Deutsche Ausgabe des wöchentlichen Pressedienstes lateinamerikanischer Agenturen Nr. 46 vom 01.06.1992
Inhalt
NICARAGUA
CHILE
KUBA
EL SALVADOR
GUATEMALA
MITTELAMERIKA
NICARAGUA
Gewalt und Anarchie
Managua, Mai 1992, Apia-POONAL).-Im ganzen Land brechen Aufstände aus, Straßenblockaden, Besetzungen von Landgütern und öffentlichen Gebäuden und ganzen Städten sind an der Tagesordnung. Der Innenminister eilt von einem Krisenherd zum anderen, um mit Aufständischen – Recompas, Recontras, Rejuntos, Revueltos – zu verhandeln. Jaime Wheelock, Führungsmitglied der FSLN und ehemaliger Agraminister, analysiert im Folgenden die Gründe für die Eskalation der Gewalt in Nicaragua. „Die gewalttätigen Ereignisse der letzten Zeit müsse uns alle beunruhigen. Nach zwei weiteren Jahren des Produktionsrückganges stellen die Landnahmen, die Straßenblockaden, die Besetzungen von Provinzhauptstädten – und all das unter Anwendung von Waffengewalt – ein ernsthaftes Hinderis für Investitionen und überhaupt für eine normale Entwicklung der Produktionstätigkeit dar. Um diese schwierige Situation in den Griff zu bekommen, ist in erster Linie eine realistische und konstruktive Haltung der wichtigsten nationalen Kräfte notwendig. Schließlich will niemand, daß sich Nicaragua in Anarchie auflöst.
Der Ursprung der Gewalt
Ein erstes Problem liegt in der Frage nach dem Ursprung der aufrührerischen Bewegungen. Gewisse Sektoren der öffentlichen Meinung – einschließlich einiger Regierungsfunktionäre – sind überzeugt, daß die FSLN die gewalttätigten Aktionen anregt, organisiert und leitet. In Wirklichkeit sind aber andere Faktoren für diese Entwicklung bestimmend: a.) Die Unfähigkeit der nicaraguanischen Wirtschaft, für die große Zahl der ehemaligen Kämpfer – 20.000 Ex-Contras und 60.000 ehemals in Armee und Inneministerium Beschäftigte – Arbeitsplätze zur Verfügung zu stellen. b.) Seit Beginn des Jahres 1990 drückt auch eine weitere Last auf die zerbrechliche Nationalwirtschaft: die tausenden zurückgekehrten Flüchtlinge aus Honduras und Costa Rica, die ebenfalls Arbeit suchen. c.) Anstatt für diese Menschen Arbeitsplätze zur Verfügung zu stellen, verwirklicht die Regierung von Anfang an ein Wirtschaftsprogramm, das sowohl im öffentlichen Dienst als auch in der Industrie und der Landwirtschaft zahlreiche Arbeitsplätze vernichtet. So kristallisiert sich zu Beginn der 90er Jahre in Nicaragua ein beispielloses sozioökonomisches Problem heraus: eine kritisch hohe Anzahl von demobilisierten Contras, abgerüsteten Soldaten, heimgekehrten Flüchtlingen und dazu noch die neuen Arbeitslosen. Das gemeinsame Problem liegt im Fehlen von Arbeitsplätzen und im Fehlen von wirtschaftlichen Bedingungen und Alternativen, um sie zu schaffen.
Diese Faktoren erklären jedoch noch nicht die Tatsache der bewaffneten Gewalttätigkeiten. Warum protestieren Menschen mittels Waffen? a.) Die Gruppen, die bei den Protestaktionen am aktivsten und kriegerischsten auftreten, sind gerade die demobilisierten Contras und die abgerüsteten Soldaten. Wie man weiß, haben die Contras bei ihrer Demobilisierung aus Gründen der Sicherheit und aus anderen Motiven nicht alle Waffen abgegeben. Aus denselben Gründen, aber erst später, haben sich dann auch die ehemaligen Angehörigen der Armee und der Truppen des Innenministeriums mit Waffen versorgt. Beide Gruppe haben militärische Erfahrung, und so sind auch die Formen ihres Prostestes und Kampfes mit jener Aktivität verbunden, die sie am besten kennen und beherrschen. b.) Im Zuge der Demobilisierung der Contras hat die Regierung eine Reihe von Abkommen bezüglich wirtschaftlicher Unterstützung, Landverteilung etc. unterschrieben, die aber dann nur in geringem Ausmaß eingehalten wurden. Die mit den Verhandlungen betrauten Regierungsbeamten haben effektiv Verträge unterzeichnet, die sie weder im vorgesehenen Ausmaß noch im geplanten Zeitraum verwirklichen konnten. c.) Andererseits ist es offensichtlich, daß viele Abkommen unterzeichnet wurden, bei denen der Wille zur Erfüllung gar nicht vorhanden war. Bereits vereinbarte Landzuweisungen wurden nicht erfüllt, und im Fall der Landbesitztitel fanden die zuständigen Beamten immer wieder Motive, die Verteilung zu verzögern oder gar nicht durchzuführen.
Ein anderes großes Problem ist das der angewendeten Methoden des Protests. In dieser Frage haben die nationalen Kräfte, die die Stabilität des Landes suchen, noch keinen gemeinsamen Nenner gefunden. Die FSLN hat deutlich erklärt, daß sie die gerechten Anliegen der verschiedenen Gruppen und auch die Legitimität ihres Protestes anerkennt, nicht aber die Methoden des bewaffneten Protests. Der bewaffnete Widerstand kann im Kampf gegen eine Diktatur oder eine ausländische Intervention berechtigt sein, nicht aber zur Durchsetzung der Forderung nach einem Arbeitsplatz oder einem Stück Land. Die Antwort der Regierung ist die des Dialogs und nicht der Gewalt. Am wichtigsten wäre aber, die unterzeichneten Abkommen zu erfüllen.
Das Kernproblem: Fehlende Arbeitsplätze
Das dritte Problem hat mit der Fähigkeit bzw. Unfähigkeit der Wirtschaft zu tun, jene grundlegende Forderung der Ex-Contras, Abgerüsteten, Rückkehrer und Arbeitslosen zu erfüllen: Die massive Schaffung produktiver Arbeitsplätze. Das ist das Kernproblem, und in dieser Hinsicht sind auch unsere Standpunkte noch unterschiedlich. Nach zwei Jahren hat die nicaraguanische Wirtschaft noch keine Antwort gefunden auf die spezifischen Umstände einer Nachkriegsgesellschaft, die wir ja nun sind. Das gegenwärtige Wirtschaftsprogramm verschärft diese Umstände sogar noch: die Vernichtung tausender Arbeitsplätze und ganzer Industriezweige, die Verringerung des Kreditvolumens usw. Im Grund funktionierte die nicaraguanische Wirtschaft in diesen zwei Jahren nur für einen kleinen Teil unproduktiver Konsumenten, die von einer künstlichen Ausdehnung des Handels profitieren, die im wesentlichen durch externe Mittel gewährleistet wird. Die ausländischen Gelder werden nicht produktiv in die Industrie oder die Landwirtschaft investiert. Sicher schafft auch die Reaktivierung kleiner Geschäfte und großer Supermärkte Arbeitsplätze, doch für wie lange? Und in der Zwischenzeit werden die Möglichkeiten, ausländische Mittel anzuziehen, für Nicaragua immer geringer. Aus dieser Perspektive heraus kommt der Ausrichtung der wirtschaftlichen Wiederbelebung bei der Suche nach sozialer Stabilität eine entscheidende Rolle zu. Der Großteil der nicaraguanischen Gesellschaft möchte Arbeitsplatze, möchte Kredite, um produzieren zu können, möchte Respekt vor dem Eigentum und eine Legalisierung der Besitztitel. Recompas, Recontras, Rejuntos und Revueltos möchten die Regierung nicht destabilisieren und auch nicht stürzen, sie möchten bloß Arbeit und die Gelegenheit, als intergraler Bestandteil in das Bemühen um die Wiederbelebung der nationalen Wirtschaft eingebunden zu werden.
Die Schattenseiten der Wirtschaftsreformen
(Managua, Mai 1992, Apia-POONAL).-Die Inflation und die Auslandsverschuldung konnten durch die neue Wirtschaftspolitik gesenkt, die Importe gesteigert werden. Auf der anderen Seite der Medaille stehen etwa 60 Prozent Arbeitslose, drastisch verringerte Sozialausgaben, Massenarmut, steigende Kriminalität. Nicaragua auf dem Weg zu einem „normalen“ Dritte-Welt-Land? 1991 erhielt Nicaragua insgesamt 1217 Millionen Dollar aus dem Ausland, davon 625 Millionen Dollar als Spenden und der Rest als Anleihen. Für 1992 sind bisher 714 Millionen US-Dollar zugesagt worden. Die Außenverschuldung konnte dank Schuldenreduzierung oder -nachlaß, unter anderen von den USA, Spanien, der Schweiz, Venezuela, Mexiko, und Kolumbien, von 10.8 Milliarden Dollar auf 9 Milliarden gesenkt werden. Was wurde mit all dem Geld gemacht? 47 Prozent dieser Mittel gingen in die Rückzahlung der Außenschuld, 24 Prozent wurden für Importkredite an große Importeure verwendet. Für Sozialausgaben und eine Ankurbelung der Produktion blieb nicht mehr viel übrig. Dort wo die Produktion gefördert wurde, handelt es sich um den Export der traditionellen Agrarprodukte wie Baumwolle, Kaffee, Bananen und Fleisch – alles gemäß der Strukturanpassung von IWF und Weltbank. Die Produktion von Grundnahrungsmitteln wird völlig vernachlässigt und mit der Politik der Importsteuersenkung sogar noch mehr zerstört.
Die Roßkur von IWF und Weltbank
Die Importe für den Konsum sind um 74 Prozent gestiegen, die Importe für landwirtschaftliche und industrielle Tätigkeiten um 24 Prozent gesunken. Die radikal gesenkten Importsteuern bewirken, daß sogar Agrarprodukte aus dem Ausland billiger sind als die entsprechende Ware aus dem Inland, z. B. Hähnchen aus den USA oder Orangen aus Honduras. Diese Außenhandelspolitik der Öffnung der Märkte ist für ein Agrarland wie Nicaragua, in dem 80 Prozent der Bevölkerung für den nationalen Konsum produzieren, eine Katastrophe. Hinzu kommt, daß Lebensmittelschenkungen aus dem Ausland, wie z. B. von der US-Agentur AID, die Grundnahrungsmittelproduktion nocht weiter sinken lassen (ein Problem, das bereits unter der sandinistischen Regierung existierte). Die im Rahmen der „Strukturanpassung“ vorgenommene massive Kürzung der Sozialausgaben verschärft die Lage der Bevölkerung. Neben den Militärausgaben wurden vor allem die Budgets in den Bereichen Bildung und Gesundheitswesen gekürzt.
Bildung und Gesundheit werden zum Privileg
Für das Schuljahr 1992 wird wieder ein Schulgeld (je nach Schultyp 1 bis 2 US-Dollar im Monat) eingeführt. Damit sollen die an sich schon niedrigen Löhne der Lehrer*innen bezahlt werden (40 . 80 Dollar). Nicht nur das Schulgeld, sondern auch das Schulmaterial und die Schuluniform gehen zu Lasten der Familien. Eine durchschnittliche Familie mit 5 bis 7 schulpflichtigen Kindern kann sich das nicht mehr leisten. Welche Auswirkungen eine solche Bildungspolitik haben wird, ist unschwer vorauszusehen. Bildung wird wieder ein Privileg der Mittel- und Oberschicht. Das verfassungungsmäßig auf 6 Prozent der Staatsausgaben festgelegte Budget für die höhere Bildung will die Regierung ebenfalls kürzen. In den zwei Jahren bürgerlicher Regierung wurden die Ausgaben für das Gesundheitswesen ebenfalls drastisch gekürzt. Dies bedeutet, daß der Zugang zum Gesundheitssystem für die Bevölkerungsmehrheit nicht gewährleistet ist. Eine Untersuchung ergab, daß 25 Prozent der ernsthaft erkrankten Personen nicht mehr zum Arzt gehen, weil sie es sich nicht mehr leisten können. Die Kindersterblichkeit ist erneut auf 64 Todesfälle pro 1000 Geburten gestiegen. Nach Angaben des Forschungsinstutes CRIES betrugen die Ausgaben für Gesundheit im Jahr 1989 pro Kopf 64 US-Dollar, 1990 45 Dollar, 1991 18 Dollar und 1992 sollen sie auf 14 Dollar pro Kopf gesenkt werden. Die Zustände in den Spitälern sind katastrophal. Zum Teil gibt es nicht einmal mehr Seife für das Klinikpersonal. Seit Monaten ist in Managua nur mehr das Karl-Marx-Krankenhaus in der Lage, seinen normalen Operationsplan zu erfüllen. Die anderen Spitäler operieren nur noch Notfälle. Den drei einzigen Kinderheimen wurde die Unterstützung entzogen, ebenso den Kinderkrippen (CDI), von denen in der Folge drei Viertel ihren Betrieb einstellen mußten. Auch das Beschäftigungsprogramm für Kriegsverletzte sollte ersatzlos gestrichen werden, doch konnten sich in diesem Fall die Betroffenen erfolgreich wehren.
Drohen Hungerrevolten?
Die Auswirkungen der von IWF und Weltbank verordneten Roßkur sind für die Mehrheit der Bevölkerung verheerend. Gemäß CRIES leben 80 Prozent der Nicaraguaner*innen in Armut, 50 Prozent sogar in extremer Armut. 58 Prozent der ökonomisch aktiven Bevölkerung sind arbeitslos oder unterbeschäftigt. Dabei kommen jedes Jahr 45 000 Jugendliche neu auf den Arbeitsmarkt. Auf dem Land ist die Situation nicht wesentlich anders als in den Städten. 1991 verloren 30 000 Landarbeiter*innen ihre Arbeit. 60 Prozent der Arbeitslosen auf dem Land sind Frauen, jede zweite Familie verfügt über weniger als 30 Dollar im Monat (der Grundwarenkorb beträgt umgerechnet 160 Dollar). Weniger als ein Viertel der Agrarproduzenten hat Zugang zu Bankkrediten. Viele landwirtschaftliche Genossenswchaften erhalten keine Kredite mehr. In der Stadt hat sich innerhalb eines Jahres die Anzahl der Haushalte, die die Grundbedürfnisse nicht befriedigen können, verdoppelt. Selbst Präsidialminister Antonio Lacayo mußte kürzlich zugeben, daß im heutigen Nicaragua die objektiven Bedingungen für Hungeraufstände gegeben seien.
Frauenbewegung: „Verschieden aber vereinigt“
(Ecuador, Mai 1992, Alai-POONAL).-Für die Nicaraguanerinnen entwickelte sich der Feminismus aus der Revolution, schrieb sich in seine Prinzipien ein. Es entstand die Notwendigkeit, zu wachsen und sich selbst zu definieren. Es entsteht auch die Notwendigkeit, eine politische Bewegung zu bilden und Praktiken und Vorschläge zu suchen, die mit den spezifischen Notwendigkeiten der Frauen zu tun haben. Im Jahr 1992 haben die Nicaraguanerinnen zwei wichtige Ereignisse zum Zusammenhalt der Frauenbewegung realisiert: im Januar fand das „Treffen der Nicaraguanischen Frauen“ statt, an dem 800 Frauen aus den verschiedenen Sektoren des Landes teilnahmen; Im März fand das „Erste Treffen zentralamerikanischer Frauen“ statt. Der historische Prozeß in Nicaragua hat die Frauen in das politische und soziale Leben einbezogen, und viele von ihnen sind seit Jahren schon organisiert. Die Bauernfrauen haben zum Beispiel im vergangenen Jahr ihr drittes Treffen realisiert und die Vergabe von Land, den Zugang zu Krediten, die vollständige Anerkennung ihrer Arbeit in der Landwirtschaft etc. gefordert; sie haben in Matagalpa den „Verein der Bäuerinnen und individuellen Viehzüchterinnen“ gegründet. Die Frauenkomitees der wichtigsten ArbeiterInnenorganisationen: ATC, CST und AMLAE bewältigen eine beachtliche Arbeit, und haben den Frauen damit eine erste Idee bezüglich der Geschlechtsproblematik vermittelt. Paralell sind zahlreiche autonome Gruppen entstanden, viele bezeichnen sich explizit als feministisch. Die starke Präsenz beim „Treffen der Nicaraguanischen Frauen“ hat das Interesse der Nicaraguanerinnen für die Bildung einer demokratischen, weiten und pluralistischen Bewegung demonstriert. 300 Frauen waren offiziell eingeladen worden, sie mußten den vorgesehenen Platz mit 500 weiteren Frauen teilen. Ihr Interesse: die Geschlechterdimension nicht als Anhang von anderen gesellschaftlichen Konflikten zu behandeln: Wirtschaft und Umwelt, Erziehung und Kultur, emotionale Beziehungen und Sexualität, Gewalt und politische Patizipation etc. Sie wollten die Realität der Frauen widerspiegeln und ihre eigenen politischen Erfahrungen und Utopien ausdrücken.
Sozialer Kahlschlag
In Nicaragua beträgt die Arbeitslosigkeit nach Angaben der Nationalen ArbeiterInnenfront über 58 Prozent und betrifft in erster Linie die Frauen. Sie sind die ersten Opfer der wirtschaftlichen Roßkur der gegenwärtigen Regierung; die Privatisierung in verschiedenen sozialen Sektoren hat beispielsweise die Schließung von Kindergärten, Schulen und Gesundheitszentren bewirkt. Eines der größten Risiken für die Frauen ist die Muttersterblichkeit, die vor allem durch schlecht ausgeführte Abtreibungen verursacht wird sowie durch die schwierige finanzielle Situation vieler Frauen, die keine ärztliche Behandlung in Anspruch nehmen können. Deswegen haben sich die Frauen entschlossen „eine Kampagne gegen Müttersterblichkeit“ zu initiieren. Sie fordern eine bessere Sexualerziehung und eine stärkere Förderung der Familienplanung und wenden sich gegen die Privatisierung der Gesundheitsdienste. Zudem sehen sich die Frauen verpflichtet, angesichts der fehlenden Aufmerksamkeit des Staates gegenüber jenen, die Hilfe am nötigsten haben (wie die 6000 Kriegswaisen), ihre gesellschaftliche Verantwortung zu multiplizieren. Die Teilnehmerinnen am Treffen der nicaraguanischen Frauen versicherten, daß sich mit der Arbeitslosigkeit die häusliche Gewalt, die Vergewaltigungen, die Prostitution und die Kriminalität verstärkt habe. „Wir werden nicht wie aktive Subjekte der Gesellschaft behandelt, sondern wie Objekte der sexuellen Erholung, … viele von uns leiden darunter, physisch und psychisch vergewaltigt und schlecht behandelt worden zu sein…“, erklärten sie, und wiesen darauf hin, daß die Verantwortlichen der Verbrechen nicht bestraft würden.
Vorschläge für Reformen
Die Nicaraguanerinnen haben 33 konkrete Vorschläge gemachht, um die Mißständen zu beheben: Unter anderen: rechtliche Reformen, Vergewaltigung soll explizit zum Delikt erklärt werden, vermittelnde und erziehende Kampagnen gegen die Vergewaltigung von Frauen. Die Nicaraguanerinnen meinen, daß Erziehung weltlich, umsonst und nicht-sexistisch sein muß. Sie sehen es als wichtig an, Reformen zu unterstützen, damit das Erziehungssystem von ihrer Diskriminierung gegenüber den Frauen (und anderen Gruppen) befreit wird. Sie wollen sich autonom organisieren und die Macht der Frauen in der Gesellschaft definieren; Sie wollen in allen Bereichen politischer Partizipation gleichberechtigt repräsentiert werden, wie auch in der Entscheidungsbildung. Sie suchen die Aufstellung von spezifischen Forderungen in autonomen Bereichen. Gleichzeitig wünschen sie aber, daß gewerkschaftliche, komunale oder politische Organisationen den Beitrag der Frauen anerkennen und die Geschlechterforderungen in ihrer internen Struktur und ihrem gesellschaftlichen Entwurf integrieren. Die Nicaraguanerinnen tun sich zusammen, um ihre Kampfstrategien und ihr eigenes gesellschaftliches Projekt zu definieren, so wie auch die gesamte Gesellschaft nicht-sexistische Werte und Gleichheit entwickeln soll. Sie haben beschlossen, in der „Kampagne des Indianischen, Schwarzen und Volkswiderstand“ teilzunehmen, um die Kultur zu befreien und übergreifende Netze zu bilden, etwa zwischen Erzieherinnen und Bäuerinnen. Sie wollen „verschieden aber vereint“ sein und ein Nicaragua konstruieren, in dem alle die Möglichkeit zu leben haben.
CHILE
Volksradios – Alternativen zum Kommerzfunk?
(Mexiko, Mai 1992, Apia-POONAL).-Der Zusammenschluß der Volksradios in Chile, die sich 1990 in der Gruppierung Anarap organisiert haben, haben sich mittlerweile zu einer basisorientierten Alternative in der überwiegend konservativ orientierten Medienlandschaft Chiles entwickelt. Der Leiter von Anarap, Luis Gallegos, bestätigte in einem Interview mit „Tierra Nuestra“ (Apia): „Die Radio-Unternehmen verfolgen die Entwicklung der populären Basissender mit Sorge. Sie fürchten, daß sie den Volkssektoren eine neue Etappe sozialer, kultureller und politischer Identität und Partizipation eröffnen könnten.“ Gallegos sagte, die Gründung von Anarap im Januar 1990 sei der Beginn einer neuen Etappe in der Mediengeschichte Chiles. Es sei ein Prozeß in Gang gekommen, der die massenhafte Ausbreitung von Volksradios zum Ziel habe. „In Lateinamerika ist es wichtig, die indianischen Gemeinschaften, die Bauern und städtische Bevölkerung mit eigenen Kommunikationsmedien auszustatten und dadurch die Bildung einer einer gemeinsamen Identität zu ermöglichen“, sagte Gallegos. Auch in anderen Ländern gebe es bereits vielversprechende Ansätze, etwa die Volksradios in Ecuador (Latacung) und Peru, die Sender der Indigenas in Mexiko und Kolumbien und der Minenarbeiter*innen in Bolivien sowie die Initiative des Instituts für Volkskultur in Santa Fe (Incupo) in Argentinien. „In Chile haben wir noch nicht so große Erfahrungen“, räumte Gallegos ein. Nicht-kommerzielle Radios errichteten erstmals die Katholischen Gemeinden in Estrella del Mar und Voz de la Costa im Süden Chiles, dann begannen auch Jugendverbände, Gewerkschaften, Frauenorganisationen und Menschenrechtsgruppen, ihre Anliegen über den Äther zu verbreiten. Die Volksradios sehen sich als Gegenpol zu den kommerziellen privaten Radios, die die Medienlandschaft in Lateinamerika dominieren: 93 Prozent aller Rundfunkstationen sind in der Hand privater Geldgeber. Zum Vergleich: In Afrika sind es nur 27 Prozent. Nach Statistiken der Internationalen Telekommunikationsunion (UIT) existierten in Lateinamerika 1984 5600 Radiossender, die Volks- und Gemeinschaftsradios bilden in diesem Spektrum bislang noch ein Randphänomen. Lediglich in Argentinien fallen sie zahlenmäßig ins Gewicht: Dort gibt es 185 kommerzielle Radios und 1500 Gemeinschaftsradios. In den anderen lateinamerikanischen Ländern ist das Verhältnis genau entgegengesetzt. In Venezuela existieren 156 kommerzielle Sender und fünf Volksradios, in Ecuador 885 komerzielle und 12 nicht- kommerzielle Funkstationen. In Brasilien senden gar 2375 kommerzielle Radios, jedoch nur 110 Gemeinschaftssender. In Bolivien (254 private und 17 Gemeinschaftssender) und in Chile (256 kommerzielle und 52 nicht-kommerzielle Sender) ist das Verhältnis ähnlich, lediglich Peru fällt noch etwas aus dem Rahmen mit 350 kommerziellen und 220 kollektiven Rundfunkstationen. Auf seinem zweiten Kongreß hatte Anarap die Initiative für ein basisorientiertes Radioprojekt ergriffen. Es sollte gleichsam eine Reaktion auf die Demokratisierung im Lande sein und den Erwartungen der Bevölkerung – und insbesondere der sozialen Bewegungen – Rechnung tragen. Nach diesem Kongreß im April 1990 setzte eine Gründungswelle ein, die meisten Volksradios, etwa die in den Armenvierteln, entstanden in dieser Phase. Diese Sender haben im allgemeinen nur eine geringe Reichweite. Die Ausrüstung besteht aus einem Sender und einer Antenne, was eine Anfangsinvestition von ungefähr 260 Dollar erfordert. Hinzukommen Kosten für Aufnahmegeräte, Mikrofone, Mischpulte.
Die Erfahrung hat gezeigt, daß die Radioinitiativen durchaus in der Lage waren, die Stationen selbst aufzubauen und die Finanzierung sicherzustellen. Um Geld zu sammeln, organisieren die Stadtteil- und Dorfbewohner Feste und Sportveranstaltungen oder verkaufen Essen zu niedrigen Preisen. Unverzichtbarer Bestandteil der Finanzierung sind zudem die Beiträge von internationalen und nationalen Hilfsorganisationen. Meist arbeiten fünf bis zehn Leute in einem Volksradio – ehrenamtlich natürlich, es werden keine Gehälter gezahlt oder Aufwendungen erstattet. Ein bis zweimal pro Woche werden Sendungen übertragen, vor allem samstags und sonntags. Anarap verfügt über Werkstätten, in denen Mitarbeiter ausgebildet werden. Die Volksradios strahlen ein buntes Programm aus. Korrespondenten aus der Bevölkerung berichten über lokale Themen, sei es auf dem Land oder in den Armenvierteln. Mittlerweile haben sich auch übergreifende Informationsnetze gebildet. Und zudem strahlen die Kollektivradios mittlerweile auch 20 Programme über die kommerziellen Sender aus. Der Erfolg der Volksradios hat natürlich nicht nur Anerkennung und Zustimmung ausgelöst. Insbesondere militante rechte Gruppierungen polemisieren gegen die Basissender – mit einer gewissen Resonanz. Der Minister für Transport und Telekommunikation jedenfalls kündigte an, die Rundfunkstationen per Verfassungsklage zum Schweigen zu bringen. Doch inzwischen hat die Regierung selbst einen Gesetzesentwurf im Parlament eingebracht, der den Rahmen der Gemeinschaftsradios abstecken soll. Gallegos glaubt denn auch, daß die konservativen Kräfte von ihrem hartnäckigen Veto abgerückt und nun darauf bedacht sind, die Entwicklung in ihrem Sinn zu beeinflussen.
Es gibt zwei grundätzlich verschiedene Konzeptionen für einen Gesetzentwurf. Nach den Vorstellungen der Konservativen sollen die Volkssender als kommerzielle „Radios mit niedriger Leistung“ bestimmt werden, sie sollen wie kleine Unternehmen behandelt werden und Eigentum von physischen Personen sein. Anarap hingegen fordert, daß die Gemeinschaftsradios in dem neuen Gesetz als öffentliche Dienstleistung bestimmt werden. Sie sollen keine Gewinnziele verfolgen und erzieherisch und informativ wirken und demokratisch geleitet werden. Die Gegner der Kollektivradios fürchten freilich nicht so sehr die wirtschaftliche Konkurrenz der Basissender, sondern deren – nach ihrem Verständnis – verderblichen Einfluß auf Moral und politisches Bewußtsein der Bevölkerung. Die ultrarechte „Demokratische Unabhängige Union“ etwa rüstet für die Gemeindewahlen im Juni bereits mächtig auf. Sie will 40 lokale Radiosender installieren, um mit den Funkstationen von Anarap mithalten zu können.
KUBA
Komplizierter Kraftakt
(Mexiko, 28. Mai 1992, NG-POONAL).- Vom heutigen Kuba zu reden, das bedeutet, sich auf den Lebensmittelplan und die Biotechnologie zu beziehen, auf die drei Millionen Schüler*innen, die täglich in die Schule gehen, die Hunderte von Kinderkreisen und Kindergärten, und die vielen Sektoren, die sich über ihre Organisationen seit drei Jahrzehnten als Machtfaktoren in der Gesellschaft etabliert haben. Wie kann man sich mit Objektivität auf die kubanische Realität beziehen, angesichts der Hartnäckigkeit des Weißen Hauses, das politische System der karibischen Insel zu zerstören? Wie ist die Bedeutung der hausgemachten und aufgestauten Probleme zu beurteilen, etwa der Bürokratismus, die strukturelle Abhängigkeit und die Korruption? Am 23. Oktober 1991 wurde in der Zeitung Granma, die offizielles Medienorgan der Kommunistischen Partei Kubas (PCC) ist, eine Resolution veröffentlicht: Diese bevollmächtigt das Zentralkomitee, „die notwendigen Entscheidungen in Übereinstimmung mit der existierenden Situation zu treffen“. Dieses Dokument beschreibt einen konkreten wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und erzieherischen Plan, der das Leben der neuneinhalb Kubaner*innen regeln soll, solange „die außergewöhnlichen Zustände im Land anhalten“. Ein großer Teil der Führung der aktuellen PCC und der Regierung entstand aus der bewaffenten Bewegung, die unter der Leitung von Fidel Castro 1959 die Macht übernahm. Seit jenem Tag sind 33 Jahre vergangen, in dieser Zeit hat sich die kubanische Gesellschaft sehr stark verändert. Seit April 1961, als Kuba sich zum sozialistischen Staat erklärte, hat das Land immer wieder das Interesse der Weltöffentlichkeit auf sich gezogen – sei es in freundlicher oder feindlicher Absicht. Die USA, die bis zum Sturz des Diktators Batista die Geschicke auf Kuba maßgeblich bestimmten und die Reichtümer der Insel ausbeuteten, haben seit der Machtübernahme Castros mit allen Mitteln versucht, die Revolutionsregierung zu stürzen: durch eine militärische Invasion, durch eine totale Wirtschaftsblockade, durch den Aufbau von Propaganda-Sendern, die die Insel beschallen.
US-Blockade trieb Kuba ins sozialistische Lager
Erst die Pressionen der USA und ihrer Allierten zwang Kuba, sich nach neuen Verbündeten umzusehen. Das mittlerweile aufgelöste Lager der sozialistischen Staaten bot Kuba Kredite und langfristige Abnahmengarantien für Zucker. In dreißig Jahren hat sich die kubanische Wirtschaft auf die Handelskooperation und – hilfe mit den vormals sozialistischen Staaten eingestellt und eine strukturelle Abhängigkeit entwickelt: Insbesondere Öl und neue Technologien kamen aus den COMECON-Staaten. Seit Mitte der 80er Jahre brachen einige Probleme auf. Bürokratismus, Korruption und die Rekrutierung neuer Führungskräfte. Deutlich wurde auch die gefährliche Abhängigkeit der Wirtschaft vom zerbröckelnden sozialistischen Block, Stagnation in einigen Sektoren war nicht mehr zu übersehen. Die Führung reagierte auf diese Probleme mit der sogenannten Phase der „Berichtigung von Irrtümern und negativen Tendenzen“. Viele entdeckten hier eine Antwort auf die Perestroika von Gorbachov, aber tatsächlich war die „Rectificacion“ früher eingeführt worden (1985). Gleichzeitig wurden im Ausland massive Kampagnen gegen die Regierung initiiert, in denen das kubanische System als letzter Hort stalinistischer Betonköpfe dargestellt wurde.
Der wirtschaftliche und politische Zusammenbruch der osteuropäischen Staaten zu Beginn der neunziger Jahre zerfielen auch die Abkommen, die drei Jahrzehnte lang die Grundlage der kubanischen Wirtschaft gewesen waren: Die Versorgung mit Industriegütern und die Öllieferungen, die Kuba im Austausch gegen Zucker zu vorteilhaften Preisen erhalten hatte, sanken dramatisch. Es wurden Maßnahmen ergriffen, um die Produktion auf die veränderte Lage einzurichten und die Versorgung der Bevölkerung mit den notwendigsten Gütern sicherzustellen. Trotz aller Probleme in dieser Übergangsphase sind Erfolge der Korrekturen sichtbar. Es wurde erreicht, daß bislang niemand auf der Karibikinsel hungern muß, weder Kinder noch Alte, weder Frauen noch Männer, weder Schwarze noch Weiße. Die kubanische Regierung betrachtet dies als Erfolg, auch wenn nicht alle mit dem Angebot an Gütern und der Versorgung mit Lebensmitteln zufrieden sind. Das hohe Niveau der Gesundheitsversorgung, der medizinischen Forschung oder auch der Entwicklungen auf dem Gebiet der Biotechnologie, die mittlerweile zu einer wichtigen Devisenquelle geworden ist, ist international bekannt. Der Tourismus spielt ebenfalls eine große Rolle in den Überlegungen, die staatlichen Einnahmen zu erhöhen. Die Regierung habe Verhandlungen mit Investoren geführt, die Interesse an einem Engagement auf Kubahegen. Noch ist freilich nicht sicher, ob Kuba den Übergang bewältigen kann. Mit unverminderter Härte will die nordamerikanische Regierung die Karibikinsel in die Knie zwingen, der Sturz Castros ist erklärtes Ziel von Präsident Bush. Die Blockade von außen lastet schwer auf dem Land und macht die internen Korrekturen zu einem komplizierten Kraftakt.
EL SALVADOR
FMLN: Regierung führt „schmutzigen Krieg“
(San Salvador, 26. Mai 1992, Salpress-POONAL).-Die FMLN hat sich am 19. Mai „im Ausnahmezustand befindlich“ erklärt. Die Befreiungsbewegung beschuldigt die Regierung von Alfredo Cristiani und die Streitkräfte, einen „schmutzigen Krieg“ begonnen zu haben. Hintergrund der Eskalation: Die Generalkommandantur der FMLN erklärte, eine Militäreinheit habe die Sicherheitsgruppe eines Kommissionsmitglied der FMLN angegriffen und ein Mitglied getötet. Kommandant Schafik Handal forderte von der Regierung und den Streitkräften eine genaue Untersuchung des Vorfalls, der dem „dem Friedensprozeß einen starken Schlag versetzt hat“. Die FMLN kündigte eine befristete Unterbrechung ihrer Teilnahme in der Nationalen Kommission für die Konsolidierung des Friedens (COPAZ) an. „Wir werden nicht mehr an der COPAZ teilnehmen, bis dieses Probleme geklärt ist“, so der Kommandant Joaquin Villalobos, Repräsentant der FFMLN im Kontrollkomitee der Friedensabkommen. Er versicherte, daß die FMLN am 19. Mai direkte Gespräche mit der Regierung begonnen habe. Gloria Salguero Gross, Mitglied der Regierungspartei ARENA und Koordinatorin in der COPAZ, bestätigte, daß die Kommission „Aktionen dieser Art, die dem Aufbau des Friedens nicht helfen“, zurückweise und verurteile. Der Vizeverteidigungsminister, General Orlando Zepeda, bedauerte das Attentat gegen das Mitglied der FMLN, und versicherte, daß „alles zur Rekonstruierung des Vorfalls getan werde“. Die Menschenrechtskommission bestätigte am 21. Mai, daß das Attentat “ deutlich die Kontinuität von Menschenrechtsverletzungen zeigt und zu einer Reihe von Morden zählt, die nach Abschluß der Friedensabkommen begonnen wurden.“
FMLN wird eine politische Partei
(San Salvador, 27. Mai 1992, Salpress-POONAL).-Die Frente Farabundo Marti (FMLN) hat sich offiziell zur politischen Partei erklärt. Allerdings steht die formale Anerkennung und Legalisierung der ehemaligen Aufstandsbewegung, die in einem Friedensabkommen mit der Regierung El Salvadors vereinbart wurrde, noch aus. Auf einer Veranstaltung auf dem Platz der Amerikas in San Salvador sagte der Kommandant Roberto Roca von der Obersten Leitung der FMLN, daß die Reihen der Organisation „allen offenstehen, die für demokratische und revolutionäre Reformen kämpfen, um dem Vaterland eine bessere Zunkunft zu geben“. „Wir sind bereit, die Front in eine einzige und siegreiche vereinigte Partei zu verwandeln“, so Roca. Der FMLN gehören fünf Guerillaverbände an: dieVolkskräfte der Befreiung (FPL), das Revolutionäre Heer des Volkes (ERP), der Nationale Widerstand (RN), die Revolutionäre Partei der Arbeiter Zentralamerikas (PRTC) und die Kommunistische Partei (PC). Im Friedensabkommen ist festgelegt, daß Staatspräsident Alfredo Cristiani dem Parlament bis zum 1. Mai ein Dekret zur Legalisierung der FMLN als Partei vorlegen sollte. Kommandant Schafik Handal, ebenfalls Mitglied des obersten Gremiums qualifizierte die Erklärung als „historisch“ und erklärte den Demokratisierungsprozeß als irreversibel. Die Katholische Kirche bezeichnete über den Hilfsbischof von San Salvador, Monsenor Gregorio Rosa Chavez, die formale Erklärung der Aufstandsbewegung zur Partei als positiv, da sie ein Beweis dafür sei, daß der Krieg tatsächlich vorbei ist.
Säuberung der Armee
(San Salvador, 27. Mai 1992, Salpress-POONAL).-Die „Ad Hoc“- Kommission, die überprüfen soll, ob Offiziere Menschenrechtsverletzungen begangen haben, hat am 19. Mai ihre Arbeit aufgenommen. Sie ist aus drei zivilen Mitgliedern und zwei Militärischen Beobachtern zusammengesetzt, so wie es in den Friedensabkommen vereinbart worden war. Reinaldo Galindo Polh, Abraham Rodriguez und Eduardo Molina Olivars werden in den kommenden drei Monaten 3000 Offiziere überprüfen und insbesondere begutachten, ob sie Menschenrechte verletzt haben. Die beiden Ex- Verteidigungsminister, General Humberto Larlos und Eugenio Vides Casanova, nehmen als Berater der Kommission teil, nicht aber in den Untersuchungen oder den Entscheidungen.
GUATEMALA
Ex-Bürgermeister an die USA ausgeliefert
(Guatemala, 27. Mai 1992, Cerigua-POONAL).-Der Fall Vargas ist weiterhin Thema in Guatemala. Der Bürgermeister der östlich der Hauptstadt gelegenen Gemeinde Zacapa war am 19. Mai von der US- Antidrogenbehörde DEA in die USA gebracht worden. Er wird von der US-Justiz angeklagt, in den Drogenhandel verwickelt zu sein. 150 Polizisten mit verdeckten Gesichtern begleiteten die Operation, in der Arnoldo Vargas vom Gefängnis „Pavon“ zu den guatemaltekischen Luftstreitkräften (FAG) gebracht wurde. In der Operation waren auch zwei Hubschrauber der DEA beteiligt. Die lokale Presse berichtete darüber, daß angeblich von einem internationalem Kommando die Befreiung des Gefangenen geplant war. Obwohl der Exbürgermeister Zacapas nach New York überführt wurde, hält die Angst vor Repressalien, besonders in Justizkreisen, an. Auf Mario Terracena, Kongreßabgeordneter und Berichterstatter der Untersuchungskommission, die das vorzeitige Urteil gegen Elder Vargas empfohlen hatte, weil dieser die Flucht seines Bruders Arnoldo aus dem Gefängnis geplant habe, wurde bereits ein Attentat verübt. Neben anderen Abgeordneten und Funktionären hatte auch Jaime Archila, Abgeordneter für die Union des Nationalen Zentrums (UCN), seine Besorgnis über eine mögliche Gewalteskalation geäußert, die sich aufgrund der Ausweisung von Arnoldo Vargas und wegen der Unfähigkeit der Regierung, den Drogenhandel zu bekämpfen, entfesseln könnte. Mit Manuel Escobar wurde am 22. Mai ein weiterer Drogenhändler in die USA überwiesen. Antonio Lopez kündigte an , daß die Überweisung von Otto Evelio Quiroz Davila, ein Komplize von Vargas, von einem Moment zum anderen stattfinden könnte. Die Auslieferungen waren für die Regierung von Jorge Serrano Elias aufgrund des internen Drucks eine schwierige Entscheidung. Zweifellos ist aber der Druck von Seiten der USA noch stärker. Ein weiterer Fall, vielleicht der schwierigste, ist noch ungelöst: die Verwicklungen von Leutnant Carlos Ochoa und seinen Gefolgsleuten. Ochoa, gemeinsam mit dem Koronel Miguel Lopez Mendez und den Kapitänen Hugo Leonel Perez und Jose Matio Flores, sowie der zweite Kapitän Rene Guillermo Portocarrero, wurden am 7. Januar dieses Jahres ihrer Ämter enthoben, da sie in Drogengeschäfte verwickelt sein sollen. Die Richterin kommentierte, daß die von der DEA zur Überführung vorgelegten Beweise überraschend detailliert seien. Am 26. April wurden in der Tageszeitung Prensa Libre Fotografien publiziert, die die DEA vorgelegt hatte. Zu sehen ist, wie von Fahrzeugen der Streitkräfte Drogen abgeladen werden. Dieser Skandal erschüttert die Glaubwürdigkeit der Armee, die den Kampf gegen den Drogenhandel häufig als Vorwand für repressive Maßnahmen anführt.
MITTELAMERIKA
Immmer mehr Menschen leben in Armut
(Guatemala, 26. Mai 1992, NG-POONAL).-Die Armut der ländlichen Bevölkerung in Zentralamerika hat in den vergangenen zehn Jahren drastisch zugenommen. Die Ursachen, so verschiedene Studien, die in dieser Woche bekannt wurden, liegt in der geringen Aufmerksamkeit, die die Regierungen der Entwicklung der ländlichen Regionen widmen. Der Direktor der Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL), der guatemaltekische Ökonom Gert Rosenthal, sagte, die Verarmung der Landbevölkerung sei vor allem durch die Vernachlässigung der Landwirtschaft verursacht. Die Agrarerträge fielen oft noch hinter die gesamtwirtschaftliche Produktion zurück. Zweifellos ist Zentralamerika Problemen der technischen Effizienz ausgesetzt, die eine Produktivitätssteigerung verhindern, ein Problem, daß seine Wurzeln in Kolonialisierung und Marginalisierung hat.
„Es existiert keine soziale Gerechtigkeit“
Im jährlichen Bericht, den die Kommission zur Verteidigung der Menschenrechte in Zentralamerika (Codehuca) in San Jose in Costa Rica präsentierte, bezeichnete die wirtschaftliche Marginalisierung als die gravierendste Form der Gewalt in Zentralamerika. Die Menschenrechtsorganisation machte dafür vor allem die von internationalen Finanzorganisationen auferlegten strukturellen Anpassungsprogramme verantwortlich. 50 Prozent der arbeitenden Bevölkerung in Zentralamerika ist in der Agrarwirtschaft beschäftigt. Eine Verarmung in diesem Sektor bedeutet die Verschlechterung der Lebensbedingungen für die Bevölkerungsmehrheit. „Die Menschenrechte werden von Tag zu Tag gravierender verletzt. Die Situation verbessert sich nicht, auch wenn viele Regierungen dies verkünden. Obwohl es demokratische Wahlen gibt, existiert keine soziale Gerechtigkeit“, sagte die Präsidentin von Codehuca, Vilma Nunez. Die Organisation der Vereinten Nationen hat diese Woche in Genf in der Schweiz ein weiteres Dokument vorgelegt. Es trägt den Titel „Der Nutzen der Wirtschaftshilfe, um die Auswanderungsanreize in Zentralamerika zu reduzieren“. Es wird darauf hingewiesen, daß Ende des Jahrhundert 16 Millionen Zentralamerikaner*innen Arbeit suchen werden „und nicht alle von den nationalen Beschäftigungsmöglichkeiten absorbiert werden können.“ In Guatemala, ein Land mit 9.5 Millionen Einwohner*innen, habe sich die ländliche Armut zwischen 1980 und 1990 von 66 auf 85 Prozent der Bevölkerung ausgeweitet, so die Informationen der CEPAL. Die UNO-Behörde, mit Hauptsitz in Santiago de Chile, fügt hinzu, daß in Guatemala 3.6 Millionen Menschen auf dem Land als extrem arm einzustufen seien. Vor zehn Jahren seien es 1.7 Millionen gewesen.
Armutsflüchtlinge
Die 111 Kilometer lange Waldgrenze mit Guatemala, in den Gemeinden Tenosique und Balancan des Bundesstaates Tabasco, Mexiko, ist einer der größten Übergänge für Zentral- und Südamerikaner, die illegal nach Norden flüchten, so die Aussagen der lokalen Behörden im mexikanischen Tagesblatt „El Universal“ vom 25. Mai. Der Bürgermeister von Tenosique, Carlos Paz Contreras, enthüllte, daß viele von den Tausenden Illegalen nicht weiter in die USA ziehen, sondern in Mexiko bleiben und von Raub und Prostitution leben. Die Mehrheit der Illegalen seien Männer im Alter von 25 Jahren. Es seien aber auch Mädchen von 14 oder 15 Jahren dabei, die in den Straßen und Märkten unkontrolliert Arbeit suchten, erkannte die Generalleitung für Migration des Regierungssekretariats an. Der Generalsekretär der Unabhängigen Zentrale der Landarbeiter und Bauern (CIOAC) in Tabasco, Zaragoza Rodriguez Rivera, informierte darüber, daß viele der Flüchtlinge, die mehrheitlich aus Guatemala, El Salvador und Honduras stammten, auf Plantagen Arbeit suchten, etwa während der Ernte von Bananen, Zucker und Kaffee. Die Mehrheit erhalte sehr niedrige Löhne. Viele zögen es vor, weiter in die USA zu ziehen. Die „polleros“, die die Leute über die Grenze bringen, verlangten bis zu 100 Dollar für den Übergang von Guatemala nach Mexiko. Die „Reise“ bis ans Endziel Kalifornien oder Texas koste mehr als Tausend Dollar, so der Bauernführer. Die Zahl der Zentralamerikaner*innen ohne Papiere in den USA wagen selbst die Einwanderungsbehörden kaum abzuschätzen. Sie wissen nur, daß mehr als 300.000 die Erlaubnis zum dauerhaften Aufenthalt haben. Obwohl jährlich Tausende zurückgebracht werden – nach Angaben der Behörde zur Integration und Einbürgerung der USA wurrden im vergangenen Jahr allein 6.574 Guatemaltek*innen zurückgebracht – sind die Lateinamerikaner*innen die einfallsreichsten, was die Umgehung von Kontrollen angeht, die entlang der 3.000 km langen Grenze zwischen Mexiko und den USA existieren.
„Die USA hat Zentralamerika vergessen“
In den 80er Jahren, hat Zentralamerika (mit Ausnahme von Nicaragua) von den USA 7,500 Millionen US-Dollar erhalten. 19.6% waren Militäthilfe, 80.4% Wirtschaftshilfe. Von 1990 bis 1992 hat die Regierung in Washington 2,600 Millionen Dollar an Wirtschaftshilfe für Zentralamerika bewilligt. Davon erhielt Guatemala 266.3 Millionen, El Salvador 912.2 Millionen, Honduras 495 Millionen, Nicaragua 730.4 und Costa Rica 173.8 Millionen. Diese Hilfe reicht nicht aus, um den Menschen einen Anreiz zu geben, in ihrer Heimat zu bleiben. „Die USA hat Zentralamerika vergessen“, bekannte diese Woche ein Editorial der einflußreichen Tageszeitung New York Times, und erinnerte den US-Präsidenten daran, daß seine Regierung nicht die Opfer der Kriege vergessen solle, die sie selbst finanziert habe.
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