Poonal Nr. 170

Deutsche Ausgabe des wöchentlichen Pressedienstes lateinamerikanischer Agenturen Nr. 170 vom 22.11.1994

Inhalt


MEXIKO

VENEZUELA

HAITI/DOMINIKANISCHE REPUBLIK

KUBA

URUGUAY

GUATEMALA

HAITI


MEXIKO

EZLN gibt sich kampfbereit und selbstkritisch

(Mexiko-Stadt, 19. November 1994, POONAL).- Die Nationale Zapatistische Befreiungsfront (EZLN) ist bereit, den bewaffneten Kampf ohne Zögern wieder aufzunehmen, wenn ihre zivile Führung es befiehlt. Dies erklärte der Rebellenführer Subcomandante Marcos in einer langen Rede zum Jahrestag des elfjährigen Bestehens der Nationalen Zapatistischen Befreiungsarmee (EZLN) am 17. November, die er vor etwa 1.500 Mitgliedern der Aufständischen im chiapanekischen Urwald hielt. Der mexikanischen Öffentlichkeit wurde die Rede am Wochenende bekannt. Marcos versicherte, die Guerilla werde „immer stärker“. Für den Fall des erneuten Krieges kündigte er eine Erhebung „in den Bergen im Norden und Nordwesten, im Süden, Westen und im Zentrum Mexikos“ an. Der längst zur Symbolfigur der EZLN gewordene Marcos ließ jedoch auch Selbstkritik erkennen. Im Zusammenhang mit seiner Sprecherrolle sprach er von „protagonistischen Exzessen“. Er habe sich nicht selten in seiner Wortwahl geirrt. Genauso gab er zu, die Zapatisten hätten nicht immer die Menschenrechte der Zivilisten respektiert. Andere Fehler seien der „politischen Unbeholfenheit“ zuzuschreiben.

Zapatistische Guerilla ist bereit, den bewaffneten Kampf wieder aufzunehmen

Marcos ging auch kurz auf die Gründung der Guerilla vor elf Jahren ein. Am 17. November 1983 habe eine Gruppe von sechs Männern und Frauen – drei Indígenas und drei Mestizen – das erste Guerillacamp im Lacondon-Urwald gegründet. Daraus sei nach und nach die Rebellenarmee entstanden, die zehn Jahre später auf Beschluß ihrer Führung der mexikanischen Regierung den Krieg erklärte. Für diese Regierung hatte der Sprecher der Zapatist*innen kein gutes Wort übrig. Insbesondere den Präsidenten Carlos Salinas de Gortari griff Marcos mit äußerster Schärfe an. Salinas trage die Verantwortung für den Mord an dem Präsidentschaftskandidaten Luis Donaldo Colosio. Er habe den Konkurrenten eliminieren lassen, um „sich an der Macht zu verewigen“. Salinas weise „eindeutige Zeichen von Schwachsinn“ und das Krankheitsbild einer „verschärften Schizophrenie“ auf. Das Schicksal der großen mexikanischen Nation sei in den Händen einer Person, der die Arroganz der Macht jegliches vernünftige Denken unmöglich gemacht habe. In Anspielung auf den Mord am Generalsekretär der Regierungspartei PRI sprach er von einer sich im Todeskampf befindlichen Staatspartei, die damit drohe, „das gesamte Land mitzureißen“.

Angesichts der offiziellen Amtsübergabe von Salinas an Ernesto Zedillo am 1. Dezember und der beabsichtigen Amtseinführung des von der Opposition nicht akzeptierten Ernesto Robledo als Gouverneur von Chiapas am 8. Dezember gewinnt der scharfe Tonfall der Rede eine besondere Bedeutung. Wieder einmal scheint der Krieg in Mexiko wahrscheinlicher als der Frieden. Allerdings ließ auch Marcos in seiner Rede die Hoffnung auf eine friedliche Lösung durchschimmern: Die EZLN sei nach wie vor von der Notwendigkeit überzeugt, sich selber „unnütz und überflüssig“ zu machen.

VENEZUELA

Wirtschaftskrise treibt die Kriminalität in die Höhe

– Von Giovanna Merola

(Caracas, November 1994, fempress-POONAL).- Die tiefe ökonomische, politische und soziale Krise in Venezuela wird begleitet von einem bemerkenswerten Anstieg der Kriminalität. Der jüngste bekannte Fall ist der von drei weiblichen Jugendlichen zwischen dreizehn und achtzehn Jahren. Sie überfielen und töteten eine achtzehnjährige Mutter, um ihr die Markenschuhe im Wert von etwa 150 Dollar zu rauben. Die Tat geschah an einem Sonntagnachmittag mitten im Stadtzentrum. Zur Zeit sitzen 953 Straftäterinnen – das sind 3 Prozent aller Häftlinge, ihre Strafe in den Besserungsanstalten und Gefängnissen ab. Die meisten davon haben bereits ihr Urteil bekommen.

In den letzten Jahren hatten die Verhaftungen von Frauen in der Regel mit Drogendelikten und ähnlichem zu tun. Das durchschnittliche Alter der Frauen liegt zwischen 25 und 38 Jahren. In jüngster Zeit werden jedoch Verbrechen registriert, mit denen die Frauen in Venezuela vorher nie etwas zu tun hatten. Aufgrund der steigenden Zahl dieser Fälle haben im September dieses Jahres das Justizministerium, verschiedene Anwaltsorganisationen und der Frauenlehrstuhles der Universität von Carabobo die „Erste Nationale Tagung zur Situation der inhaftierten Frau“ organisiert. Es ging um Rehabilitationsmaßnahmen und präventive Maßnahmen.

Zu den Vorschlägen gehören: Arbeitsprojekte innerhalb der Gefängnisse und Projekte wie zum Beispiel die Alphabetisierung, die von der Regierung, Justizbehörden, Universitäten und Nicht-Regierungsorganisationen durchgeführt werden. Auch Kinderkrippen in allen Frauentrakten der Gefängnisse sind vorgeschlagen. Eine Kinderstiftung soll die Ausbildung der Kinder der Inhaftierten betreuen. Sicherheits- und Disziplinmaßnahmen sollen Schwangerschaften der Inhaftierten vermeiden. Außerdem soll die Infrastruktur ausgebaut werden, um den Frauen das Recht auf Privat- und Familienbesuch einräumen zu können. Eine weitere Forderung ist eine umfassende juristische, Gesundheits- und Sozialfürsorge. Ohne Zweifel ist das Anwachsen der weiblichen Kriminalität jedoch ein Bestandteil der alle Bereiche umfassenden Krise, die das Land durchmacht. Ein Rückgang wird nur erreicht werden können, wenn der wirtschaftliche und politische Kurs wieder auf die Grundbedürfnisse der Bevölkerung Rücksicht nimmt.

HAITI/DOMINIKANISCHE REPUBLIK

Ausweisung von ehemaligem haitianischen Polizeichef gefordert

(Port-au-Prince, November 1994, hib-POONAL).- Eine wachsende Anzahl von Organisationen und politischen Parteien in der Dominikanischen Republik fordert die Ausweisung des ehemaligen haitianischen Polizeichefs Michel Francois und anderer Mitglieder des ehemaligen haitianischen Regimes. Die Abgeordnetenkammer des Landes verabschiedete bereits am 11. Oktober eine entsprechende Resolution. Die Regierung hat bisher noch nicht darauf geantwortet. Francois kam am 4. Oktober mit einem von Präsident Joaquin Balaguer autorisiertem Touristenvisum in das Land. Er befindet sich in der Gesellschaft zahlreicher anderer haitianischer Putschteilnehmer*innen und -Unterstützer*innen.

KUBA

Der Tiefpunkt der Krise ist erreicht

– Interview mit Gustavo Véliz Olivares vom Kubanischen Institut

für Völkerfreundschaft (ICAP) am 11. November 1994

Für den 21. bis 25. November 1994 hat das Kubanische Institut für Völkerfreundschaft (ICAP) mit 30 weiteren kubanischen Organisationen zum „Weltweiten Solidaritätstreffen mit Kuba“ in Havanna aufgerufen.

Frage: Was ist der Sinn des Treffens?

Olivares: Die Initiative entstand auf dem Zweiten Lateinamerikanischen Freundschafts- und Solidaritätstreffen mit Kuba im April 1993. Es wurde vorgeschlagen, sie auf Weltniveau auszuweiten. Jugend- und Frauenorganisationen machen ebenso mit wie religiöse Gruppen. Wir rufen alle Personen auf, die ein Solidaritätsgefühl mit Kuba haben, die den Austausch mit Kuba auf den verschiedensten Ebenen wichtig finden, die einfach die kubanische Realität kennenlernen wollen. Wir erwarten Ideen, Standpunkte. Wir wollen nicht, daß die Leute nur kommen, um Kuba zu sehen und zu applaudieren. Das wäre eine passive Beteiligung. Wir wollen Vorschläge, eine Diskussion, bei der am Ende alle gewonnen haben. Das heisst andererseits natürlich nicht, daß Kuba alles machen wird, was die Solidaritätsbewegung uns sagt.

Frage: Worum geht es konkret?

Olivares: Das Treffen soll Kuba in seiner Selbstbestimmung unterstützen. Die kubanische Souveränität wird von der US- Regierung angegriffen. Die Blockade bringt viele nachteilige Situationen mit sich. Immer noch müssen wir ein Medikament in Asien oder einen Herzschrittmacher in Australien kaufen, obwohl es ohne Embargo 90 Meilen entfernt in Florida möglich wäre.

Ein Forum gegen das Wirtschaftsembargo

Die Veranstaltung kann ein Forum für die vielen Menschen jeder politischen Richtung, jeder politischen Partei sein – ohne Unterscheidung zwischen religiöser, politischer oder ideologischer Überzeugung -, die die Blockade unmenschlich finden. Es wird drei Arbeitskommissionen geben: Aktionen gegen das Embargo', 'Diffamierungskampagnen und die Wahrheit über Kuba' und 'Ideenaustausch mit der Solidaritätsbewegung für Kuba'. Von Roberto Robaina, Ricardo Alarcon, Carlos Lage und Sergio Corrieri sind Redebeiträge vorgesehen. Außerdem steht der Besuch von Krankenhäusern, Schulen, Spezialeinrichtungen im Gesundheitswesen auf dem Programm.

Frage: Das Treffen findet auf Nicht-Regierungsebene statt. Macht es überhaupt Sinn, wenn es keinen Widerhall von offizieller Seite aus dem Ausland gibt?

Olivares: Es macht Sinn, wenn alle möglichen Personen – auch ohne Regierungsposten – die kubanische Realität verbreiten. Für uns gehört das zu den wichtigsten Hilfen. Es geht um den Meinungsaustausch und um Entscheidungen, um gemeinsame Aktionen. Dadurch werden sich nicht die offiziellen Beziehungen beispielsweise mit Mexiko, geschweige denn mit den USA ändern. Aber eine Gruppe von Universitätsstudent*innen kann eine Informationswoche über Kuba durchführen oder eine materielle Hilfskampagne wie die Aktion „ein Bleistift und ein Schulheft für ein Kind auf Kuba“ organisieren. Unsere Wirklichkeit mit ihren Vorteilen und Defekten muß bekannt werden.

Frage: Ist die kubanische Realität nicht längst bekannt?

Olivares: Nicht so, wie ich es wünschen würde. Ich bin davon überzeugt, daß sie nicht bekannt ist. Hier in Mexiko zum Beispiel bin ich einer Unwissenheit über die Wirklichkeit auf Kuba und einer ziemlichen Dramatisierung der kubanischen Situation begegnet. Das zu ändern, könnte ein erstes Resultat des Treffens sein.

Frage: Wie sieht es mit der Solidarität aus Deutschland auf Nicht-Regierungsebene aus. Auch im Vergleich mit anderen europäischen Ländern.

Olivares: Aus Europa erwarten wir eine breite Beteiligung auf dem Treffen. Dabei ragt Spanien heraus. Mit diesem Land gibt es den größten Austausch, was Solidaritätsaktionen, Investitionen und die Zusammenarbeit mit Kommunen, einzelnen Provinzen angeht. Speziell zu Deutschland kann ich sagen, daß gerade eine Hilfskampagne ähnlich wie die der „Priester für den Frieden“ in den USA organisiert wurde. Das bedeutet, viele Bevölkerungsgruppen zu sensibilisieren. Dabei ist es unwichtig, wenn es keine offiziellen Gruppen, keine Regierungsfunktionäre sind.

Frage: Am 1. Dezember kommt Fidel Castro zum offiziellen Amtsantritt von Ernesto Zedillo nach Mexiko. Wird dessen Regierung damit nicht legitimiert?

Olivares: Ich sehe das folgendermassen: Die Beziehungen zwischen Mexiko und Kuba auf Regierungsebene gehörten immer zu den allerbesten in Lateinamerika. Ich möchte daran erinnern, daß Mexiko das einzige Land war – die ehrenhafte Ausnahme auf dem Kontinent -, das uns nicht den Rücken gekehrt hat, als alle dies zu Beginn der Revolution taten. Und unsere Beziehungen sind sogar noch viel älter. Wir versuchen deshalb weder, die Regierung von Zedillo zu legitimieren noch ihr die Legitimität abzusprechen. Das ist nicht Kubas Ziel, weder im Fall Mexiko noch im Fall irgendeines anderen Landes. Wir mischen uns in nicht in die inneren Angelegenheiten eines anderen Landes ein. Wir kommen einfach, um unseren Respekt zu bezeugen, um die Beziehungen zu bestimmten Ländern zu vertiefen, von denen Mexiko für uns zu den allerwichtigsten gehört.

Frage: Themenwechsel. Kuba hat große wirtschaftliche Probleme. Vor einigen Tagen hat Rußland angekündigt, dieses Jahr kein Öl mehr an Kuba zu liefern. Glaubt man auf der Insel, daß der Tiefpunkt der Krise bereits erreicht ist oder kann es noch schlimmer werden?

Olivares: Ich glaube, der Tiefpunkt der Krise wurde erreicht. Es gibt einige Lichter, die unserer Meinung nach am Ende des Tunnels zu sehen sind. Dabei ist es bedauerlich, daß manchmal Probleme wie der Lieferstop von Rußland entstehen. Aber ich gehe davon aus, Rußland fehlt der Zucker aus Kuba genauso wie Kuba das russische Öl. Am Ende denke ich, wird die Besonnenheit in diesem Sinne die Oberhand behalten. Die Beziehungen müssen wie in der Vergangenheit zum gegenseitigen Vorteil sein. Es war ja nicht so, daß Rußland alleine alles an Kuba gab. Ihnen fehlte genausogut kubanischer Zucker und andere Produkte.

Was die kubanische Wirtschaft angeht, gibt es bestimmte Wege, die erfolgversprechend sind. Auch wenn es etwas schwierig ist, Prognosen abzugeben, da wir den Schwankungen des internationalen Marktes unterworfen sind. Der kubanische Nickel hat beispielsweise eine sehr gute Qualität. Es gibt Vorkommen im Osten der Republik. Sie wurden früher mit der Technologie aus der Sowjetunion ausgebeutet. Jetzt haben mehrere Unternehmen ihr Interesse daran geäußert. Der Nickelpreis ist auf dem internationalen Markt derzeit sehr gut. Die kubanische Produktion kann praktisch komplett verkauft werden.

Die Einnahmen durch den Tourismus wachsen jährlich um 30 Prozent

Wir sind auch kräftig dabei, Nebenprodukte aus dem Zuckerrohr zu entwickeln. Natürlich hat die Zuckerproduktion einen großen Einbruch erlitten (die diesjährige Zuckerrohrernte wird statt zu besten Zeiten 10 Millionen Tonnen nur etwa 4 Millionen Tonnen betragen). Im Tourismus hat es zwar eine zeitweilige Beeinträchtigung durch das Problem der „Balseros“ gegeben, aber trotzdem gehen wir von einem jährlichen Wachstum der Einkünfte von 30 Prozent in diesem Bereich aus. Fast sicher erreichen wir im kommenden Jahr die Zahl von 1 Million Tourist*innen. Dazu kommen weitere aussichtsreiche Wirtschaftssektoren. Dies alles muß eine Erholung der Wirtschaft bedeuten, allmählich und langsam zwar, aber eine Erholung.

Frage: Zweifellos ist die Situation der breiten Bevölkerung im Vergleich mit anderen Ländern der Region noch ziemlich gut. Trotzdem: Ist die Lage auf Kuba so ernst, daß es Hunger gibt oder können zumindest ausreichend Lebensmittel garantiert werden?

Olivares: Es gibt keinen Hunger auf Kuba. Kuba hat Errungenschaften im sozialen Bereich, die kein anderes Land der Dritten Welt hat. Zum Beispiel hat die Insel heute eine Kindersterblichkeit von 9,3 Promille. Das weist auf eine hohe Entwicklung hin. In Washington ist die Kindersterblichkeit höher. Es gibt eine Lebenserwartung von etwa 75 Jahren, auch ein Hinweis auf den Gesundheitszustand der Bevölkerung. Die soziale Sicherheit ist garantiert. Sogar in Zeiten der wirtschaftlichen Krise gibt es eine Politik der Vollbeschäftigung. Wenn sie nicht gewährleistet werden kann, so bietet der Staat als Ausweg ein Studium an, wobei der Lohn weitergezahlt wird.

„Es gibt keinen Hunger auf Kuba. Keiner legt sich schlafen, ohne etwas gegessen zu haben“

Es gibt eine Reihe sozialer Erfolge der Revolution. Wir kämpfen um jeden Preis darum, daß sie erhalten bleiben. Speziell, was die Ernährung angeht: Wie gesagt, Hunger existiert nicht. Keiner legt sich schlafen, ohne etwas gegessen zu haben. Gut, es kann vorkommen, daß das Frühstück nur aus einem Stück Brot besteht, aber der Staat läßt Dich nicht schutzlos in der Straße. Eine bestimmte Menge Lebensmittel wird monatlich subventioniert: Reis, Bohnen, Kaffe, Bananen, landwirtschaftliche Produkte allgemein. Die Preise sind bescheiden, so daß auch Personen mit geringem Einkommen sie bekommen können. Auf diese Art, auch wenn es ein Minimum sein sollte, lebt die kubanische Bevölkerung. In der Schule erhalten die Kinder Essen, in den Kinderkrippen bekommen sie eine Mahlzeit. Kinder im Alter bis sieben Jahre erhalten eine tägliche Ration Milch. In den meisten Arbeitszentren gibt es Kantinen. Jetzt haben wir auch die landwirtschaftlichen Märkte. Diese Form existierte früher unter dem Namen freier Bauernmarkt, hatte aus bestimmten organisatorischen Gründen jedoch keinen Erfolg. Jetzt haben wir sie mit der damaligen Erfahrung neu organisiert. Auf diesen Märkten kontrolliert der Staat die Preise nicht. Es regiert das Gesetz von Angebot und Nachfrage. Für die Bevölkerung gibt es ein freies Angebot.

Frage: Viele Leute befürchten, die freien Märkte machten nur die Zwischenhändler reich und die Campesinos haben keinen großen Gewinn davon. Und andererseits: Wer keinen Zugang zum Schwarzmarkt und damit zu mehr Geld hat, kann sich keine Papaya-Frucht für 20 Pesos kaufen. Er bleibt als Verbraucher ausgeschlossen. Besteht da nicht zumindest eine Gefahr?

Olivares: Also, im allgemeinen kann der Markt noch verbessert werden. Doch 20 Pesos für eine Papaya mußten vor dem Entstehen dieses Marktes bezahlt werden. Der erste Tag – ich ging selber hin – begann mit einem Preis für die Avocado von 15 Pesos. Aber logischerweise passierte das, was geschieht, wenn es auf dem Markt Avocados im Überfluß gibt: der Preis mußte sinken. Auf dem Schwarzmarkt sank er nicht, denn da tauchte nur eine Avocado auf, die alle Welt kaufen wollte. Es war kein stabiles Produkt, das ein sicherer Markt zur Verfügung stellte.

Vom wirtschaftlichen Standpunkt aus gesehen stimmt es: der Kapitalismus kommt

Zum Zwischenhändlerproblem: Der Bauer hat die Freiheit, auf den Markt zu gehen und seine Produkte anzubieten. Das Staatsunternehmen kann ihm sogar die Transportmittel dafür leihen. Es gibt eine Reihe von Einrichtungen, damit der einzelne Bauer auf den Markt geht. Darum glaube ich nicht, daß das Hauptproblem in der Bereicherung der Zwischenhändler liegen wird. Davon unabhängig ist es für die Bauern eine neue Erfahrung, sie müssen sich darauf einstellen. Wir hoffen, die landwirtschaftliche Produktion wird durch die Maßnahme stimuliert. Gut, die ersten Tage waren nicht durch die hohe Beteiligung der einzelnen Bauern gekennzeichnet (auch Staatsunternehmen können überschüssige Produkte auf den freien Märkten anbieten; die Red.). Aber nach und nach wird die Mehrheit diese Möglichkeit nutzen.

Frage: Kuba öffnet sich mehr und mehr dem Auslandskapital. Dieses Kapital kommt nun mal aus kapitalistischen Ländern. Wie soll vermieden werden, daß Kuba am Ende trotz aller gegenteiliger Versicherungen zu einem kapitalistischen Land wird? Gibt es da nicht eine Eigendynamik, die vielleicht gar nicht mehr kontrolliert werden kann?

Olivares: Also erstens: Es besteht heute der politische Wille, die sozialen Errungenschaften, die Vorteile des sozialistischen Systmes zu bewahren – wie immer es auch genannt werden möge. Zweitens: Vom wirtschaftlichen Standpunkt aus gesehen stimmt es, daß der Kapitalismus auf diesem Weg kommt. Das heißt: die Unternehmen sind kapitalistisch. Doch im Gegensatz zu den kapitalistischen Ländern verkaufen wir unser Nationalprodukt nicht dem ausländischen Kapital. Wir teilen es, wir beuten es gemeinsam aus. Manchmal auf der Basis von Risikoverträgen wie im Fall des Öls. Das ist für eine bestimmte Zeitdauer. Es gibt einen Unterschied: Wir verkaufen nicht, wie andere Länder es gemacht haben, unsere Telefongesellschaft oder unsere Ölgesellschaft. Es handelt sich nicht um den klassischen Neoliberalismus, den wir in ganz Lateinamerika kennen. Es handelt sich um eine gemeinsame produktive Entwicklung, um gegenseitig vorteilhafte Gewinne zu erlangen. Der Kapitalismus kann soziale Auswirkungen haben. Er kommt durch den Tourismus, durch die ausländischen Unternehmen. Aber dem mußt Du Dich stellen.

Zusammenarbeit mit Bolivien vereinbart

(Havanna, 15. November 1994, prensa latina-POONAL).- Der bolivianische Außenminister Jaime Aparicio hat Kuba besucht, um mit seinem kubanischen Kollegen Julio Teja über den Ausbau der gegenseitigen Beziehungen zu sprechen. Eine gemeinsame Arbeitskommission wird vor allem Möglichkeiten der wissenschaftlichen und technologischen Zusammenarbeit erkunden. Die Gespräche auf Ministerebene beinhalten auch Themen wie Bildung, Tourismus, Grundstoffindustrien, Sport, Gesundheitswesen und Handel.

Iberoamerikaner*innen verurteilen US-Blockade

(Havanna, 14. November 1994, prensa latina-POONAL).- Dreihundert Bürgermeister*innen, Gemeinderät*innen und Gemeindefunktionär*innen aus zwölf iberoamerikanischen Ländern haben die nordamerikanische Blockadepolitik gegen Kuba verurteilt. Sie nahmen an dem „II. Treffen für Zusammenarbeit und Solidarität mit Havanna“ teil. Angel García, der Bürgermeister der spanischen Stadt Oleiros (Galizien) bezeichnete die Haltung Washingtons als „grausam“. García ist einer der Pioniere der Kuba-Solidarität in Spanien. Er appellierte an alle selbstständigen Gemeinden seines Landes, die kubanischen Einrichtungen zu unterstützen. Die Schirmherrschaft über die Veranstaltung in Havanna hatte die Iberoamerikanische Organisation für Interkommunale Zusammenarbeit (OICI) und das kubanische Regionalparlament.

URUGUAY

Präsidentschaftswahlen: Die Rechten wie die Linken belagern

die Mitte

– Interview mit Carmen Tornaría von der Frauenstiftung PLEMU

(Montevideo, 14. Oktober 1994, alai-POONAL).- Am 27. November wählen die Uruguayer*innen den kommenden Präsidenten, Abgeordnete und Senator*innen, Bürgermeister*innen und die Vertreter*innen der Provinzräte. Es stehen sich drei Parteiengruppierungen gegenüber, denen die größten Chancen eingeräumt werden: die Colorado-Partei, die National-Partei und die Frente Amplio (breite Front). Alai sprach mit Carmen Tornaría von der uruguayischen Frauenstiftung PLEMU über den Wahlkampf und über Uruguay.

Frage: Wie sieht das Panorama für den 27. November aus?

Tornaría: Es gibt drei Kräfte mit Möglichkeiten, die landesweiten Wahlen zu gewinnen: die erste ist die Colorado- Partei, die erneut Julio María Sanguinetti als Kandidaten für das Präsidentenamt aufstellt. Es gibt Alternativen, aber er ist derjenige, der den Umfragen nach die Mehrheit in der Partei hinter sich hat. Sanguinetti stand von 1984 bis 1989 an der Spitze der ersten demokratischen Regierung nach 15 Jahren Diktatur. Die andere Kraft ist die National-Partei, auch weiße Partei genannt. Sie stellt zur Zeit die Regierung und tritt mit Alberto Volonté an. Die dritte Kraft ist die Frente Amplio, ein Zusammenschluß von Mitte-Links-Parteien, der seit 1971 besteht. Bei den letzten Wahlen gewann dieses Bündnis das Bürgermeisteramt von Montevideo. Bürgermeister Tabaré Vásquez ist jetzt der Anwärter auf das Präsidentenamt. Zwischen diesen drei Kräften besteht ein ganz geringer Abstand. Umfragen zufolge liegt die Colorado-Partei an der Spitze, knapp dahinter folgen National-Partei und die Frente Amplio.

Frage: Wie verhält sich das Wahlvolk?

Tornaría: Es gibt nicht allzuviel Enthusiasmus und allzuviel Lärm um die Wahlen. Die Kampagne aller Parteien beschränkt sich praktisch auf das Fernsehen. Es gab auch einige öffentliche Wahlveranstaltungen, doch das Interesse der Leute ist eher gering. Der Stil der Anhängerschaft hat sich verändert. In der Zeit vor der Diktatur war es eine sehr laute Anhängerschaft – in allen Parteien. Nach der Diktatur war sie „zivilisierter, formeller, weniger lärmend.“ Es herrscht öffentliche Ruhe. Es gibt kein spezielles Interesse am Phänomen Wahl, obwohl die Leute abstimmen werden und wissen, wen sie wählen wollen. Die Wahlbeteiligung der uruguayischen Bürger*innen ist hoch, sie beträgt etwa 90 Prozent. Zwar ist die Stimmabgabe obligatorisch, aber die Leute würden auch so nicht auf den Urnengang verzichten.

Frage: Wie sieht die soziale Situation derzeit im Land aus?

Tornaría: Die Verarmung breiter Bevölkerungsschichtetn schreitet voran. Das Phänomen Armut in Uruguay ist für Nicht- Uruguayer*innen kaum verständlich. Unser Land weist oberflächlich gesehen gesunde makro-ökonomische Daten auf, vor allem verglichen mit den anderen lateinamerikanischen Ländern. Doch die Anwendung der strukturellen Anpassung und die neoliberale Politik haben breite Teile der Bevölkerung geschädigt. Wir sind ärmer geworden. Hiermit meine ich eine ganze Reihe Faktoren, die die Lebensqualität bestimmen und für uns Uruaguayer*innen einen Teil unserer bürgerlichen Tradition bilden: Gesundheitswesen, die Betonung der öffentlichen Bildung, die Wohnungsfrage und außerdem das Thema Ernährung.

„Die Verarmung der Bevölkerung schreitet voran“

In Uruguay gibt es nicht eigentlich mehr Armut, sondern – und das ist in der gesamten Geschichte des Landes nicht vorgekommen – aufgrund einer absolut negativen Umverteilung der Einkommen ist eine scharfe Trennung in zwei Gruppen zu beobachten: eine kleine Gruppe von Leuten, die vorwärtskommen und die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung, die ihre Lebensqualität laufend geringer werden sieht. Das reicht hin bis zu den Bevölkerungsschichten in extremer Armut bzw. bis zur Nicht-Befriedigung der einfachsten Grundbedürfnisse.

Frage: Wie zeigt sich das in der Realität, zum Beispiel bei der Arbeitslosigkeit?

Tornaría: Die Arbeitslosenquote beträgt etwa neun Prozent. Das kann sogar im Vergleich mit europäischen Ländern sehr günstig erscheinen. Ein großer Teil der Beschäftigten sind Staatsangestellte. Dabei beziehe ich mich auf die Grunddienstleistungen, die staatlich waren und es weiterhin sind (Gesundheitswesen, Bildung). Die Löhne im öffentlichen Sektor sind erschreckend gesunken. Das geht so weit, daß ein Lehrer oder ein Krankenpfleger im öffentlichen Dienst, diese Arbeit mit einer oder mehreren weiteren kombinieren muß, um die Bedürfnisse beispielsweise einer Familie zu erfüllen.

Frage: Zurück zum Wahlkampf. Was sind die wichtigsten Diskussionsthemen und die besonderen Punkte in den Programmen der drei großen Kräfte?

Tornaría: Wir Uruguayer*innen machen unter uns Witze. Wir sagen, wenn ein Marsmensch in Uruguay landen würde, und die Kandidaten in einem Fernsehprogramm sehen würde, ohne sie oder ihre Parteigeschichte zu kennen, würde er keine besonderen Unterschiede zwischen ihnen feststellen. Wir wissen, es gibt sie, aber im Diskurs kommen sie nicht zum Ausdruck. Meiner Meinung nach gibt es so etwas wie eine Konzentration auf die Mitte, auf Programme, die wir an internationalen Maßtäben gemessen, als sozialdemokratisch einordnen können. Die Konservativen erscheinen daher als relativ fortschrittlich und die mehr revolutionären Gruppierungen geben ein moderateres Bild mit ebenfalls fortschrittlicher Tendenz ab. Es existiert so etwas wie ein Run der Rechten auf die Mitte und auch die Linke bewegt sich auf das Zentrum zu. Ich möchte das hier nicht kritisieren, sondern einfach als Fakt darstellen.

Bei vielen Punkten bestehen Gemeinsamkeiten. Vom einen zum anderen Diskurs gibt es nicht viele Neuigkeiten. Das Thema der wirtschaftlichen Sicherheit beherrschen beispielsweise alle Kandidaten. Und wenn von wirtschaflicher Sicherheit gesprochen wird, ist dies eine Hauptsorge aller… Die jetzige Regierung konnte die Inflation kontrollieren. Sie brachte sie nicht zum Verschwinden, aber von 120 Prozent jährlich unter der Vorgängerregierung verringerte sie sich auf gut 30 Prozent. Das wird als äußerst vorteilhaft angesehen. Ein anderes Thema, dem von allen Kandidaten – wenn auch mit Abstufungen – große Bedeutung zugemessen wird, ist die Wiederlangung von Qualität und Hervorhebung der Bildung. Dies deswegen, weil die Menschen das ganz direkt fordern. In Uruguay herrschte traditionell ein enormes Vertrauen in die Bildung als Instrument des sozialen Aufstiegs, als Beschäftigungszugang, als Form der Lebensqualität und als Unterstützung für das demokratische System. Die Krise des Bildungssystems ist ein Alarmzeichen für die Eltern, die Schüler*innen selbst, für die Dozent*innen und für die Politiker*innen.

Bildung und Gesundheitssystem sind in der Krise

Dasselbe können wir zum Thema der öffentlichen Gesundheit – ebenfalls sehr heruntergekommen – und zum Thema der sozialen Sicherheit sagen. Uruguay ist ein Land mit einer überalterten Bevölkerung. Im Durchschnitt hat die Familie zwei Kinder. Das ist ein charakteristischer Indikator für ein entwickeltes Land. Die durchschnittliche Lebenserwartung ist gestiegen und die Geburten sind rückläufig. Darum ist das Thema der sozialen Sicherheit nicht nur eine soziale, sondern auch eine wirtschaftliche Frage. In einem Land mit 3 Millionen Einwohner*innen gibt es 600.000 Rentner*innen, bei etwas mehr als einer Million wirtschaftlich aktiven Menschen. Das Sozialversicherungssystem in Uruguay ist als Solidarsystem aufgebaut. Zur Zeit bestehen starken Tendenzen in den verschiedenen Parteien, dieses Solidarsystem zu ändern. Es ist von persönlichen Versicherungen die Rede, man spricht von Privatisierung. Das hat Gewicht, denn die Gruppe der Rentner*innen, ebenso wie die mit der Bildung verbundene Gruppe, ist groß und bei den Wahlen kommt es auf jede einzelne Stimme an. Ein weiteres Thema, über das die Kandidaten reden, obwohl es sich nicht auf das Land beschränkt, ist die Integration und der Mercosur.

Frage: Du sprachst davon, die Diskurse aller Kandidaten bewegten sich auf die Mitte zu, allerdings mit Nuancen. Wie kommen diese Nuancen zum Ausdruck?

Tornaría: Ich würde sagen, die Frente Amplio ist die Partei, die kritische Vorschläge macht. Und zwar in der Weise, daß sie nicht so sehr die Privatisierungspläne unterstützt und sich solidarischer zeigt als die anderen zwei Parteien. Sie sorgt sich etwas mehr um die Umverteilung des Reichtums. Ihr Präsidentsschaftskandidat Tabaré Vásquez kann als Pfand eine gute oder zumindest redliche Amtsführung als Bürgermeister von Montevideo vorweisen. Dort konzentriert sich die Hälfte der Bevölkerung des Landes. Dies ist wichtig, denn als Vásquez ins Rathaus kam, gab es unter den Bürger*innen die Angst oder doch die Unsicherheit, ob er wirklich regieren könne. Denn die Frente Amplio ist ein Flickenteppich, der zehn Parteien umfaßt, die bedeutende Meinungsverschiedenheiten haben. Doch als Bürgermeister ließ sich Vásquez nicht beeinflussen und hielt sein Versprechen beim Amtsantritt: „Jetzt, wo ich die Wahlen gewonnen haben, bin ich der Bürgermeister aller Montevideanos und nicht der der Anhängerschaft der Frente Amplio.“

Die deutlichste neoliberale Programatik wird von einigen Teilen der Colorado-Partei und der National-Partei vertreten. Aber es muß beachtet werden, das in Uruguay die Parteien – egal welche – wie große Regenschirme sind, unter denen sich praktisch alle Strömungen des politischen Spektrums vereinen. Ich weiß nicht, ob es jetzt nützlich ist, das Rechts-Links- Schema anzuwenden, denn in allen uruguayischen Parteien gibt es deutliche Abstufungen. In jeder von ihnen kann von einem konservativem, einem Zentrums- und einem eher fortschrittlichen Flügel gesprochen werden.

Frage: Dennoch will ich auf den Nuancen bestehen: Welche Unterschiede können zwischen den beiden traditionellen Parteien, der National-Partei und der Colorado-Partei festgemacht werden?

Tornaría: Die Colorado-Partei hat mehr Unterstützung im Industriesektor und in der Stadt, während die National-Partei sich auf den landwirtschaftlichen und ländlichen Bereich stützen kann. Dies ist ein historischer Unterschied, der nach wie vor besteht. Die Frente Amplio ihrerseits hat eine enorme Unterstützung in der Stadt.

GUATEMALA

Verteidigungsminister: Dieses Jahr kein Friedensschluß

(Guatemala, 18. November 1994, NG-POONAL).- Der guatemaltekische Verteidigungsminister General Mario Enríquez glaubt nicht an einen Friedensschluß mit der Guerilla noch in diesem Jahr. Dieser sei nur möglich, wenn die Revolutionäre Nationale Einheit Guatemalas (URNG) „Beweise eines großen Willens zeigte“. Er gehe von der Unterzeichnung weiterer Abkommen „in den ersten Monaten des kommenden Jahres“ aus. Die Verhandlungen zum Thema „Identität und Rechte der Indígena- Völker“ werden ab dem 27. November entweder erneut in Mexiko oder aber in Costa Rica geführt.

Ex-UNO-Berater Tomuschat: Präsident ist Gefangener der

Streitkräfte

(Guatemala, 16. November 1994, cerigua-POONAL).- Der Bonner Rechtsprofessor und ehemalige UNO-Berater Christian Tomuschat befand sich auf Einladung der Myrna Mack-Stiftung in Guatemala. Dort äußerte er sich zu verschiedenen Aspekten der Situation des Landes. Er bezeichnete die Stärke des Militärs als „in Friedenszeiten nicht zu rechtfertigen“ und empfahl den Militärs „ihre Rolle zu überdenken“. Sie müßten der Zivilgewalt untergeordnet sein. Bereits einen Tag zuvor hatte Tomuschat die Meinung geäußert, Präsident Ramiro De León Carpio sei Gefangener der Streitkräfte. Diese würden ihm ihre Sonderinteressen aufzwingen.

Tomuschat ging auch auf den Respekt vor den Rechten der zivilen Gesellschaft ein. Ohne die Änderung bestimmter grundlegender Gesetze sagte er einen neuen bewaffneten Konflikt voraus. Speziell sah er Reformen im Gesundheits-, Bildungs-, Wohnungs- und Beschäftigungswesen als notwendig an. Der Rechtsprofessor war als UNO-Berater in Menschenrechtsangelegenheiten Vorgänger der Argentinierin Monica Pinto in Guatemala. Zu der Veranstaltung der Myrna Mack-Stiftung über die Menschenrechte kam er als Delegierter der Europäischen Gemeinschaft.

UNO-Abgesandte kündigt Bericht über Menschenrechte an

(Guatemala, 18. November 1994, NG-POONAL).- Monica Pinto, die unabhängige UNO-Expertin in Menschenrechtsangelegenheiten traf sich zu Beginn ihres Guatemala-Aufenthaltes mit dem Menschenrechtsbeauftragten Jorge García Laguardia und den Mitarbeiter*innen des erzbischöflichen Menschenrechtsbüros (ODHA). Sie nannte die „jüngsten Gewaltvorkommnisse“ im Land „absolut unakzeptabel“. Sie werde die vom Staat in Gang gesetzten Lösungsmechanismen „analysieren“. Die Mitarbeiter*innen des ODHA überreichten ihr 30 Fälle dokumentierter Menschenrechtsverletzungen. Die argentinische Juristin kündigte an, elf Tage in Guatemala zu bleiben. Im Anschluß wird sie einen Bericht über die Menschenrechtslage an die zuständige UNO-Kommission schicken.

Fast täglich Gefechte

(Guatemala, 17. November 1994, cerigua-POONAL).- In der ersten Novemberhälfte gab es zahlreiche militärische Zusammenstöße zwischen der Guerilla und den guatemaltekischen Streitkräften. Die Revolutionäre Nationale Einheit Guatemalas (URNG) will der Armee dabei mindestens 13 Verluste zugefügt haben. Ein Großteil der Gefechte fand in der Provinz Quiché statt. Aus den Provinzen El Petén und Huehuetenango wurden ebenfalls kleinere Kämpfe gemeldet. Dabei griffen Guerillaeinheiten auch Kasernen der Armee an.

HAITI

Großer Empfang für aus dem Exil zurückgekehrte MPP-Führer

(Port-au-Prince/Hinche, Oktober 1994, hib-POONAL).- Nach drei Jahren im Untergrund und im Exil kehrten zwei Schlüsselfiguren der Mouvman Peyizan Papay (MPP) in das öffentliche Leben zurück. (Am 1. Oktober 1991 überfielen Soldaten und ihre Helfershelfer die Einrichtungen der MPP. Sie zerstörten die Büros und Computer, die Druckerei, Gewächshäuser, Kühlmaschinen und stahlen die 100.000 Dollar Ersparnisse der MPP-Genossenschaft. Der Gesamtschaden wurde damals auf 1 Million Dollar geschätzt.) Der Gründer und Sprecher der BäuerInnenbewegung, Chavannes Jean-Baptiste und sein Bruder Bazelais reisten im Oktober von Journalist*innen begleitet nach Hinche und Papaye. Tausende Menschen empfingen die Karawane mit Gesängen, Trommeln und Trompeten. „Ein Meer von Menschen. Überall, wo Du hinsahst, Leute“, beschrieb ein US-Journalist die Reise.

In Hinche hielt Chavannes Jean-Baptiste eine lange Rede an die Mengen. Er dankte den Einwohner*innen für ihre Unterstützung und beglückwünschte die MPP-Mitglieder, sich nicht „den Dieben“ angeschlossen zu haben. Er drückte den Frauen seine Hochachtung aus, die vielfach das Haus und die Felder versorgten, als ihre Männer sich verstecken mußten. Viele in der Menge waren offensichtlich überrascht, als Jean-Baptiste die Invasion und die Besatzung verurteilte. „Dies ist kein Sieg“, erklärte er. „Dies ist nicht die Art, auf die wir hätten zurückkommen sollen. Dies ist nicht die Art, auf die Titid (Kosename für Aristide; die Red.) hätte zurückkommen sollen. Es hätte keine US-Besatzung sein dürfen, die ihn zurückbrachte. Wir hätten selber dafür sorgen müssen. Wir müssen arbeiten, damit niemand die Arbeit für uns macht. Wir müssen wie Charlemagne Peralte arbeiten!“ (Peralte war ein Volksführer, der 1919 beim Kampf gegen die US- Besatzungstruppen starb.)

US-Soldaten drohen

Im Vergleich zu den anfänglichen Begrüßungsrufen waren die Reaktionen der Menge auf diese Aussagen eher schwach. Doch wiederholte Jean-Baptiste seine Meinung im Verlauf der Rede mehrfach. Er sagte auch, das Land werde nicht eher frei sein, bis die Armee, die Kasernen und die paramilitärischen Todesschwadronen zerstört seien. Der MPP-Führer forderte die Menschen auf, Listen derer anzufertigen, die in den letzten zwei Jahren Menschenrechtsverletzungen begangen und sie bestohlen hätten. Die US-Truppen in Hinche – dort sind zwischen zwölf und 20 „Spezialkräfte“stationiert – waren empört über die Rede von Jean-Baptiste. Sie stellten ihn am nächsten Tag zur Rede und schlugen einen drohenden Ton an. Ein Soldat warnte: „In Papaye war es bisher sehr ruhig und ich hoffe, das bleibt so.“

Ende Oktober gaben Jean-Baptiste, weitere MPP-Mitglieder und Vertreter*innen der Mouvman Peyizan Nasyonal Kongre Papay (MPNKP) in Port-au-Prince eine Pressekonferenz. Sie verlangten unter anderem die Dienstsuspendierung aller Soldaten, bis die Gerichte über ihre Vergehen entschieden haben. Zu den Forderungen gehörte auch die Entlassung derjenigen, die unter dem Putsch-Regime Ämter in der öffentlichen Verwaltung besetzten. Speziell für die Bäuer*innen und die auf und außerhalb des Landes vertriebenen Haitianer*innen verlangten sie konkrete Hilfen. Chavannes Jean-Baptiste mußte sich gegen Kritik wehren, weil er einerseits die Besatzung verurteilt, andererseits aber mit der Regierung von Jean-Bertrand Aristide als Mitglied des Privatkabinetts zusammenarbeitet. Er sagte, er bleibe im Kabinett, weil er und seine Organisation nicht der Meinung seien, daß Aristide „Menschen betrogen“ habe. Andere Füher*innen und Organisationen lehnen jegliche Kooperation mit der Regierung aus Prinzip ab, weil diese zu einer militärischen Besatzung eingelanden und ihr zugestimmt habe.

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