráinzar, dem Verhandlungsort zwischen Regierung und Zapatisten, bekam die PRD beispielsweise nur ganze 32 Stimmen. Dagegen hatten die 49 Gemeinden des Landkreises, der als eine Hochburg der Zapatisten gilt, auf einer Volksversammlung am 1. Juli gemäß ihren Gebräuchen bereits mit deutlicher Mehrheit einen Bürgermeister gewählt, der auch Mitglied der PRD ist. Nun ist dort der Konflikt vorgezeichnet.

Das Desinteresse der Zapatisten an den Wahlen und ihr geringes Vertrauen in die politischen Parteien in ihrer Gesamtheit verlegt die Lösung des Chiapas-Konfliktes im wesentlichen in den außerparlamentarischen Raum. Die erste Möglichkeit bieten die neuen Gespräche zwischen Regierung und EZLN, die seit Mittwoch in völlig neuem Rahmen in San Andrés Larráinzar und San Cristóbal stattfinden. Die beiden Seiten diskutieren unter dem Vorsitz der Vermittlungsinstanzen Cocopa und Conai in sechs Arbeitsgruppen zum Thema „Indìgena-Rechte und Kultur“. Sowohl Regierung als auch Zapatisten haben Berater und eingeladene „Gäste“ mitgebracht, so daß pro Arbeitsgruppe zwischen 50 und 100 Personen zusammenkommen. Im Gegensatz zu den früheren Gesprächsrunden hat die Presse erstmals völlig freien Zugang zu den Sitzungen. Am Ende von sechs Versammlungstagen soll über konkrete Verpflichtungen und gemeinsame Vorschläge für die Diskussion auf nationaler Ebene Einigkeit erzielt werden. Nach einem erfolgreichen Abschluß werden in den kommenden Wochen und Monaten drei weitere Themen auf dieselbe Weise behandelt.

MEXICO

Eine Minderheit hat lange genug über das Schicksal des

Landes bestimmt

– Interview mit Heberto Castillo

(San Cristóbal de las Casas, Oktober 1995, POONAL).- Heberto Castillo ist Mitglied der Kommission für Eintracht und Friedensstiftung in Chiapas (COCOPA), Senator der Partei der Demokratischen Revolution (PRD) und einer der „großen alten Männer“ der mexikanischen Linken. Das Interview führte Gerold Schmidt am 16.10., einen Tag nach den Wahlen in Chiapas

Frage: Herr Castillo, können Sie für die gesamte Cocopa sprechen oder nur für sich?

Antwort: Nur für mich, die Kommission wechselt jede Woche turnusmässig den Sprecher. Diese Woche bin ich nicht dran.

Frage: In welchem Kontext gründete sich die Cocopa, wie ist sie zusammengesetzt, wie funktioniert sie?

Antwort: Die Kommission enstand im November vergangenen Jahres aus der Notwendigkeit, den suspendierten Dialog in einer Situation zu erneuern, in der die Zapatische Armee für die Nationale Befreiung (EZLN) nicht mit der Regierung reden will. Nicht mit dem direkten Repräsentant*innen der Regierung. Das war Jorge Madrazo, der Präsident der [staatlichen] Menschenrechtskommission. Im Kongreß der Union gab es die Übereinkunft, eine plurale Kommission mit allen dort vertretenen Parteien zu gründen, die unabhängig von der Regierung sein sollte. Aus dem Abgeordnetenhaus kommen vier Mitglieder, aus dem Senat drei, alle mit einem Stellvertreter. Die Abstimmung dazu ist einstimmig. Später wurden die Vertreter als Vollmitglieder eingegliedert, denn die Kommission erwies sich für das zu behandelnde Problem zu klein. Sie nannte sich zu diesem Zeitpunkt Gesetzgebungskommission für Chiapas. Sie setzte sich sofort für die Wiederaufnahme des Dialogs ein, besuchte Chiapas, um die Bedingungen des Konfliktes kennenzulernen. Wir haben mit allen Seiten gesprochen, mit Parteiführern, mit den führenden Leuten im Senat und im Abgeordnetenhaus, mit dem Präsidenten und anderen. Wir hatten die Wiederaufnahme der Gespräche beinahe erreicht, da verkündete der Präsident der Republik am 9. Februar die Haftbefehle gegen Marcos und seine Leute. Wir erklärten, unter diesen Umständen nicht arbeiten zu können. Wir sprachen mit dem Präsidenten, sagten ihm, daß er nicht korrekt gehandelt habe. Er akzeptierte eine Korrektur, und wir schlugen ein Gesetz vor, daß die Haftbefehle aussetzte. Es war das erste Mal in Mexiko, daß das Gesetz nicht von einer der Staatsgewalten kam, sondern gemeinsam erarbeitet wurde – vom Präsidenten und der Kommission. Daraus entstand am 11. März das Gesetz zur Befriedung von Chiapas. Die EZLN hat dieses Gesetz angenommen, das kein Amnestiegesetz ist, sondern auf den Dialog zwischen Regierung und Guerilla abzielt. Es entstand jetzt die Kommission für Eintracht und Friedensstiftung. Sie ist gegenüber der Vorgängerkommission um ein Mitglied der Legislative und der Exekutive des Bundesstaates [Chiapas] ergänzt. Statt 14 waren wir also 16.

Frage: In der Öffentlichkeit herrschte – zumindest lange Zeit – der Eindruck vor, die Cocopa stehe der Regierung näher, die andere Vermittlungsinstanz dagegen, die Conai, den Zapatisten. Wie sehen sie die Sache?

Antwort: Ich glaube, dieser Eindruck ist von den Zapatist*innen selbst hervorgerufen worden. Die öffentliche Präsenz von Marcos in den Medien der Linken in Mexiko und im Ausland ist sehr stark. Die EZLN hat eine Präsenz, die über ihre physische Präsenz hinausgeht. Sie ist eine moralische und ethische Präsenz. Lange Zeit hat sie den Standpunkt vertreten, wer sie nicht unterstütze, wer nicht offen für sie Partei ergreife, stehe auf der Seite des Feindes. Da die Cocopa eine plurale Kommission von Abgeordneten ist, wo die PRI, die Präsidenten- und Regierungspartei ist, die PAN, die historisch als Partei der Rechten eingeordnet wird, die PRD als linke, als Mitte-Links-Partei, so kommt es zu dem Schema, daß in ihr die Pro-Regierungshaltung dominiert.

Herrschen denn in der Cocopa nicht die Parteiinteressen vor? Tatsächlich war es bis jetzt nicht so. Die Cocopa hat die Haftbefehle gestoppt. Sie machte es möglich, daß die Maskierten sich mit der Regierung zusammensetzen konnten. Es gab keine Aggression gegen die Führer der EZLN. Die Cocopa ermöglichte die Teilnahme der EZLN am Nationalen Dialog, an dem sie legal nicht teilnehmen kann. Außerdem ist diese Stadt hier [San Cristóbal] zum Sitz einer offenen Diskussion geworden, in der die EZLN die Hauptakteurin ist. Die Cocopa arbeitet nicht nach dem Mehrheitsprinzip: Wer die Mehrheit hat, setzt sich durch. Es gibt in der Kommission keine Kampfabstimmungen nach dem Motto: Mal sehen, welche Fraktion die stärkste ist – PAN, PRI, PRD oder PT. In der Cocopa herrscht die Überzeugung vor, daß die EZLN recht hat, was die soziale Sache angeht. Und es herrscht die Überzeugung vor, daß sie sich irrt, was den bewaffneten Kampf angeht. Niemand unterstützt den bewaffneten Kampf. In Mexiko hat sich keine politische Organisation – ob mit oder ohne Registrierung – für den bewaffneten Kampf ausgesprochen. Aber es gibt natürlich viele Leute, ich würde sagen, Intellektuelle – nicht die bekanntesten – die ihrem inneren Wunsch nach gerne Guerilleros wären.

Frage: Sie erwähnen den Nationalen Dialog. Im Grunde gibt es doch zwei Dialoge. Einen der Regierung und der politischen Parteien und einen anderen, den die Zapatisten wollen – ohne Parteien – und vor kurzem in dem Ort La Realidad vorschlugen.

Antwort: Es existieren keine zwei Dialoge, nur einer, nur einer. Marcos sagt: Wir wollen nicht mit der Regierung und den Parteien reden – nicht direkt. Darum sollst Du Cocopa – weil Du mich davon überzeugt hast, daß Du bisher unabhängig bist – die Brücke sein, eine Art Telefon. Du wirst die Vorschläge der Regierung und den politischen Parteien überbringen. Es ist nur ein Diolag. Wenn es eine Veränderung, eine Reform gibt, wird das im Kongreß geschehen. Es gibt keinen anderen Weg. Sogar, wenn sie einen Verfassungskongreß vorschlagen. Diesen Kongreß erreichen entweder eine bewaffnete Gruppe, die die Regierung stürzt und dann den Kongreß einberuft oder verfassungsmäßige Abgeordnete, die vom Volk gewählt sind. Wieviele Leute haben in der Befragung der EZLN für den Krieg gestimmt? Niemand, oder sehr wenige. Alle sagten, wir wollen die EZLN als politische, friedliche Organisation. Keiner sagte, geh in die Berge, um zu kämpfen.

Frage: Bei dem ersten Treffen der Cocopa mit den Zapatisten in dem Ort La Realidad gab es so etwas wie ein Mini-Abkommen. Ein Punkt war ein Nationales Forum mit Beteiligung der EZLN. Die Cocopa wollte prüfen, ob sie die Promotion dieses Forums übernimmt. Gibt es da schon Fortschritte? Ist dies ein Thema bei dem zweiten Treffen, das gerade [am 16.10.] stattfindet?

Antwort: Nein, noch sind wir da nicht weiter. Es gibt noch einige offene Fragen, zum Beispiel: Was soll nach dem Forum kommen? Wenn wir es organisieren, was soll das Ergebnis sein? Eine Geburtstagsfeier, Erstkommunion, Hochzeit oder Beerdigung?

Frage: Soll heissen, Sie warten noch auf eine Erklärung der Zapatisten dazu…

Antwort: Ja, wir müssen das wissen. Wir verpflichten uns dazu. Wozu will sich die EZLN verpflichten?

Frage: In der Presse wurden Cocopa-Mitglieder dahingehend zitiert, sie könnten nicht zu jedem Termin gehen, der den Zapatisten in den Sinne komme. Hat es solche Kommentare gegeben?

Antwort: Ich habe davon nichts gehört. Ich kann natürlich nicht für alle sprechen, aber ich weiß davon nichts.

Frage: Ein erster Kommentar zu den Wahlen bitte. Auch zu der angeblichen Empfehlung der Zapatisten in letzter Minute an ihre Basis, nicht zu wählen.

Antwort: Was das angeht, so kommen wir zu einem alten Problem dieses Landes zurück. Wenn die fortschrittlichen Leute, die Leute, die die Veränderung wollen, nicht wählen, dann überlassen wir die Entscheidung den Leuten, die den Wechsel nicht wollen. Ich bin immer für Veränderungen eingetreten. Persönlich sympathisiere ich mit etlichen Vorschlägen der EZLN. Für diese Ideen habe ich mein ganzes Leben lang gekämpft. Ich werde weiter dafür kämpfen. Aber ich glaube, wenn wir ohne Krieg gewinnen wollen, dann müssen wir die Leute vom friedlichen Weg überzeugen. Wenn wir auf dem friedlichen Weg gewinnen wollen, ohne an den Wahlen teilzunehmen, dann handeln wir einfach falsch.

Frage: Es wird von einer Enthaltung bis zu 70 Prozent gesprochen, in Tuxtla Gutiérrez, der Hauptstadt von Chiapas, sogar von 80 Prozent. Haben die Wahlen denn da irgendeine Legitimität?

Antwort: Sicher, haben sie. Wenn Du keine Regierenden über den Wahlweg bestimmen willst, über welchen Weg dann? Wenn die Leute nicht wählen wollen, was wollen sie dann? Ich würde sie nach dem Weg fragen.

Frage: Aber Tatsache ist, die Mehrheit hat nicht gewählt. Aus welchem Grund auch immer…

Antwort: Sie haben ihre Stimme schon abgegeben: daß die anderen entscheiden sollen. Wenn sie wollen, daß die Minderheit entscheidet, dann ist das eine Entscheidung der Mehrheit, oder? In Mexiko entscheiden die Minderheiten seit langem. Wenn das die neue These der EZLN ist, dann stimme ich darin nicht mit ihr überein. Ich möchte, daß die Mehrheit entscheidet.

Frage: Welche Erwartungen haben Sie an das neue Treffen von Regierung und Zapatisten in diesen Tagen?

Antwort: Bisher gab es sieben Treffen, eins in San Miguel, sechs in Larráinzar und jetzt das achte. Da ist etwas erreicht worden, was viel Arbeit kostete. Sechs Treffen lang gab es fast keinen Dialog. Sie kamen nur zusammen, sie ärgerten sich, sie vertagten sich. Nun berät eine Arbeitsgruppe über die Rechte und die Kultur der Indìgenas. Wir halten es jedoch für sehr schwierig, alle Meinungen dazu in so kurzer Zeit einzuholen. Dieses Treffen darf nichts anderes als ein erstes Zusammenkommen sein. Man muß der Sache mehr auf den Grund gehen. Es wird fünf Arbeitsgruppen hier in San Cristóbal geben und eine in San Andrés Larráinzar. Aber ich glaube nicht, daß wir das Thema erschöpfend behandeln können. Denn in Mexiko gibt es 56 Ethnien, und vielleicht ein Drittel wird durch Delegierte repräsentiert sein.

Frage: Sie haben eine lange politische Laufbahn hinter sich. Ein persönliches Fazit?

Antwort: Ich habe mein ganzes Leben lang auf der Seite der Linken gekämpft. Ich war nie in der Regierung, obwohl mir wichtige Posten dort angeboten worden sind. Ich bin sehr zufrieden in der Opposition. Ich bin immer angegriffen worden, sowohl von der Regierung wie auch von den Compañeros in den eigenen Reihen. Das bringt der Beruf so mit sich. Die Zeit schafft Ordnung bei den Dingen und die Wahrheit treibt oben, wie man so sagt. Ich war immer davon überzeugt, daß die Dinge gut ausgehen, wenn man eine klare Konzeption hat. Wir sind vorangekommen, aber es ist noch viel zu tun. Ich sehe den Moment näherrücken, in dem die PRI nicht mehr die Regierung stellt. Ich hoffe, daß ich das noch erleben werde.

GUATEMALA

Rigoberta Menchú zu den Wahlen – Interview (Teil I)

(Guatemala, September 1995, alai-POONAL).- Die Präsidentschaftswahlen am 12. November werden von verschiedenen Gruppen als Gelegenheit angesehen, dem Land einen neuen Weg zu öffnen. Zum ersten Mal in der jüngeren Geschichte herrscht Einigkeit zugunsten der Stimmabgabe. Bei den vergangenen Wahlen für das Parlament gingen nur 7 Prozent der Bevölkerung zu den Urnen. Unter den Anstrengungen gegen die Enthaltung sticht die „Landesweite Kampagne für die BürgerInnenbeteiligung“ hervor, die von Rigoberta Menchú gefördert wird. Sally Burch sprach mit der Friedensnobelpreisträgerin von 1992 darüber. (das Interview wurde vor dem Massaker an den zurückgekehrten Flüchtlingen in Alta Verapaz aufgenommen; die Red.)

Frage: Wie entstand das Vorhaben, im Hinblick auf die Wahlen die Kampagne für die BürgerInnenbeteiligung in Gang zu setzen und was ist die wichtigste Absicht?

Antwort: Seit Mitte des vergangenen Jahres, hat die Stiftung, die meinen Namen trägt, einen Sitz in Guatemala. Unter den Plänen, die wir hatten, befanden sich die Pläne Bildung für den Frieden und Demokratie für den Frieden. Wir haben uns umgesehen, besonders verschiedene Mitglieder der Stiftung, die bei einigen Seminaren mit BürgerInnenkomitees mitarbeiteten. Sie [die Komitees] können Kandidat*innen für die Rathäuser aufstellen, aber nicht für das Parlament. Durch diese Mitarbeit haben wir verstehen gelernt, daß Guatemala in Wirklichkeit ein anderes Gesicht hat. Das heißt, nicht das zerstörte Guatemala, nicht das unterwürfige Guatemala, nicht nur ein unterdrücktes und deprimiertes Land, sondern ein Land mit vielen Initiativen. Besonders Initiativen, in denen Führungskraft der Indígenas auf örtlicher und regionaler Ebene zum Ausdruck kommt. Ein großer Wunsch der Gemeinden, das Vertrauen auf lokaler Ebene wiederherzustellen, aber auch der Wunsch, ihre politische Beteiligung an diesen Wahn zu definieren.

Wir sahen im Gegensatz zu anderen Jahren viele Erwartungen. Die Konjunktur erlaubte die Beteiligung von Gruppen, die niemals an den Wahlen teilgenommen haben und das ändert das nationale Panorama ein bißchen. Von diesen und vielen anderen Ansatzpunkten ausgehend, entschlossen wir uns im Januar, daß die Stiftung Menchú Tum Indígena-Initiativen unterstützen kann, sowohl was Abgeordnetenkandidat*innen, örtliche Initiativen um die Rathaussitze oder auch Posten in der öffentlichen Verwaltung angeht. Das sollte nicht bedeuten, speziell für eine politische Partei Stellung zu nehmen oder für einen Präsidentschaftskandidaten, aber wohl die Strömungen zu unterstützen oder zu animieren, die wir für wichtig einschätzen, um Guatemala zu demokratisieren.

Wie sieht dieses Unterstützung aus?

Nach unserer Entscheidung habe ich eine sehr behutsame Reise durch viele Gemeinden, viele Orte gemacht, gerade Orte, wo die Mehrheit Indígenas sind oder die Mehrheit aus jungen Leuten besteht, die nie an Wahlen teilgenommen haben. Ich war auch dort, wo der bewaffnete Konflikt tiefe Spuren hinterlassen hat. Wir haben weder [Wahl-]Kampagnen noch Aufrufe gemacht. Wir haben auch nicht gesagt, da kommt Rigoberta, sondern wir sind dort hingegangen, haben einen Kaffee auf dem Markt getrunken, einige Einrichtungen besucht, mit den Leuten gesprochen oder an irgendeinem örtlichen Fest teilgenommen. Dabei gelangten wir zu der Ansicht, es müsse eine viel stärkere Teilnahme der Nobelpreisträgerin geben. Es müsse ein viel genaueres Ziel abgesteckt werden – nicht nur im Rahmen der Wahlen, sondern daran denkend, daß wir in der Zukunft einige Programme hinsichtlich der Friedenserziehung und besonders der BürgerInnenbeteiligung sichern können.

Um dieser Absicht Form zu geben, begannen wir die Kampagne. Diese war alles andere als eine einfache Geburt. Der einzige Vorteil war, daß die revolutionäre Bewegung, die URNG, sich entschieden hatte, die Wahlen nicht zu boykottieren, sondern vielmehr die demokratischen Gruppen aufrief, an den Wahlen teilzunehmen. Auch die Volksorganisationen, die Mitglieder der Organisation für Gewerkschafts- und Volkseinheit (UASP), die bekannten Organisationen wie die der Witwen, der Campesinos und speziell der Mayagruppierungen des Landes entschieden sich für die Wahlbeteiligung. Seit April arbeiteten sie an einem demokratischen Bündnis, das schließlich zustande kam und an diesen Wahlen teilnehmen wird.

So ist in der Opposition ein allgemeines Klima zugunsten der Wahlbeteiligung entstanden. Das nutzt der landesweiten Kampagne, die wir machen, die keine politische Partei besonders unterstützt, sondern sich an die gesamte guatemaltekische BürgerInnenschaft wendet. In diesem Sinne führen wir sie in fünf Landessprachen durch: In Spanisch und in vier Mayasprachen. Wir haben dem Radio eine privilegierte Stellung eingeräumt, da unsere Leute in der Regel Analphabeten sind. Wir haben Spots in 34 Radiosendern des Landes. Doch wir sind ebenso in den drei nationalen Fernsehkanälen vertreten. Außerdem gibt es weitere Initiativen wie beispielsweise einen Plakatkurs, zu dem wir alle Maler*innen des Landes aufgerufen haben. Bis jetzt hat sich niemand gegen die Kampagne ausgesprochen oder seine Scham geäußert, etwas mit ihr zu tun zu haben. Das einzige, worauf wir achten, ist, daß sie nicht durch irgendeine PräsidentschaftskandidatIn oder irgendeine politische Partei manipuliert wird.

Zielt die Kampagne ausschließlich auf die Stimmabgabe?

Nein, sie ruft nicht nur die Bürger*innen auf, zu wählen, sie dient auch dazu, über die politischen Rechte zu informieren. In Guatemala haben wir viel gearbeitet, um die Menschenrechte, den Kampf gegen die Straffreiheit, den Kampf gegen die Unterdrückung, gegen die Zivilpatrouillen und für die Meinungsfreiheit zu betonen. Das heißt, die Menschenrechte in dem Sinn einer Verteidigung des Lebens. Aber niemand hat eine Arbeit gemacht, um die politischen Rechte, die BürgerInnenrechte zu verteidigen. Die Tatsache, daß die Indígenas das Wahlrecht besitzen, gibt ihnen gleichzeitig das Recht, gewählt zu werden. Also sollen sie auch eine Anstrengung machen, gewählt zu werden. Dennoch gibt es viele Probleme. Zum Beispiel wußten viele unserer Leute nie, daß sie sich einschreiben mußten, daß sie Ausweispapiere benötigten. In Guatemala gibt es Gebiete, in denen 80 Prozent der Frauen keine Papiere haben, nicht einmal eine Wohnsitzbestätigung. Wie sollen sie sich also einschreiben ohne Ausweis. Wir wissen, dass all diese Probleme nicht mit diesen Wahlen überwunden werden.

Der „Soldat des Volkes“ findet letzte Ruhestätte im Heimatland

(Guatemala, 20. Oktober 1995, cerigua-POONAL).- Etwa 5.000 Personen nahmen an der Beerdigung der Überreste des ehemaligen guatemaltekischen Präsidenten Jacobo Arbenz teil. Dieser war 1954 durch einen Militärputsch abgesetzt worden, bei dessen Inszenierung der amerikanische Geheimdienst CIA beteiligt war. Der Beerdigungsakt endete mit Protestdemonstrationen gegen die Wirtschaftspolitik der Regierung und das Massaker an 11 Campesinos vor gut zwei Wochen. Auf das Drängen der Arbenz-Witwe blieb der Sarg vor dem Begräbnis noch eine Nacht lang im Nationalpalast. Bereits dort defilierten Tausende vor den Überresten des „Soldaten des Volkes“. Oberst Jacobo Arbenz wurde Ende 1950 demokratisch gewählt und regierte das Land von 1951 bis 1954. Er leitete eine Reihe von politischen und wirtschaftlichen Reformen ein. Unter anderem fing Arbenz an, mit der Agrarreform ernst zu machen. Dies beeinträchtigte die Interessen von transnationalen Unternehmen wie der United Fruit Company und trug Arbenz die Feindschaft der USA ein. Nach seinem Sturz ging Arbenz nach Mexiko ins Exil, wo er 1971 starb. Sein Leichnam wurde nach El Salvador überführt. Von dort kehrten die sterblichen Überreste am Donnerstag nach Guatemala zurück.

Den Sarg trugen Studenten und Arbeiter – ursprünglich sollten es Kadetten sein – auf ihren Schultern vom Nationalpalast zum Hauptfriedhof der Stadt. Universitätsstudent*innen und Mitglieder von Gewerkschaftsorganisationen forderten dort von Präsident Ramiro De León Carpio, die gleiche Politik einzuschlagen wie Arbenz. Sie forderten auch ein baldiges Programm zur Landverteilung und Maßnahmen gegen die Straffreiheit von Militär und Polizeikräften. Dabei erwähnten sie das Massaker der Soldaten an den Campesinos in der Provinz Alta Verapaz vor zwei Wochen. Die Proteste verliefen friedlich. Eine angespannte Situation trat nur ein, als der neue guatemaltekische Verteidigungsminister Marco Antonio González zum Friedhof kam. Dieser blieb in seinem Auto, nachdem die Menschenmenge ihn mit Rufen wie „Mörderarmee, raus aus dem Land“ ausbuhte.

ECUADOR

Vizepräsident Dahik flieht

(Mexiko-Stadt, 14. Oktober 1995, POONAL).- Die politische Krise in Ecuador nimmt immer skurrilere Formen an. Vizepräsident Alberto Dahik erklärte seinen Rücktritt und floh in einem Privatflugzeug nach Costa Rica, nachdem der Oberste Gerichtshof einen Haftbefehl wegen des Vorwurfs der Korruptions gegen ihn aussprach. Dahik bat in dem mittelamerikanischen Land bereits um Asyl und erklärte sich als „politisch Verfolgter“. Der stellvertretende costarikanische Außenminister berichtete über eine angebliche Staatsstreichdrohung des ecuadoreanischen Militärs, falls Präsident Sixto Durán Ballén seinen – ehemaligen – Stellvertreter weiter stütze. Die Streitkräfte Ecuadors und die Regierung Ballén dementierten diese Version. Um die Verwirrung komplett zu machen, trat am 10. Oktober Ecuadors Innen- und Polizeiminister Abraham Romero „unwiderruflich“ zurück, weigerte sich jedoch, konkrete Motive zu nennen.

Die genauen Umstände von Dahiks Flucht sind noch nicht geklärt. Carlos Sólorzano, der Präsident des Obersten Gerichtshofes, hatte die Ein- und Auswanderungsbehörde angewiesen, den Ex- Vizepräsidenten am Verlasssen des Landes zu hindern. Offensichtlich gelang diesem sein Vorhaben jedoch ohne größere Schwierigkeiten. In Cali, Kolumbien, machte das Flugzeug noch eine Zwischenstation. Die kolumbianischen Behörden gaben offiziell an, es habe kein internationaler Haftbefehl vorgelegen. Darum sei Dahik nicht festgehalten worden. Nach anderen Versionen gab sich Dahik erfolgreich als Mitglied der Flugzeugcrew aus. Der Fluchtort Costa Rica scheint mit Bedacht gewählt. Zwischen diesem Land und Ecuador besteht kein Auslieferungsvertrag. Mit dem ehemaligen costarikanischen Vizepräsidenten Germán Serrano Pinto ist Dahik zudem persönlich befreundet. In seinem Heimatland wird er von Durán Ballén gedeckt. Der Präsident verweigert dem Obersten Gerichtshof den Zugang zu bei der Zentralbank gelagerten Mikrofilmen, die Auskunft über Staatsgelder geben, die Dahik veruntreut haben soll. Die Filme werden als Schlüsselelement für den Strafprozeß angesehen. Durán Ballén rief auch seinen Amtskollegen José Figueres in Costa Rica an, um sich für den Asylantrag Dahiks einzusetzen. Figueres äußerte sich danach hinsichtlich des „Ungerechten und auch Illegalen und politisch Gefärbtem des Prozesses, der Dahik angehängt werden sollte“. Letzterer hat vorerst ein verlängerbares Touristenvisum von 30 Tagen.

LATEINAMERIKA

Radioserie über bekannte Frauen

(Quito, 26. September 1995, sem-POONAL).- Das Internationale Zentrum der Kommunikationsstudien für Lateinamerika (CIESPAL) mit Sitz in der ecuadoreanischen Hauptstadt stellt in einem Radioprogramm 39 Frauen des Kontinents aus diesem Jahrhundert vor. „Neue Frauen unseres Amerikas“ heißt die Serie. Zu den präsentierten Personen gehören die argentinische Sängerin Mercedes Sosa, die salvadoreanische Ex-Guerillakommandantin Ana Guadalupe Martínez und die mexikanische Schriftstellerin Elena Poniatowska. Die Idee entstand im Rahmen eines Ausbildungs- und Programmprojektes für das Radio, das vom CIESPAL organisiert und von den Niederlanden finanziell unterstützt wurde. Frauenorganisationen aus Lateinamerika und ehemalige CIESPAL- Stipendiaten schlugen 300 Frauen vor. Die CIESPAL-Mitarbeiter*innen nahmen die Endauswahl vor. Zu den Zielen der Serie gehört nicht nur die Bereicherung der Radioprogramme auf dem Kontinent, sondern auch der Anreiz einer Debatte über die Frauen. Laut Lucía Lemus vom CIESPAL wird gezeigt, daß die Frau „immer bei unzähligen Aktivitäten präsent war. Selbst, wenn die Geschichte diese Beteiligung nicht registriert hat“.

MITTELAMERIKA

Schlagzeilenträchtige Wirtschaftsreformen

(San José, Oktober 1995, icode-POONAL).- Die neoliberalen Wirtschaftsreformen waren in der ersten Jahreshälfte das Hauptthema in den mittelamerikanischen Zeitungen. Dies ergab eine Untersuchung von ICODE, die die 30 wichtigsten Zeitungen der Region nach zehn ausgewählten Themen unter die Lupe nahm. Am zweithäufigsten erschien das Thema öffentliche Sicherheit in der Presse. In dem 160seitigen Abschlußbericht von ICODE sind eine allgemeine Analyse sowie Statistiken und Tabellen – auch nach Ländern geordnet – enthalten. Der Bericht wird Ende Oktober der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

Beratung für offizielle Menschenrechtsbüros

(San José, Oktober 1995, icode-POONAL).- Mit Geldern der Europäischen Union berät ICODE die offiziellen Menschenrechtsbüros in El Salvador, Guatemala, Costa Rica und Honduras. Das Programm wird bis zum Jahresende auf Panama und Nicaragua ausgeweitet. Bis zu diesem Zeitpunkt ist in den beiden Ländern vorgesehen, entsprechende Instanzen zur Verteidigung der Menschenrechte zu schaffen. In den erstgenannten Ländern wird auf Initiative von ICODE derzeit eine Umfrage durchgeführt, die Aufschluß über die Akzeptanz der jeweiligen offiziellen Menschenrechtsinstitutionen geben soll. Für diese Datenerhebung ist das Zentralamerikanische Netz von Nicht-Regierungsinstituten der Öffentlichen Meinung (RECOP) verantwortlich, das sich im August gründete.

LATEINAMERIKA

Erster Schwarzen-Kongreß geplant

– von Osvaldo León

(Quito, 18. Oktober 1995, alai-POONAL).- Seit einigen Jahren gibt es überall in Amerika eine Mobilisierung der ethnischen Völker und Gemeinden, die einem Kolonialregime und Herrschaftsschemata unterworfen wurden. Ihr Handeln führt nicht ohne Widerstände dazu, daß der Kontinent seine Beschaffenheit aus multikulturellen und pluriethnischen Gesellschaften anerkennt. Die Negation dessen bildet die Hauptquelle des bestehenden Rassismus und der daraus resultierenden Ungerechtigkeiten. Ein Faktor, der die Entwicklung katalysierte war die Erinnerung an den 500. Jahrestag des Beginns der spanischen Eroberung. Dabei spielte die „Kontinentale Kampagne 500 Jahre Indìgena-, Schwarzen- und Volkswiderstand“ eine bedeutende Rolle. Sie erlaubte, daß die Stimme der geschichtlichen Opfer der Verheerung, die die „Entdeckung der Neuen Welt“ mit sich brachte, hörbar wurde. Sie trug zu Vorschlägen bei, um gemeinsam unter dem Kriterium „Einheit in der Vielfalt“ voranzukommen. Im Kontext dieser Dynamik wird es vom 21. bis 25. November 1995 in Sao Paulo den I. Kontinentalkongreß der schwarzen Völker Amerikas geben. Das Ereignis ordnet sich in die Feierlichkeiten des 300. Todestages (20. November 1695) von Zumbi ein. Dieser war ein Guerillakommandant, der den Widerstand anführte, den eine Schwarzenorganisation im heutigen brasilianischen Bundesstaat Alagoas mehr als 50 Jahre gegen die Sklaverei leistete.

Um den Kongreß vorzubereiten, hat sich eine Koordination aus dem Nationalen Forum der Schwarzen Gruppen und der brasilianischen Kommission der Kontinentalen Indìgena-, Schwarzen- und Volksbewegung gebildet. Juan Tadeu Xavier, ein Mitglied der Koordination kündigt für das Treffen eine „gründliche Reflexion über die Auswirkungen des neoliberalen Projektes in den Ländern der Dritten Welt, insbesondere Lateinamerikas“, an. In allen Ländern des Kontinentes, so Tadeu, gehörten die Schwarzen mehrheitlich zu den marginalisierten Gruppen und seien darum direkte Opfer des sozialen Abbauprogrammes, das der Neoliberalismus durchsetze. Dazu komme „eine besondere Situation der Nachfahren Afrikas wegen der Neuaktivierung des Rassismus“. Es gebe zwei offensichtliche Formen des Völkermordes. Die offizielle Form bestehe in der Fahrlässigkeit des Staates, der seine soziale Verantwortung abgebe. Die nichtoffizielle Form realisierten paramilitärische Killergruppen. In Brasilien sind die Opfer dieser Aktionen nach Tadeu „hauptsächlich Schwarze im Alter zwischen 15 und 17 Jahren“.

Die Afroamerikaner machen auf dem Kontinent etwa 116 Millionen Menschen aus, 20 Prozent der gesamten Bevölkerung. Doch ihre Präsenz wird praktisch kaum wahrgenommen. Auf öffentlicher und institutioneller Ebene sind sie unsichtbar, ihre Beiträge werden systematisch ignoriert, unwirksam gemacht oder abqualifiziert. Tadeu sieht eine Aufgabe des Kongresses darin, die schwarzen Gemeinden als einen wichtigen Faktor bei der Bildung der verschiedenen Länder gestern und heute hervorzuheben und den vollen Respekt vor ihren BürgerInnenrechten einzufordern. Der Schwarzenführer sieht die Schwarzenbewegungen „politisch gereift“. Speziell für die Afrobrasilianer*innen ist die Anerkennung von Zumbi de los Palmares als ein „Held Amerikas“ eine konkrete Form, den historischen Beitrag der schwarzen Völker für die Unabhängigkeit des Kontinents zu bekräftigen. „Es gibt keinen Zweifel, daß Zumbi eine der großen schwarzen Persönlichkeiten war, der die politisch-soziale Identität Lateinamerikas dachte, denn sein Kampf hatte eine kontinentweite Dimension, für Freiheit, Souveränität, Unabhängigkeit, Landbesitz, für die Identitätsbejahung der marginalisierten Gruppen, für die Möglichkeit einer alternativen Technologie, die nicht die durch die Krone auferlegte sein sollte. Das heißt: Es war ein umfassender Kampf für die (Selbst)-Bestätigung und Würde, die wir retten müssen“, führt Tadeu Xavier aus.

Er hebt die Bedeutung des I. Kongresses hervor, was die Organisiertheit angeht. Er wünscht einen „konkreten Beitrag, damit die schwarzen Organisationen und Bewegungen ständige Artikulationsmechanismen festlegen, damit ihre besonderen Kämpfe international vorgetragen werden können. Andere an den Rand gedrängte Gruppen wie die Indìgenas, die Frauen, die Campesinos haben diesen Schritt erreicht, aber die afrikanischen Nachfahren noch nicht“. Tadeu sieht darin nicht eine fehlende internationalistische Vision, sondern macht die militärische Besetzung Granadas durch die USA dafür mitverantwortlich. Auf Granada sollte 1984 das vierte Treffen der schwarzen Kulturen Amerikas stattfinden. Jetzt wird ein neuer Anlauf gemacht. Dabei wird die Einheit mit anderen Minderheiten ein wichtiges Thema sein. Der brasilianische Schwarzenführer dazu: „Wir wollen ein Bündnis nicht nur taktischer Art, um uns einem Projekt entgegenzustellen und es zu stoppen – wie das des Neoliberalismus – sondern es soll eine Strategie sein, um die Politik der Trennung, des Völkermordes, der Marginalisierung zu revidieren und in zukünftige Politiken des Zusammenschlusses zu führen.“

KUBA

US-Kongreß stimmt für Verschärfung der Wirtschaftsblockade

– von Orlando Perez S.

(Quito, 17. Oktober 1995, alai-POONAL).- Gegen die internationale öffentliche Meinung und gegen jegliche diplomatische Logik eilen Senator Jesse Helms und der Abgeordnete Dan Burton durch die Gänge des US-Kongresses und gewinnen Stimmen für das Gesetz, das ihren Namen trägt. Ihren jüngsten Triumph erreichten sie am 21. September, als die Repräsentantenkammer mit 294 gegen 130 Stimmen für die Gesetzesinitiative mit dem offiziellen Namen „Gesetz für die Freiheit und Demokratische Solidarität Kubas 1995“ stimmte. Um gültig zu werden, fehlt noch die Zustimmung des nordamerikanischen Senats (diese Zustimmung kam am 19. Oktober, allerdings mit kleinen Einschränkungen. Senat und Repräsentantenhaus müssen sich noch auf eine endgültige gemeinsame Version einigen; die Red.). Der Erfolg der Offensive von Helms gegen die Regierung von Fidel Castro ist dennoch nicht sicher. Bei einer Zustimmung des Senats könnte US-Präsident Clinton noch sein Veto einlegen, wie er es wiederholt angekündigt hat.

Mit dem Gesetz würde die Absurdität – so sieht es ein Gutteil der öffentlichen Meinung in den USA – auf die Spitze getrieben. So würde sich beispielsweise Robert Torricelli, demokratischer Abgeordneter und eiserner Anti-Castrist, Förderer und Namensgeber eines 1992 verabschiedeten Gesetzes zur Verschärfung des Embargos, selbst schädigen: Er investiert sein Geld indirekt in die Insel. Torricelli ist Aktienhalter von Scudder Stevens & Clark Latin American Fond, einer Börsenfirma, die Geldfonds an Unternehmen verleiht, die Geschäfte mit Kuba machen. Dennoch war die Entscheidung vom 21. September für die Kubaner*innen keine Überraschung. „Das wird uns nicht den Schlaf rauben“, reagierte Vizepräsident Carlos Lage. „Auf der Insel wird alles seinen gewohnten Gang gehen“. Und Außenminister Roberto Robaina sekundierte: „Wir sind auf das Schlimmste vorbereitet. Kuba beobachtet aufmerksam, was im US-Kongreß passiert… wir vertrauen darauf, daß sich Intelligenz und rationales Denken durchsetzen.“

Auf das Vorrücken des Helms-Burton-Projektes antwortet Kuba mit einer langen Liste von Forderungen an die USA. Darin sind neben den Schäden durch die Wirtschaftsblockade die Schäden durch Raub und Verbrechen unter der Diktatur von Fulgencio Batista aufgeführt. Eine kubanische Parlamentskommission sucht eifrig Daten zusammen, um die Forderungen zu untermauern. „Wir bearbeiten 25.000 Akten von Personen, die heute überwiegend in Miami leben“, informiert der Abgeordnete Lázaro Barredo, stellvertretender Vorsitzender der Kommission für internationale Angelegenheiten des kubanischen Parlamentes. Die Liste sieht Entschädigungen für etwa „20.000 ermordete Kubaner*innen“ unter dem „mit den USA verbündeten“ Batista-Regime vor. Auch die Schäden aus der 1961 gescheiterten Invasion in Playa Girón (als Schweinebuchtinvasion bekannt) sind aufgeführt. Bisher steht die Höhe der Gegenforderungen noch nicht fest. Laut Barreda zeigen Dokumente der Nationalbank Kubas, daß allein einige Ex-Funktionäre der Diktatur vor dem Triumpf der Revolution 480 Millionen Dollar aus dem Staatsvermögen unterschlugen.

Die US-Regierung hat traditionell von Kuba die Entschädigung für die enteigneten nordamerikanischen Besitztümer nach der Machtübernahme Fidel Castros gefordert. Das Helms-Burton-Gesetz beinhaltet eine Klausel, in der diese Forderung auf die enteigneten Kubaner*innen ausgedehnt wird, die die US- Staatsbürgerschaft annahmen (diese Klausel wurde für die Abstimmung im Senat gestrichen, um dort eine Mehrheit zu bekommen; die Red.). Der kubanische Parlamentspräsident Ricardo Alarcón warnt: „Wenn sie ihre Forderung ausweiten, um dort die Mörder und Geldveruntreuer einzuschließen, dann wird auch unsere Rechnung das einschließen, was diese Leute raubten und welchen Schaden sie zum Nachteil des Volkes verursachten.“ Den US-Abgeordneten rät Alarcón, „den Bleistift anzuspitzen, denn angesichts ihrer Forderungen erhöhen auch wir unsere Forderungen, und die Rechnungen werden in Höhen wachsen, die sie sich nicht vorstellen können“.

Wenn die Ursprungsfassung des Helms-Burton-Gesetzes durchkäme, würden die USA von Kuba etwa 100 Milliarden Dollar an Entschädigungen für das Eigentum ehemaliger Kubaner*innen verlangen, die heute US-Bürger*innen sind. Bei Einkünften von 2 Milliarden Dollar 1994 würde die Insel ein halbes Jahrhundert brauchen, um zu bezahlen – wenn alles Geld für die Schuldenzahlung verwendet würde. Die kubanische Regierung hat die Entschädigung enteigneten ausländischen Besitztums verhandelt. Unternehmer aus aller Welt kamen zu Einigungen mit der Regierung Fidel Castros – mit Ausnahme der durch ihre Regierung unterstützten US- Amerikaner*innen. Sie wollen die Rückgabe ihres Eigentums oder eine Zahlung, die weit über dem Angebot der kubanischen Regierung liegt. Alarcón spricht von etwa 5.900 nordamerikanischen Unternehmen, die eine Entschädigung von insgesamt 5,8 Milliarden Dollar erhalten könnten. „Kuba ist immer bereit gewesen, diese Entschädigungen alleine zu bezahlen. Um dies zu erreichen, müssen wir uns zusammensetzen und mit den USA im Rahmen von Gleichheit und gegenseitigem Respekt analysieren“, sagt der Parlamentspräsident.

Trotz der Sanktionsdrohungen durch das US-Gesetz glaubt in Havanna derzeit niemand, daß eine der rund 600 Auslandsrepräsentationen, die auf der Insel akkreditiert sind, das Land verlassen wird. Die kubanische Handelskammer bekommt ständig neue Anträge. 230 gemischte Unternehmen (Joint Ventures) mit einem Kapital von zusammen 2,1 Milliarden Dollar bestehen bereits. 200 Projekte mit gemeinsamen Investitionen befinden sich noch in der Untersuchungsphase. Die ausländischen Unternehmer*innen, die bereits auf der Insel sind, scheint das Gesetzesprojekt nicht sonderlich zu beunruhigen. In den USA selbst wächst das Interesse. In diesem Jahr kamen etwa tausend nordamerikanische Geschätsleute nach Kuba, um Handels- und Investitionsmöglichkeiten zu erkunden. Mindestens hundert unterschrieben Absichtserklärungen. Das kubanische Studienzentrum über die USA (CESEU) kommt zu dem Ergebnis: „Der Helms-Burton-Gesetzesvorschlag kann die Investitionsentwicklung von Auslandskapital auf Kuba nicht stoppen, höchstens verlangsamen.“ Der Bericht sieht die größten Gefahren im Druck, den die US-Regierung ausüben könnte, damit Kuba nicht dem Internationalen Währungsfonds (IWF), der Weltbank oder der Interamerikanischen Bank beitritt und zwar genau in einem Moment, in dem Kuba versucht, „Finanzierungsprobleme der Auslandsschuld zu lösen“.

Kuba schuldet westlichen Ländern etwa 10,8 Milliarden Dollar. Dazu kommt eine nicht bekannte Summe gegenüber der ehemaligen Sowjetunion und den Staaten Osteuropas. Die Schuldenverhandlungen mit dem Pariser Club blieben ergebnislos. Die kubanischen Expert*innen gehen davon aus, daß der Zugang zu internationalen Finanzquellen eine notwendige Bedingung für die Überwindung der Wirtschaftskrise ist. Die Direktinvestitionen, die Auslandseinkünfte bringen, spielen demnach bisher eine geringere Rolle. Das Helms-Burton-Gesetz will Länder und Unternehmen sanktionieren, die mit der Insel handeln. Dieser über das eigene Land hinausgreifende Charakter hat eine Unzahl von Erklärungen, Briefen, Memoranden und Dokumenten von Verbündeten der USA verursacht. Diese weisen nicht nur das Gesetz zurück, sondern drohen mit Bestrafungen für Unternehmen, die sich ihm unterwerfen. Dies ist der Fall von Kanada, Mexiko, und den Ländern der Europäischen Union. Das Gesetz würde die nordamerikanischen Verpflichtungen im internationalen Handel beeinträchtigen. Ein Beispiel: das Gesetz verbietet den Import von Produkten, die irgendeinen Bestandteil haben, der aus Kuba kommt. Kanada würde demnach nicht mehr wie bisher jährlich 500.000 Tonnen Zucker in die USA exportieren.

Ein anderes Beispiel: Der Präsident soll den US-Kongreß regelmäßig und detailliert über die Handels- und Finanzbeziehungen Kubas informieren – einschließlich der Produktbeschreibungen, Geldsummen, Unternehmen, Personen. Das erfordert ein Budget, Personal und eine technische Infrastruktur, die den Anforderungen eines Ministeriums gleichkommen. Unmöglich ist es – so wie es das Gesetz vorsieht – daß jeder Person und deren Lebensgefährten das Einreisevisum in die USA verweigert wird, die Aktienhalter oder Angestellte eines Unternehmens sind, das Geschäfte mit Kuba macht oder mit enteignetem nordamerikanischem Besitz „handelt“. Das würde endlose schwarze Listen bedeuten, die von den Konsulaten und den nordamerikanischen Fluglinien nicht zu kontrollieren wären. So betreibt das Sheritt-Unternehmen aus Kanada Nickelinvestitionen auf Kuba. Es befindet sich im Eigentum einer Minengewerkschaft. Die 2.000 Arbeiter plus Ehefrauen plus leitende Angestellte machen etwa 5.000 Personen aus, die der nordamerikanischen Einwanderungskontrolle unterfielen. Als Kanadier*innen brauchen sie jedoch kein Visum für die USA.

Nach Castros Meinung würde Bill Clinton zur Geisel einer Politik, die von einer „ultraradikalen“ Minderheit diktiert ist und er hätte keinen Spielraum, seine Außenpolitik zu führen. Expert*innen sehen auch auf die Wirkung innerhalb der Insel: Angesichts des äußeren Drucks durch das Helms-Burton-Gesetz würde sich die Regierung jeglicher „demokratischen Öffnung“ verschließen. Um „Vaterland, Revolution und Sozialismus“ zu retten, könnte sie an die „Geschlossenheit“ gegenüber dem System und dessen obersten Führer, Fidel Castro, appellieren. Derzeit existiert auf Kuba – von einigen Presseartikeln und Radiokommentaren abgesehen – keine Alarmstimmung. Die Leute erwarten auch keinen störenden Einfluß des Gesetzes auf ihr tägliches Leben. Viele fragen sich sogar: Wenn die USA Fidel Castro nicht in vier Jahren der Spezialperiode durch wirtschaftliche Strangulierung stürzen konnten, wie wollen sie es jetzt erreichen, wo die kubanische Wirtschaft Anzeichen einer leichten Erholung offfenbart?

CHILE

Contreras endlich im Gefängnis

(Mexiko-Stadt, 21. Oktober 1995, POONAL).- Am Samstag bestätigte der chilenische Justizminister Soledad Alvear die Überstellung von Manuel Contreras in das Gefängnis Punta Peuco, 40 Kilometer nördlich der Hauptstadt Santiago. Der General im Ruhestand und ehemalige Geheimdienstchef unter dem Diktator Pinochet trat damit mit mehreren Monaten Verspätung seine siebenjährige Haftstrafe an. Der Oberste Gerichtshof des Landes hatte ihn als intellektuellen Urheber für den Mord an Salvador Allendes Außenminister Orlando Letelier und dessen Sekretärin in den 70er Jahren verurteilt. Conteras entzog sich dem Haftantritt durch den Rückzug in ein Marinekrankenhaus. Wegen angeblicher Krankheiten verlängerte er unter dem Schutz der Streitkräfte seinen Aufenthalt und ging – erfolglos – gerichtlich gegen das Urteil vor. Nach monatelangem Tauziehen mit der Regierung und der Justiz mußte die Armee am Ende nachgeben. Dies bedeutet auch einen Niederlage für Pinochet, der immer noch Chefkommandant der Streitkräfte ist.

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