Deutsche Ausgabe des wöchentlichen Pressedienstes lateinamerikanischer Agenturen Nr. 183 vom 07.03.1995
Inhalt
KUBA
NICARAGUA
MEXIKO
HAITI
GUATEMALA
BRASILIEN
KUBA
Wirtschaftswachstum erwartet
– Von Elsy Fors
(Havanna, 28. Februar 1995, prensa latina-POONAL).- Das Kubanische Wirtschaftsforschungsinstitut (CEEC) an der Universität von Havanna erwartet für 1995 ein Wirtschaftswachstum von 2 Prozent. Diese Zahl gab der Institutsdirektor Alfonso Casanova bekannt. Zwar gehen die neuesten Schätzungen für die Zuckerrohrernte 1994/95 nur noch von 3,5 Millionen Tonnen aus, doch konnte nach Angaben des CEEC der Schrumpfungsprozeß der Wirtschaft in 18 von 21 Industrienbranchen gestoppt werden. Die Wissenschaftler*innen gehen bei ihrer Analyse davon aus, daß das Haushaltsdefizit im Vergleich zu 1993 von 5 Milliarden Pesos auf 1 Milliarde Pesos fallen wird und die Subventionen an Staatsbetriebe und Kooperativen um 12 Prozent gekürzt werden. Der überschüßige Geldumlauf soll sich von noch 12 Milliarden Pesos im Vorjahr auf 7,5 Milliarden in 1995 verringern. Alfonso Casanova erwartet Exporteinnahmen zwischen 1,3 und 1,5 Milliarden US-Dollar (nach offiziellem Wechselkurs gleich Peso) und wegen möglicher neuer Kredite eine Erhöhung der Auslandsschuld auf insgesamt 8,6 Milliarden Dollar. Sein Institut warnte trotz positiver Anzeichen jedoch gleichzeitig. Von einem wirklichen Erholungsprozeß der kubanischen Wirtschaft könne erst dann gesprochen werden, wenn die Zuckerproduktion ihre früheren Zahlen wieder erreiche. Die guten Zuckerrohrernten hatten ein Ergebnis von mehr als 7 Millionen Tonnen.
Unveröffentlichte Tagebuchaufzeichnungen von Che Guevara und Raul
Castro
(Mexiko-Stadt, 4. März 1995, POONAL).- „Von weitem konnte man über den Kasernen der Unterdrückung die Flammen der Freiheit brennen sehen. Eines nicht so fernen Tages werden wir auf dieser Asche Schulen bauen.“ Eine Tagebucheintragung vom 17. Januar 1957, aus den Anfängen des Kampfes der kubanischen Guerilla im Kampf gegen die Batista-Diktatur auf der Insel. Sie stammt von Raul Castro, dem Bruder Fidel Castros. Nachzulesen ist die Stelle in dem Buch „La Conquista de la Esperanza“ (Die Eroberung der Hoffnung), das auf der gerade zuende gegangenen Internationalen Buchmesse in Mexiko-Stadt präsentiert wurde. In bisher weitgehend unveröffentlichten Aufzeichnungen von Che Guevara und Raul Castro läßt es die ersten 80 Tage der Guerilla nach ihrer Landung auf Kuba wieder lebendig werden.
Den historischen Kontext stellen die zwischen die Tagebuchstücke eingeschobenen Erklärungen eines kubanischen Historikerteams her. Fotos – ebenfalls mit vielen Erstveröffentlichungen außerhalb Kubas – runden diesen Buchteil ab. So entsteht auf knapp 300 Seiten eine äußerst spannende Rekonstruktion der ersten Etappe der kubanischen Revolution. Während persönliche Aufzeichnungen und Texte „des Che“ aufgrund früherer Veröffentlichungen wie dem „bolivianischen Tagebuch“ keine so große Neuigkeit sind, überrascht vor allem die Zeugniskraft der Tagebucheintragungen von Raul Castro.
'Cuba Sí' unterstützte Buchprojekt
Den Aufzeichungen vorangestellt sind zwei Einführungen. In der ersten verliert sich Heinz Dieterich Steffan in philosophischen Betrachtungen über den Sozialismus, überflüssigen Heldenverehrungen der kubanischen Protagonisten und einem Übermaß an Zitaten und Metaphern. Dietrich Steffan kommt dennoch das Verdienst zu, als Herausgeber und Koordinator wesentlichen Anteil an der Veröffentlichung des Buches zu haben. Die zweite Einführung stammt von dem mexikanischen Historiker und Schriftsteller Paco Ignacio Taibo II. Bei der offiziellen Buchvorstellung gab er der Hoffnung Ausdruck, beim „neuen Leser, dem alles nach Großvater und Urgrossvater klingt“, Interesse zu wecken. Dies dürfte ihm gelungen sein. Er zeichnet präzis und oft humorvoll die Vorbereitungen der kubanischen Revolutionäre im Sommer und Herbst 1956 auf mexikanischem Boden nach, bis 82 von ihnen mit dem halbwracken Schiff „Granma“ in der Nacht auf den 25. November 1956 den Hafen von Tuxpan, Veracruz, Richtung Kuba verlassen. Ab diesem Zeitpunkt erzählen Che Guevara und Raul Castro die Geschichte weiter. Das Buch, das übrigens mit finanzieller Hilfe der deutschen Organisation „Cuba Si“ entstand, ist vorerst nur auf Spanisch erhältlich. Eine baldige Übersetzung ins Deutsche wäre wünschenswert.
Vollständiger Titel: La Conquista de la Esperanza. Diarios ineditos de la guerilla cubana. diciembre de 1956 – febrero de 1957. Editorial Joaquín Mortiz. Grupo Editorial Planeta. Mexico D.F., febrero 1995.
NICARAGUA
Regierung und Parlament uneins in Verfassungsfragen
(Mexiko-Stadt, 3. März 1995, POONAL).- Parlamentsdiktatur oder Gleichgewicht der Staatsgewalten? In Nicaragua führen Regierung und Paralment derzeit einen wahren Medienkrieg gegeneinander. Grund sind die von den Abgeordneten ausgearbeiteten Reformen von 66 der 202 Verfassungsartikel. Präsidentin Violeta Barrios de Chamorro weigert sich, die vom Parlament bereits am 1. Februar mehrheitlich verabschiedeten Änderungen zu veröffentlichen. Nachdem Verhandlungen in letzter Minute scheiterten, erklärte Parlamentspräsident Luis Humberto Gúzman das Reformgesetz ab dem 24. Februar zur „einzigen Verfassung“. Die Regierung dagegen beruft sich nach wie vor auf die noch unter den Sandinisten zustande gekommene Verfassungsversion von 1987. Auf eine entsprechende Ansprache an die Nation in Radio und Fernsehen von Violeta Barrios reagierte das Parlament schnell. Seit dem 27. Februar läßt es über etwa 30 Radiostationen seine Auffassung verbreiten. Abgeordnete und Juristen stehen dabei der Bevölkerung Rede und Antwort. Außerdem lassen die Parlamentarier tausende Broschüren verteilen, in denen sie den Inhalt der Reformen erklären.
Reformprojekt schränkt Mahchtbefugnisse der Exekutive ein
Zentrale Punkte in der Verfassungsänderung sind die Beschneidung der Macht des Präsidentenamtes und die Regelungen für zukünftige Präsidentschaftswahlen. Wird das Reformgesetz allgemein akzeptiert, dann wird für Violeta Barrios das Regieren noch schwieriger als bisher. Außerdem könnte ihr Schwiegersohn Antonio Lacayo, Präsidialminister und mächtigster Mann in ihrem Kabinett, als ihr Familienangehöriger nicht wie vorgesehen bei den Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr kandidieren. Juristisch gesehen ist es eine Interpretationsfrage, ob nun bereits die neue oder noch die alte Verfassung gilt. Machtpolitisch betrachtet scheint das Parlament die besseren Karten zu haben. Der Versuch der Regierung, durch einstweilige Verfügungen, unter anderem durch Antonio Lacayo eingereicht, das Reformgesetz zu stoppen, scheiterte vorerst. Ein Appellationsgericht in Managua wies die Eingaben zurück. Eine mögliche Entscheidungsinstanz wäre der Oberste Gerichtshof. Doch einerseits ist unklar, ob es für die Verfassungsfragen wirklich zuständig ist. Andererseits ist bekannt, daß die Mitglieder zerstritten sind, was den Inhalt der Reformen betrifft. Und über die von den neun Richterstellen momentan zwei unbesetzten Stellen entscheidet das Parlament.
Ein Ausweg aus dem Dilemma könnte eine Volksbefragung sein, wie sie die Präsidentin dem Parlament eher angedroht als vorgeschlagen hat. Eine andere Möglichkeit ist eine Verfassungsversammlung. Diese Variante brachte der ehemalige Präsident Daniel Ortega ins Spiel. Vielleicht wird als weitere Option doch noch eine neue Verhandlungsrunde zwischen Exekutive und Legislative angesetzt. Will das Parlament allerdings auf absoluten Konfrontationskurs gehen, kann es versuchen, die Präsidentin abzusetzen. Vizepräsident Virgilio Godoy hat sich wiederholt selber als geeigneten Ersatz ins Spiel gebracht. Dann könnten allerdings diejenigen wie Ortega Recht bekommen, die bereits für eine Fortdauer des Verfassungsstreites „Chaos und Anarchie“ prophezeien. Parlamentspräsident Gúzman scheint dieses Wagnis nicht eingehen zu wollen. Das Reformgesetz „wird der Präsidentin nicht verbieten, zu regieren“ meinte er noch vor wenigen Tagen. So wird die Auseinandersetzung im wesentlichen über die Medien weitergehen. Erfahrungen in derartigen Schlammschlachten haben die Nicaraguaner in den letzten Jahren genug gesammelt.
MEXIKO
Bruder des Expräsidenten unter Mordverdacht
(Mexiko-Stadt, 5. März 1995, POONAL).- Mexiko wird erneut von einem politischen Erdbeben erschüttert. Grund ist die Verhaftung von Raul Salinas de Gortari, dem Bruder des Ex-Präsidenten Carlos Salinas de Gortari, am vergangenen Dienstag durch die Bundesstaatsanwaltschaft. Raul Salinas steht unter dem dringenden Verdacht, einer der intellektuellen Urheber des Mordes am ehemaligen Generalsekretär der regierenden Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI) zu sein. José Francisco Ruiz Massieu war am 28. September 1994 in Mexiko-Stadt erschossen worden. Damals wurde zwar der Schütze verhaftet, doch die Hintergründe der Tat blieben weitgehend ungeklärt. Die Versuche, den seitdem verschwundenen PRI-Parlamentsabgeordneten Muñoz Rocha als Alleinverantwortlichen für die Planung des Attentates darzustellen, hatten viele Menschen nicht überzeugt.
Der mit der Untersuchung des Falles beauftragte Sonderstaatsanwalt und Bruder des Ermordeten, Mario Ruiz Massieu, trat nach wenigen Wochen unter Protest von seinem Amt zurück und aus der PRI aus, weil seine Ermittlungen behindert wurden. Mit der Verhaftung von Raul Salinas scheinen sich die Vermutungen derer zu bestätigen, die die Mörder unter den mächtigsten Mitgliedern der Regierungspartei vermuteten. In den ersten Verhören erklärte sich der Angeklagte unschuldig. Die Bundesstaatsanwaltschaft spricht dagegen von immer mehr Beweisen, hat der Öffentlichkeit bisher jedoch noch kein Motiv vorgelegt.
Ex-Präsident Salinas von der Unschuld seines Bruders überzeugt
Carlos Salinas de Gortari, bis zum 30. November 1994 noch Mexikos Präsident, erklärte in einem ersten Telefoninterview mit einem Fernsehsender, noch nicht genug Informationen zur Verhaftung seines Bruders zu haben und äußerte sein „volles Vertrauen in die Unschuld meines Bruders.“ Stimmen die Zeitungsversionen, war er jedoch frühzeitig informiert und versuchte sogar vergeblich, die Verhaftung des Bruders durch Mitglieder seiner eigenen Leibwache verhindern zu lassen. Der Verteidigungsminister höchstpersönlich soll die Leibwache über Funk von ihrem Vorhaben abgebracht haben. Der Ex-Präsident selber steht seit einigen Tagen nicht nur mehr wegen der Folgen seiner Wirtschaftspolitik unter Beschuß. Ihm wird von Teilen der Opposition und der Medien vorgeworfen, im zweiten spektakulären Mordfall des vergangenen Jahres Ermittlungen abgewürgt zu haben. Dabei handelt es sich um das Attentat auf den PRI- Präsidentschaftskandidaten Luis Donaldo Colosio vom 23. März 1994 im Bundesstaat Baja California. Die Salinas-Regierung und die von ihr eingesetzte Bundesstaatsanwaltschaft hatten den damals gefaßten vermutlichen Todesschützen immer einen Einzeltäter genannt, der keine Auftraggeber gehabt habe.
Doch viele Details wiesen auf zwei Schützen hin. Kaum jemand konnte sich zudem vorstellen, daß es keine Auftraggeber gebe. In diese Richtung wollte der Gouverneur von Baja California, dem damals einzigen Bundesstaat in der Hand der – konservativen – Opposition, forschen. Doch wie es aussieht, entzog ihm Salinas die Ermittlungen. Der vom Gouverneur mit dem Fall beauftragte Polizeichef von Tijuana wurde etwa einen Monat nach dem Mord an Colosio erschossen. Nun präsentierte die neue Bundesstaatsanwaltschaft vor einigen Tagen den wahrscheinlichen zweiten Schützen des Colosio-Attentates. Die Ermittlungen laufen weiter. Mario Ruiz Massieu sprach sogar von einer „möglichen Verbindung“ zwischen beiden Mordfällen.
Sollte sich der Mordverdacht gegen Raul Salinas de Gortari endgültig bestätigen, sieht es auch für seinen Bruder schlecht aus. Raul galt vielen als die „mano negra“ (schwarze Hand) seines Bruders. Dieser Ausdruck kennzeichnet in Mexiko jemand, der „unter dem Tisch“ die Geschäfte für einen anderen regelt. Raul Salinas war für die Partei in vielen Organisationsangelegenheiten tätig. Ohne unbedingt die hervorstechendsten Posten innegehabt zu haben, kontrollierte er beispielsweise einige der PRI angeschlossenen oder nahestehenden Campesino-Organisationen. Insofern bildete er die ideale Ergänzung zu seinem Bruder im Präsidentenamt. Die neue Regierung unter Ernesto Zedillo scheint nun die Flucht nach vorne angetreten zu haben. Angesichts einer wirtschaftlich katastrophalen Situation, des Zapatistenaufstandes im Bundesstaat Chiapas sowie wachsender Kritik an der Führungsschwäche des Präsidenten brauchte sie Öffentlichkeitserfolge. Jetzt kann sich Zedillo als demokratischer Erneuerer beweisen. Zugleich bietet sich ihm die Chance, die Erblast und den immer noch großen Einfluß der Gruppe um Salinas abzuschütteln. Je mehr er der Vorgängerregierung die gesamte Schuld für die heutige Situation auflasten kann, desto besser steht er selber da. Mit dem Vorgehen in den Mordfällen hat er zweifellos Pluspunkte gesammelt. Ob dies reicht, den Zerfall der einst so unangreifbaren PRI zu verhindern, ist eine andere Frage.
HAITI
Gesunde Unternehmen werden privatisiert
(Port-au-Prince, 22. Februar 1995, hib-POONAL).- Die haitianische Regierung kündigte die Privatisierung von neun Staatsunternehmen als Teil des strukturellen Anpassungsprogrammes an, das unter der strengen Kontrolle des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank durchgeführt wird. Präsident Jean-Bertrand Aristide, der nur einige Jahre zuvor an der Spitze einer massiven Mobilisierung gegen die Privatisierung und die neoliberale Politik im allgemeinen stand, hat die Maßnahme bereits verteidigt. Allerdings unternimmt die Regierung, die die Empfindlichkeit der Bevölkerung bei diesem Thema kennt, vorsichtige Schritte. Sie will eine öffentliche Debatte vermeiden, um nicht die Bedingungen für eine erneute Mobilisierung zu schaffen. So erfuhren die Haitianer*innen die Neuigkeit auch aus einer in Washington veröffentlichten Geschichte der französischen Presseagentur AFP. Die Agentur zitierte Philippe Lietard, der für die haitianische Regierung mit der Weltbank-Tochter International Finance Corporation (IFC) verhandelt. Lietard informierte über den beabsichtigten Verkauf von 50 bis 60 Prozent der Anteile von neuen Staatsunternehmen an Ausländer*innen. Die Unternehmen sind: die Nationale Flughafenbehörde, die für sieben Flughäfen in Betrieb hat; die Nationale Hafenbehörde, für zwölf Häfen zuständig; die Volksbank, die Nationale Kreditbank, Haiti-Zement, Haiti-Strom, die Nationale Pflanzenölgesellschaft, die Haitianische Getreidemühle und die Telefongesellschaft TELECO.
US-AID bereitet den Boden für us-amerikanische Investitionen
Der Regierungsfunktionär gab gegenüber AFP an, es seien Investoren aus den USA, Frankreich, der Schweiz und Kanada interessiert. Die Regierung würde einige Aktien behalten, zehn Prozent seien für die Opfer der Unterdrückung vorgesehen. Der Verkaufsgewinn solle für Gesundheit und Bildung (30 Prozent), Pensionskassen (20 Prozent) und das ländliche Straßenwesen (50 Prozent) verwandt werden. Er werde in zwei oder drei Monaten seine Empfehlungen abgeben. 1995 würden nur drei Unternehmen verkauft. Die International Finance Corporation, mit der Lietard zu tun hat, ist von den drei Weltbank-Institutionen diejenige, die am stillsten arbeitet. Sie bekommt zwei Millionen Dollar von der US-Behörde für Internationale Entwicklung (US-AID), um das Terrain für US- Unternehmen und andere mulitnationale Konzerne vorzubereiten und die Risiken abzuschätzen.
Die Privatisierungs-Neuigkeiten waren nicht so eine Überraschung. Sie sind der logische Schluß einer Entwicklung und eines unterschwelligen Drucks, die seit der Duvalier-Ära herrschten. Doch die Auswahl der Unternehmen überraschte. So machte die Getreidemühle beispielsweise nach Angaben der Interamerikanischen Entwicklungsbank (BID) 1990 einen Gewinn von mehr als drei Millionen Dollar. Für 1991 wurden sogar sieben Millionen Dollar erwartet. Doch das Putschregime schloß das Unternehmen. Das Getreidegeschäft soll den Berichten zufolge danach von Polizeichef Oberst Michel Francois kontrolliert worden sein. Jetzt wird der Ort von der Haitianisch-Amerikanischen Reisgesellschaft genutzt, die US-Reis importiert und ihn 20 Prozent billiger als den einheimischen Reis verkauft. Ein andere Schließung betraf die Zementfabrik. Zement ist entscheidend für den Bausektor auf Haiti. Vor Aristides Amtsübernahme (1990; die Red.) machte das Unternehmen jeden Monat mehrere Millionen Gourdes Verluste, doch einige Monate später warf sie bereits Gewinn ab. Einige Monopolfamilien, die den Staatsstreich unterstützten, kämpften erbittert um den Zementmarkt. Was die TELECO anbelangt, so hielten die Übersee-Einnahmen die Exil-Regierung drei Jahre lang über Wasser. Jetzt konnte die Telefongesellschaft, einer Quelle zufolge, 18 Millionen Dollar aus den Gewinnen auf ein Bankkonto in die USA überweisen.
Stromverbrauch wurde mit ausgefeilter Technik manipuliert
Genauso schockierend ist die Entscheidung, die Flughafen- und Hafengesellschaften zu verkaufen. Es handelt sich hierbei um zwei Behörden von strategischer und wirtschaftlicher Bedeutung. In den 80er Jahren wurde dort jedes Jahr der Export von Waren im Wert von über 200 Millionen Dollar und der Import von Waren im Wert von über 300 Millionen Dollar abgewickelt. In den ersten drei Monaten der Aristide-Regierung änderte sich die monatliche Bilanz von einer Verlustrechnung von 1,5 Millionen Gourdes in eine Gewinnrechnung mit einem Plus von einer halben Million Gourdes pro Monat. Auch die Haitianische Stromgesellschaft EDH sollte 1991 einen Gewinn machen: 1,5 Millionen US-Dollar. Dabei wurden die zehntausende an Dollar nicht berücksichtigt, die von der Oberschicht gestohlen wurden, die mit ausgefeilten Geräten aus den USA ihren offiziellen Stromverbrauch manipulierte. Genauso wenig gingen die tausenden Stromverbraucher*innen aus den Elendsvierteln, die sich illegal ans Netz anschlossen, in die Rechnung ein. Entsetzend ist auch die Beteiligung der Mevs-Familie, die sich von Putsch-Unterstützer*innen kürzlich zu Lavalas-Anhänger*innen wandelten. Fritz Mevs sagte gegenüber 'Village Voice', er wolle zusammen mit der Firma Florida Power & Light die EDH kaufen, ein Elektrizitätswerk im Hafen von Port-au-Prince bauen und das Land mit von der Weltbank finanzierten Stromnetzen versorgen.
Aristide verteidigte sich am Tag nachdem die Pläne bekannt wurden. „Wenn wir über Demokratisierung sprechen, sprechen wir über eine Form, das Geld zu managen“, sagte er. 1987 noch Kopf des „Initiativenkomitees gegen den Weltwährungsfonds“, konnte er nicht vollständig erklären, wie der Verkauf der Unternehmen 1995 diese „demokratisieren“ könne. Er erklärte, lange Zeit seien die Staatsunternehmen eine Geldquelle für die Regierung gewesen, „die genutzt wurde, wie es ihr gefiel“. Dabei vergaß er jedoch den fundamentalen Unterschied zu erwähnen: den zwischen einer korrupten Regierung, die für einige wenige arbeitet und einer Regierung im Dienst der Menschen.
Wahlen im Juni werfen schon ihre Schatten
(Port-au-Prince, 24. Februar 1995, hib-POONAL).- Trotz der Gewaltatmosphäre, der politischen Instabilität und der wirtschaftlichen Not gab die Regierung einen Zeitplan für die Parlaments- und Kommunalwahlen bekannt. Das Wahlgesetz wurde am 14. Februar veröffentlicht, nachdem die Abgeordnetenperiode bereits abgelaufen war. Der Senat und die Regierung nahmen in letzter Minute noch Änderungen vor. So schafften sie die Wahleinschränkungen ab, die die Kandidaturen von Priestern und von Personen mit einem bestimmten (niedrigen) Bildungsstand ausgeschlossen hatten. Der Vorläufige Wahlrat (CEP) hat bereits Gruppen auf das Teams Land geschickt, deren Aufgabe es ist, Wahlhelfer*innen zu rekrutieren. Der Wahlrat klagte längere Zeit über fehlende Geldmittel, doch am Tag nach der Gesetzesveröffentlichung konnte er über einen 3,5 Millionen Dollar-Zuschuß der USA berichten, „der im Schnellverfahren vergeben wurde“.
Die USA haben insgesamt 12 Millionen Dollar für die Wahlen versprochen. Dies ist jedoch nur ein Aspekt ihrer „Hilfe“ oder besser Teilnahme am Wahlprozeß. Die von ihnen finanzierte „BürgerInnen-Erziehung“ mit sogenannten Ausbildungs- und Entwicklungsteams läuft bereits in 16 über das Land verstreute Kommunen. Dort gibt es 90 Projekte, in die fast 10.000 Menschen in irgendeiner Form einbezogen sind. Auch das Nationale Demokratische Institut (NDI) – von der Demokratischen Partei finanziert und mit der Nationalen Demokratiestiftung der USA verbunden – kam bereits zweimal wegen der Wahlen nach Haiti. Am 6. Februar war das NDI Gastgeber für ein Treffen fast aller Parteien – Putschunterstützer und -Gegner. Die Organisation der Lavalas-Politik (OPL) erhielt keine Einladung.
Jimmy Carters Besuch umstritten
Es gibt weitere von den USA finanzierte Institutionen, die mit Kandidat*innen für das Parlament, die Gemeinderäte und natürlich mit dem Wahlrat zusammenarbeiten. Am 24. Februar kam der beliebteste Nicht-Regierungsvertreter in Sachen Demokratie, der ehemalige Präsident Jimmy Carter, zu seinem neunten Haiti-Besuch. Dieses Mal wollte er sehen, „ob wir beim Wahlprozeß helfen können“. Außerdem bat er den Präsidenten, während der Wahlauseinandersetzungen „neutral“ zu bleiben. In der Woche vorher kamen US-Abgeordnete zu Besuch und für März hat sich der Staatssekretär des US-Aussenministeriums an der Spitze einer Delegation von 50 Geschäftsleuten angesagt. Botschaftssprecher Stanley Schrager kündigte „viele weitere Besuche“ an. „Es gibt viele Leute, die an dem Fortschritt interessiert sind, den sie hier machen“, versicherte Schrager.
Paradoxerweise kritisierten gerade die traditionellen politischen Parteien, die den Putsch vehement unterstützten und an den Farce- Wahlen vom 18. Januar 1993 teilnahmen, das neue Wahlgesetz. Ihr Vorwurf: Das Wahlgsetz sei nicht korrekt vom Parlament verabschiedet worden. Dagegen scheinen andere Parteien, die der Regierung von Jean-Bertrand Aristide näher stehen, keine Probleme damit zu haben. Sie sind dabei, Hunderte von Kandidat*innen aufzustellen, die am 4. und 25. Juni gewählt werden wollen. Im sogenannten demokratischen Lager wird von Einheit gesprochen, zu der es bis jetzt noch nicht gekommen ist.
Katholische Orden über die 'vielen ausländischen Organisationen besorgt'
In der Hauptstadt will der ehemalige Bürgermeister Franck Romain, ein Duvalierist, Tonton Macoute und Menschenrechtsverletzer erneut für den Bürgermeisterposten kandidieren. Er ist bekannt für seine Beteiligung am Massaker in Aristides St. Jean Bosco-Gemeinde im Jahr 1988. Jetzt nimmt er Rücksicht auf die Verfassungsvorschrift von 1987, die Tonton Macoutes von Staatsämtern ausschließt. Er spricht sich für „Versöhnung“ aus und sagt, zwischen dem Duvalierismus und der Lavalas-Bewegung sehe er keine Unterschiede. Es sei „weise“, die Öffentlichkeit mit ihren Stimmen urteilen zu lassen. Der Wahlrat hat sich bisher zu seiner Kandidatur noch nicht geäußert.
Hinter dem Tumult über die WählerInnenregistrierung, die KandidatInnenqualifikationen, die Wahlplattformen und Parteien verbirgt sich ein wachsender Zweifel, ob die Wahlen unter den derzeitigen Bedingungen – einschließlich der Besatzung – abgehalten werden sollten. Die Vollversammlung der Haitianischen Religionskonferenz (CHR) – in ihr sind alle auf Haiti arbeitenden katholischen Orden zusammengeschlossen – drückte ihre Sorge über die „vielen ausländischen Organisationen“ aus, die im Land arbeiten und Geld an Kandidat*innen sowie Menschenrechtsverletzter in den „neuen“ Polizeikräften verteilen. Die CHR beklagte ebenso die Verzögerungen im Gerichtswesen. Die Organisation schrieb: „Unter diesen Bedingungen fragen wir uns selbst ernsthaft, ob es wirklich freie Wahlen sind, die zum Vorteil der Haitianer*innen abgehalten werden.“ Nach und nach kritisieren auch Volksorganisationen in Pressemitteilungen, Broschüren und auf Treffen die Wahlen.
GUATEMALA
Staat bietet keine Lösung in der Agrarfrage
(Guatemala, 3. März 1995, cerigua-POONAL).- Der guatemaltekische Staat geht mit gewalttätigen Schritten gegen die Agrarkrise vor. Dies ist die These einer Untersuchung mit dem Titel „Landbesetzungen“ des Zentrums für Stadt- und Regionalstudien (CEUR) der nationalen San Carlos Universität. Die Wissenschaftler*innen des Institutes meinen: „Manchmal wird der Analyse unserer Realität mit dem Argument ausgewichen, die Fincabesetzungen seien ein Produkt professioneller Agitatoren.“ Damit werde versucht, die Campesinobewegung zu deslegitimieren und gewalttätigen Aktionen gegen die Siedler*innen Vorschub zu leisten.
Die Studie beschreibt die wirtschaftliche und soziale Krise der Bevölkerung als Konsequenz der Wirtschaftsstruktur des Landes sowie der wegfallenden Preisbegrenzungen, der Haushaltskürzungen bei Sozialausgaben und des strukturellen Anpassungsprogramms. Die Campesinos hätten zudem immer weniger Land und kaum Möglichkeiten zur Subsistenzwirtschaft. Der Staat habe auf diese Situation mit direkter Repression, Umsiedlungen bis hin zu Versprechungen reagiert, jedoch keine wirkliche Antwort auf die Forderungen der Campesinobewegung und die Agrarkrise allgemein angeboten.
Besetzungen im ganzen Land
(Guatemala, 1. März 1995, NG-POONAL).- Zur Zeit sind im ganzen Land 82 Fincabesetzungen bekannt. Die Nationale Indígena- und Campesinokoordination (CONIC) erklärt, bei den Landforderungen handele es sich um Boden, der den Campesinos im 19. Jahrhundert und in den ersten vier Jahrzehnten dieses Jahrhunderts zugesprochen wurde. In anderen Fällen sind Plantagen besetzt, weil die Besitzer*innen die Löhne nicht zahlen oder die Arbeiter*innen illegal entlassen.
Regierung unterstützt politische Aktivitäten der URNG
(Guatemala, 1. März 1995, NG-POONAL).- Die guatemaltekische Regierung will der Revolutionären Nationalen Einheit Guatemalas (URNG) keine Hindernisse bei der Eingliederung in das politische Leben in den Weg legen. Dies versicherte zumindest Hector Rosada, der Präsident der offiziellen Friedenskommission. Seinen Worten zufolge hat die Regierung einen Entwurf so gut wie abgeschlossen, der der Guerilla die Teilnahme an der Politik erlaubt. Über die juristischen und gesetzlichen Einzelheiten ließ er sich jedoch nicht aus.
UNO-Kommission kündigt ersten Bericht an
(Guatemala, 2. März 1995, cerigua-POONAL).- Die UNO-Mission zur Internationalen Überprüfung der Menschenrechte in Guatemala (MINUGUA) wird in Kürze über die Anzeigen von Menschenrechtsverletzungen berichten, die in den ersten drei Monaten bei der Institution eingingen. Darüber informierte der MINUGUA-Direktor Leonardo Franco. UNO-Generalsekretär Butros Butros Ghali hat das entsprechende Dokument bereits erhalten. Der Pressebeauftragte der UNO-Mission kommentierte bereits, daß die Menschenrechtsorganisation „objektiv nicht als besser bezeichnet werden kann.“
BRASILIEN
Progressive Kirchenpolitik vor dem Aus?
Von Marlinelza B. de Oiveira
(Sao Paulo, 28. Februar 1995, sem-POONAL).- Für die Mehrheit der Gläubigen ist es bis jetzt kein Thema. Doch hinter den Kulissen der katholischen Kirche Brasiliens wird schon heftig diskutiert. Der Streit geht um die Nachfolge des Kardinals und Erzbischofs von Sao Paulo, Don Paulo Evarista Arns. Dieser ist eine der einflußreichsten Persönlichkeiten in kirchenpolitischen Fragen in der dritten Welt. Die Kontroverse wird zwischen dem konservativen und dem fortschrittlichen Flügel der Kirche ausgefochten. Ein Sieg der Konservativen würde eine 24jährige Entwicklung unterbrechen. Seitdem Don Paulo die Erzdiözese übernahm, standen die Verteidigung der Menschenrechte, die Arbeit mit den Randgemeinden und die Hilfe für die Armen und für die Arbeiter*innen im Vordergrund. Diejenigen, die sich innerhalb der Kirche für die sogenannte „Option für die Armen“ entschieden haben, suchen bereits jetzt nach Möglichkeiten, wie die geleistete Arbeit bewahrt werden kann.
Würde ein konservativer Bischof vom Papst ausgewählt, bedeutete dies auch einen Schlag für die fortschrittliche Tendenz, die so lange die brasilianische Bischofskonferenz (CNBB) beherrschte. Ihr bliebe als einziger Verbündeter unter den Kardinälen und Erzbischöfen Don Alois Lorscheider aus dem Bundesstaat Ceará. Umgekehrt hat die Stimme des Kardinals von Sao Paulo bei der nächsten Papstwahl Gewicht. Er gehört dem Kollegium der 150 „Auserwählten“ an, die den Pontifex Maximus bestimmen.
Kardinal widmete sich den politischen Häftlingen und Folteropfern
Das Kirchenrecht legt die Erreichung des 75. Lebensjahres als Altersgrenze für die Bischöfe fest. Don Paulo muß demnach seinen Rücktritt spätestens 1996 einreichen. Dies könnte jedoch früher geschehen, da er die Folgen eines Autounfalls aus dem Jahr 1992 noch nicht überwunden hat. Nach jahrelanger Arbeit in Brasilien übernahm er sein Amt 1970 in der Zeit der Militärdiktatur. In den ersten Jahren widmete er einen Großteil seiner Zeit den politischen Häftlingen und den Folteropfern. Die Todesdrohungen gegen ihn wurden zur Gewohnheit. Später kämpfte er nach seinen eigenen Worten für „eine bessere Verteilung des Reichtums, mehr Rechte für die Arbeiter*innen und eine größere Beteiligung der Bevölkerung“.
Die Einstellungen des Erzbischofs gefielen dem Vatikan immer weniger. Die Ereignisse in den vergangenen 10 Jahren legen davon ein Zeugnis ab. Im April 1988 versetzte die römische Kurie den Bischof Don Luciano Mendes de Almeida von Sao Paulo nach Minas Gerais. Mendes de Almeida war einer der engsten Vertrauten von Don Paulo. Dieser war vom Vatikan vorher nicht gefragt worden. Bereits einige Jahre vorher inspizierten die Kirchenoberen aus Rom die Priesterseminare und Ordensstätten der Diözese. Sie vermuteten zu „liberale Einstellungen“. Einen härteren Schlag stellte 1989 die Fünfteilung der Erzdiözese von Sao Paulo dar. Mit 15 Millionen Einwohner*innen war sie die größte der Welt. Don Paulo war nur für eine der fünf neuen Diözesen zuständig, mit sieben Millionen Einwohner*innen zumindest noch die grösste. Er selber hatte bereits Jahre vorher eine Zehnteilung vorgeschlagen, doch unter ganz anderen Gesichtspunkten und Arbeitsteilungen. Die Entscheidung aus Rom hatte den Charakter einer Bestrafung. Don Paulo wurden die Stadtrandviertel entzogen, wo die die Ärmsten leben. Von den neuen Bischöfen war niemand vorher Mitarbeiter des Kardinals. In vielen Gemeinden, in denen vorher die Theologie der Befreiung gelehrt wurde, war der Weg frei für konservative Priester.
Die Chancen, auf seine Nachfolge Einfluß zu haben, wie es noch sein eigener Vorgänger hatte, sind für den Kardinal minimal. Die fortschrittlichen Bischöfe hoffen bestenfalls auf eine versöhnliche Lösung mit Rom. Der konservative Kirchenflügel favorisiert Don Fernando Antonio Figuereido, Bischof der Diözese Santo Amaro in Sao Paulo. Diese hat gute Verbindungen zum Opus Dei und das Wohlwollen des Vatikan. Ein Kompromißkandidat wäre Don Geraldo Majella Agnelo – geschätzt von den Fortschrittlichen und mit Ansehen auch bei den Konservativen. Er ist zur Zeit in Rom beim Vatikan beschäftigt. Der Wunschkandidat der Fortschrittlichen wäre Don Luciano Mendes de Almeida. Doch als Mitglied des Präsidiums der brasilianischen Bischofskonferenz hat er zuviel Gefallen an der Politik gezeigt. Es gibt noch einige weitere Kandidaten. Die letzte Entscheidung liegt jetzt beim Papst.
Agrarfrage /Agrarreform
Landverteilung ist unaufschiebbar
Auf seinem Nationalen Forum (17.-19. 2. 1995) in Vitoria (ES) hat die Bürgeraktion gegen Hunger und Elend die Schlüsselzahl für ihren Schwerpunkt 1995 verkündet: 4,8 Millionen Landarbeiter ohne Land in Brasilien. Daß der Kampf zur Demokratisierung des Landbesitzes zur Priorität 1995 werde, hatte der Sprecher der Aktion, Herbert de Souza Betinho, schon im Juni 1994 verkündet. Auszüge aus einem Interview der Folha de Sao Paulo mit Betinho vom 9.2.95: Folha: Warum haben Sie die Demokratisierung des Landes als Ziel der Bürgeraktion vorgeschlagen?
Betinho: Weil es nötig ist den Kampf um die Demokratisierung des Landes zu einer dringlichen und unaufschiebbaren Frage zu machen. Brasilien ist Weltmeister der Landkonzentration. Es ist unglaublich, daß es Eigentum mit mehr als vier Millionen Hektar gibt, wie wir es hier vorfinden. Das Schlimmste ist, daß sich dieser Prozeß der Landkonzentration von Jahr zu Jahr verschlimmert, statt sich zu verringern.
Folha: Wie wird die Aktion bei diesem Projekt vorgehen?
Betinho: Ebenso, wie wir es in den letzten Jahren gemacht haben. Wir werden den Komitees die Herausforderungen vorstellen und damit die Projekte im Rahmen des Vorschlags entwickeln. Dies alles wird demokratisch und dezentralisiert vor sich gehen.
Folha: Sie werden Mitglied des Rates der `Solidarischen Gemeinschaft`sein, die der Bundesregierung angeschlossen ist. Wird es Forderungen an die Agrarpolitik der Regierung geben?
Betinho: Natürlich werden wir von der Regierung Handlungen im Bereich der Agrar- und Bodenpolitik verlangen. Es muß auch auf die Durchführung von Ansiedlungen im ländlichen und sogar im städtischen Bereich hingewiesen werden. Sonst bleibt Brasilien was es ist, wenn seine Agrarreformen nicht durchgeführt werden.
Folha: Fürchten Sie nicht eine Reaktion der Großgrundbesitzer und der Regierung?
Betinho: Ich weiß, daß es nicht leicht werden wird, aber ich habe keine Angst. Ich weiß, daß wir uns in einer anderen Periode befinden und daß eine Agrarreform nicht mehr tabu ist, wie es früher war. Selbst die UDR, die erzkonservative Demokratische Agrarunion ist von der Bildfläche verschwunden. Wir werden die Agrarreform umfassend behandeln, nicht nur von der Seite der Zäune her.
Folha: Was gibt es über die Zäune hinaus?
Betinho: Es gibt ein Verständnis der Erde in einer umfassenderen Form wie in jener Musik `Cio da Terra!, kennen Sie die? Wir sprechen von Erde wie von einem Produktionsfaktor unter anderen, die genutzt werden muß um Arbeit und Nahrung zu schaffen.
Folha: Wie bewerten Sie die Tätigkeiten der Bürgerlichen Aktion in den letzten zwei Jahren während der Kampagnen für Nahrung und Arbeit?
Betinho: Ich hatte nie ein abgeschlossenes Bild bis zur Aktion `Weihnachten ohne Hunger 1994!, als wir 570 Tonnen Nahrung in einer Halle der Conab (nationale Versorgungskompanie) in Rio zusammenbrachten. Dabei verlief alles sehr dezentralisiert. An Weihnachten habe ich erfaßt, was wir tun können.
Folha: Und Sie glauben, daß die Kampagne zur Arbeitsplatzschaffung ebenso erfolgreich war? Betinho: Die verlief ganz anders. Wir haben 110 Projekte einkommensschaffender Maßnahmen im ganzen Land aufgelistet. Wir wissen, wie schwierig es war, echte Arbeitsplätze mit dauerhafter Bezahlung zu schaffen. Das hängt auch damit zusammen, daß die Logik der modernen Wirtschaft darauf abzielt, Arbeitsplätze durch die Nutzung von Maschinen zu ersetzen.
Folha: Gibt es Wege gegen diese Logik anzukämpfen?
Betinho: Speziell in Brasilien sehe ich die Hilfe des Staates für Kleinunternehmen und den informellen Sektor als grundlegend an. Wenn der Staat die Kleinunternehmer ebenso fördern würde, wie er den Großen hilft, wäre vieles einfacher. Das betrifft nicht nur die urbanen Kleinunternehmen, sondern auch die landwirtschaftlichen Erzeuger, die arbeitslos werden, nicht mehr pflanzen und keine Nahrungsmittel mehr erzeugen können.
Folha: Damit kehren wir wieder auf das Gespräch über das Land zurück.
Betinho: Genau. Denn nach den Kampagnen für Nahrung und Arbeit ist der Kampf zur Demokratisierung des Landes eine natürliche Konsequenz. Nahrung-Arbeit-Land formen nun unsere Triologie.
Agrarreform – Kritik an Cardoso
(Rio de Janeiro, März 1995, POONAL-Ibase).- Das Ziel des Agrarreform- und Kolonisationsinstituts INCRA für das Jahr 1995 war es, 40.000 landlose Familien auf nicht produktiv genutzten und daher zur Enteignung freigegebenen Ländereien anzusiedeln. Die Einschnitte in den Nationalen Haushalt machen dies unmöglich, da dem INCRA die Gelder stark gekürzt wurden. Auch bereits angesiedelte Familien leiden unter den Einsparungen. So haben von 100.000 Familien nur 39.000 Kredite zur Produktion und für infrastrukturelle Maßnahmen erhalten. Ein Dokument des INCRA zeigt, daß in den Jahren 1993/1994 nur 240.000 Hektar enteignet und 5.800 Familien angesiedelt wurden. Vorgesehen waren zur Enteignung 3,3 Millionen Hektar um 80.000 Familien anzusiedeln. Nach der starken Kritik des Agrarministers und der Nationalen Landarbeitervereinigung (Contag), drohte letztere mit Landbesetzungen, wenn nicht wenigstens 40.000 Familien angesiedelt würden. Nun will Cardoso eine Million Hektar enteignen und 15- 20.000 Familien ansiedeln. Im nächsten Monat sollen die zu enteignenden Flächen bekannt gegeben werden.
FAO befürchtet erneute Welle von Landflucht
(Rio de Janeiro, März 1995, POONAL-ibase).- Ca. 5 Millionen kleinbäuerliche Familien leben in extrem prekärer Situation. Nach einer Studie der FAO (Ernährungs- und Agrarorganisation der UNO) sind sie das Potential, das die Anzahl der vom Land in die Städte ziehenden Menschen möglicherweise wieder ansteigen läßt, wenn wirschaftliche Wachstumsdaten einen solchen Schritt erfolgversprechender als in Zeiten der Rezession erscheinen lassen. 1988 lebten in Brasilien 73 % der Landbevölkerung unter der Armutsgrenze (1965: 65 %). Nachdem das in Brasilien verfolgte Entwicklungsmodell die Einkommenskonzentration verschärft hat, gibt es nun ein große Zahl kleinbäuerlicher Besitztümer, die keine ausreichende Überlebensgrundlage und damit keine Perspektive für die nachfolgenden Generationen bieten. Dies könnte dazu führen, daß durch Aufgabe der zur Subsistenz nicht ausreichenden Besitztümer sich das Kontingent der Landlosen und somit der Druck zur Umsetzung der Agrarreform erhöht.
Die Studie der FAO betont daher die Notwendigkeit, Bedingungen zu schaffen, die die Kleinbauern zum Verbleib auf dem Land bewegen könnten. Die Adressatengruppe eines entsprechenden Programms ergibt sich aus den Besitz- und Bewirtschaftungsstrukturen. Während 500.000 Grundeigentümer mit durchschnittlich 600 Hektar 75 % der Agrarfläche des Landes besitzen, die sie mit Hilfe von Landarbeitern oder Pächtern bewirtschaften (agricultura patronal), setzen 6,5 Millionen Landbesitzer als Arbeitskräfte Familienmitglieder ein (agricultura familiar). Davon besitzen 1,5 Millionen Familien im Durchschnitt 50 Hektar (19 % der Agrarfläche). Als Problemgruppe verbleiben die restlichen 5 Millionen Familien. Die FAO-Studie empfiehlt, sich auf die 2,5 Millionen Familien zu konzentrieren, die im Durchschnitt 8 Hektar besitzen, die von 3 Personen bewirtschaftet werden. Die übrigen 2,5 Millionen Landbesitzer mit durchschnittlich 2 Hektar Fläche sollten dagegen als 'periphere' Fälle, die mit weniger als einer vollen Arbeitskraft bewirtschaftet werden, nicht zum Gegenstand von Programmen gemacht werden.
Die Studie empfiehlt, neben der eigentlichen Agrarreform und Enteignungen vermehrt nach neuen Wegen zu suchen. Vorgeschlagen werden dabei etwa Pacht oder Teilhaberechte, um eine Landnutzung ohne Enteignung zu ermöglichen. Daneben sollte die Besteuerung des Grundeigentums geändert werden, insbesondere dahingehend, daß Landbesitz ohne soziale Funktion steuerlich benachteiligt wird. Dies soll der Immobilienspekulation entgegenwirken. Die Agrarpolitik solte im übrigen darauf abzielen, die Bedürfnisse der Grundbesitzer zu erfüllen, die zu wenig Land besitzen, um dies wirtschaftlich nutzen zu können. Dafür sollten öffentliche Unternehmen gegründet werden, die ein Vorkaufsrecht auf zu verkaufende Grundstücke erhalten, um damit bereits bestehenden landwirtschaftlichen Kleinbetrieben eine Erweiterung des bewirtschafteten Landes zu ermöglichen.
Im Hinblick auf die eigentliche Agrarreform empfiehlt die Studie eine verstärkte Dezentralisierung, die die Auswahl der zu enteignenden Grundstücke sowie die Hilfsmaßnahmen für die anzusiedelnden Familien in die Verantwortung der Munizipien legt. Dabei sollten die Kosten der Ansiedlung künftig von den Familien getragen werden.
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