Deutsche Ausgabe des wöchentlichen Pressedienstes lateinamerikanischer Agenturen Nr. 69 vom 09.11.1992
Inhalt
GUATEMALA
EL SALVADOR
CHILE
LATEINAMERIKA
HAITI
GUATEMALA
Friedensverhandlungen sind festgefahren
(Guatemala, 3. November 1992, Cerigua-POONAL).- Die größte Meinnungsverschiedenheit zwischen der Regierung, der Armee und der guatemaltekischen Guerilla bei den Friedensverhandlungen ist die unverzügliche Umsetzung der Menschenrechtsabkommen. Solange diese Differenzen nicht beigelegt werden, werden die Verhandlungen über die Beendigung des seit über 30 Jahren währenden Bürgerkriegs nicht vorankommen. Im Monat August fanden zwei Treffen zwischen den beteiligten Seiten statt. Bei dem ersten Treffen wurde ein Abkommen über die Zivilpatrouillen (PAC) erreicht. Danach kann die Zivilbevölkerung über die Bildung der paramilitärischen Verbände selbst befinden. Die Armee ist formal aus der Entscheidung ausgeschlossen. Allerdings kann dieses Abkommen erst in Kraft treten, wenn alle Punkte zum Thema Menschenrechte verhandelt sind. Bei dem zweiten Treffen wurden die noch ausstehenden Aspekte behandelt: Das Internationale Humanitäre Recht und die Bildung einer Kommission, die Verletzungen von Menschenrechten aufklären soll. Bei beiden Punkten wurde auch über den Zeitplan für die Umsetzung gesprochen. Die Regierung, die Armee und die Guerilla sind zu keinen Übereinkünften gekommen und gaben ihre untrerschiedlichen Standpunkte zu Protokoll. Daraufhin entschied der Vermittler, Monseñor Rodolfo Quezada, zum sogenannten Pendelsystem zurückzukehren – beide Seiten treffen sich getrennt mit dem Vermittler, um zu versuchen, die verschiedenen Standpunkte einander anzunähern und den direkten Dialog zwischen den beiden Seiten wieder aufzunehmen, sobald eine Chance besteht, zu Übereinkünften zu gelangen.
Regierung blockiert beim Thema Menschenrechte Beim Thema des Humanitären Rechts weigerte sich die Regierung zuerst, ein bilaterales Abkommen mit der Aufstandsbewegung anzunehmen und schlug eine einseitige Erklärung vor. Die Nationale Revolutionäre Einheit Guatemalas (URNG) wies solch eine Erklärung zurück, da sie keinerlei Verpflichtung beinhalte, und forderte einen bilateralen Kompromiß. Monseñor Quezada kündigte an, daß die Regierung solch einem bilateralen Kompromiß zustimme, was einen Fortschritt für den Annäherungsprozeß bedeuten würde. Der zweite Punkt, die Bildung einer Menschenrechtskommission, soll dem Kompromißvorschlag zufolge vorerst vertagt werden: Erst nach der Unterzeichnung eines endgültigen Friedensabkommens sollen die Verbrechen untersucht werden. Der Kommission sollen drei Mitglieder (ohne Beteiligung der Vereinten Nationen) angehören. Die URNG schlägt dagegen vor, daß die Kommission unverzüglich die Arbeit aufnehme und aus fünf Personen (mit Beteiligung der Vereinten Nationen) bestehe. In beiden Punkten herrscht bislang keine Einigkeit über die zeitliche Umsetzung. Die Guerilla fordert eine möglichst schnelle Realisierung. Die Regierung und die Armee weigern sich mit dem Argument, daß eine Kommission zur Aufarbeitung der Vergangenheit die Gesellschaft polarisieren würde, wenn sie unmittelbar die Arbeit beginnen würde. Die Verhandlungen sind festgefahren. Das räumt auch der Vermittler Quezada ein. Derzeit seien nicht einmal die „Mindestvoraussetzungen für ein neues Treffen“ zwischen beiden Seiten gegeben. Die Regierung ließ derweil widersprüchliche Aussagen über das weitere Vorgehen verlauten. In der letzten Oktoberwoche versicherte Manuel Conde, der Chef der Regierungsdelegation, daß es Übereinstimmungen mit der Guerilla gebe und daß sie sich von einem Moment auf den anderen treffen könnten, um ein Abkommen zu unterzeichnen. Nach den Aussagen des Vermittlers dagegen wies Conde eine neue Verhandlungsrunde zurück und machte die Guerilla für den Stillstand verantwortlich.
Vergebliche Versuche, die internationale Isolation zu durchbrechen
(Mexiko, 4. November 1992, NG-POONAL).- Die Vereinten Nationen haben Guatemala zum dritten Mal einen Sitz im Wirtschafts- und Sozialrat (ECOSOC) der UNO verweigert. Die Entscheidung der Generalversammlung der UNO bedeutet einen harten Schlag für die Bemühungen der Regierung von Jorge Serrano Elías, die Isolierung zu überwinden, in die sie aufgrund der andauernden Menschenrechtsverletzungen und der unsteten Führung der Regierung in diplomatischen Fragen geraten ist. Die Vereinigte Vertretung der guatemaltekischen Opposition (RUOG) führt die Zurückweisung der guatemaltekischen Bewerbung für einen Sitz in dem UN-Gremium darauf zurück, daß die Regierung sich erstens öffentlich gegen Mexiko als Mitglied des ECOSOC gewandt hatte, mit der Begründugn daß „dieses Land mehrere Male einen Posten in dieser Organisation besetzt“ habe. Zweitens hatte sie behauptet, daß die Friedensnobelpreisträgerin Rigoberta Menchú Tum die Bewerbung unterstütze, was keinesfalls der Wahrheit entsprach.
UN verweigert Sitz im Wirtschafts- und Sozialrat
Schließlich wurden Mexiko, Kuba und die Bahamas in den Wirtschafts- und Sozialrat gewählt. Die Abstimmung offenbarte, daß die Glaubwürdigkeit der guatemaltekischen Regierung in internationalen Kreisen aufgrund des Terrors von Polizei und Armee völlig zerrüttet ist: Für Guatemala erhielt nicht einmal ein Viertel der benötigten Stimmen. Die Internationale Gemeinschaft hatte der Regierung mehrere Gelegenheiten gegeben, die Richtung ihrer Politik zu ändern. Für die meisten Expert*innen gibt es keine Zweifel daran, daß die Regierung für die Agression gegen die Zivilist*innen verantwortlich ist. Manche sind aber auch der Meinung, daß den Verantwortlichen für die Sicherheit der Bürger*innen die Fähigkeit und der Wille fehlen, die Gruppen unter Kontrolle zu halten, die die Menschenrechtsverletzungen begehen. Die Schlüsselfrage ist, wie die Gewalt und der Terror von paramilitärischen Verbänden sowie von Polizei und Armee eingedämmt werden kann. Offenkundig sind die Institutionen, die die Verfassung und die darin festgeschriebenen Grundrechte schützen sollen, völlig unwirksam. Weder der Oberste Gerichtshof noch die Generalstaatsanwaltschaft haben sich bislang fähig oder willens gezeigt, annähernd rechtsstaatliche Kriterien durchzusetzen. Soldaten oder Polizisten, die Menschenrechtsverletzungen begangen haben, können weitgehend darauf vertrauen, daß sie nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Der Oberste Gerichtshof zeigt sich unfähig, Prozesse gegen Sicherheitskräfte einzuleiten oder abzuschließen, da Richter*innen eingeschüchtert oder – falls sie sich zu engagiert zeigen – auf einen uunbedeeutenden Posten versetzt werden.
Justiz ist unfähig, die Grundrechte zu schützen
An ein staatliches Menschenrechtsbüro, das nach Aussage des Präsidenten Jorge Serrano eröffnet wurde, um eine bessere Kontrolle über die Menschenrechtsverletzungen zu bekommen, kann sich kaum jemand erinnern. Dieses Büro hat nur bewiesen, daß seine Wirkung praktisch gegen Null tendiert und seine Angestellten nur die staatliche Bürokratie vergrößern. Das verwundert auch nicht. Denn die Regierung läßt immer wieder erkennen, daß sie überhaupt kein Interesse an einer Aufklärung dieser Verbrechen hat. Die Mitglieder der unabhängigen Menschenrechtsorganisationen nannten Regierungsvertreter unverblümt „schlechte Guatemaltek*innen“, sie seien Nestbeschmutzer, die ein schlechtes Bild von einer Regierung zeichneten und den Eindruck erweckten, sie unternehme nichts gegen die Greuel der Sicherheitskräfte.
EL SALVADOR
Kampf um mehr Wohnraum
(Nicaragua, November 1992, APIA-POONAL).- Es gibt ein Viertel im Zentrum der salvadorianischen Hauptstadt, das besonders hart vom Schicksal bestraft ist: San Jacinto. Genauso wie Hunderttausende von Bewohner*innen der Randgebiete leben die Bewohner*innen des Innenstadtviertels in extremer Armut. Es ist nicht selten zu beobachten, wie Karton und Plastik der sogenannten „Wände“ ihrer Hütten vom Wind auuseinandergetrieben werden. Manchmal schwillt der Fluß Anceliguate, der San Jacinto durchquert, durch den Regen so stark an, daß die Hütten an den Ufern Gefahr laufen, mitgerissen zu werden. Der Anceliguate, eine alte Lebensquelle für die spanischen und kreolischen Kolonisatoren, hat sich mittlerweile in einen Überträger der fürchterlichen Cholera verwandelt, die El Salvador heute wie kaum ein anderes Land in Zentralamerika bedroht. Als 1977 die Vereinigung der Bewohner*innen von Tugurios (UPT) gegründet wurde, fanden die Einwohner*innen von Jacinto zum ersten Mal Mut, sich gegen die Landbesitzer*innen zu wehren, die sie durch paramilitärische Gruppen oder Militäreinheiten von ihrem Land zu vertreiben suchten. Als der offene Krieg zwischen der Frente Farabundo Martí für die Nationale Befreiung (FMLN) und der salvadorianischen Armee ausbrach, war es eindeutig, auf wessen Seite die Bevölkerung stand. Später wurde die Repression so grausam, daß die UPT wieder aufgelöst werden mußte und viele Jugendliche in die Berge gingen und sich der Guerilla anschlossen.
Armenviertel war bevorzugtes Ziel des staatlichen Terrors
San Jacinto lag im Epizentrum eines Erdbebens außerordentlicher Stärke. Die internationale Hilfe kam ihnen durch die Regierungskanäle nicht zu. Darum gründeten die Einwohner*innen den Rat der Betroffenen Gemeinschaften „San Roque“ (CCDSR), der nach der großen Pfarrkirche von San Roque benannt wurde, die nebenbei trotz ihrer enormen Schutzmauern teilweise zerstört worden war. Mit der organisierten Kraft der Basisgemeinden vereinigten sich drei- bis viertausend Familien in der CCDSR, die sich Block für Block organisierten. Sie bauten einen Schutzwall um den Fluß Anceliguate, verteilten gleichberechtigt die Lebensmittel, die sie vom Erzbischof und anderen internationalen Gruppen bekamen, und bauten ihre Häuser, Gesundheitsstationen und Schulen mit dem Holz und dem Blech, das sie erhielten, wieder auf. Auf diese Art verwandelte sich der Rat der Betroffenen Gemeinden von San Roque in ein Modell für viele andere in der Hauptstadt. „Heute gibt es 18 organisierte Kräfte in den Vierteln von San Salvador,“ bemerkt José Mirio González, Erziehungsberater der Kommunalen Salvadorianischen Bewegung (MCS). Er leitet eine Schule zur Ausbildung von 350 Leiter*innen von Gemeindeverwaltungen. Die Stiftung, die 1989 gegründet wurde, vereinigt sieben städtische Organisationen und tausende von Familien, die um ihr Überleben kämpfen. Den Bewohner*innen geht es in erster Linie um die Legalisierung ihrer Grunstücke. Hierfür müssen die städtischen Volksorganisationen juristische Unterstützung bekommen. Zahlen des Wohnungsbauministeriums sagen, daß 1990 473.571 Wohnungen fehlten, davon 168.974 im städtischen Bereich und 305.277 auf dem Land. Prognosen zufolge werden 1994 über 655.000 Wohnungen fehlen.
Wohnungen zu klein, ohne Wasser und Strom
Doch nicht nur der Mangel an Wohnraum ist ein Problem, die vorhandenen Wohnungen sind zu klein und schlecht ausgestattet. In San Salvador haben 38 Prozent der gesamten Wohnungen eine Größe zwischen 16 und 40 Quadratmetern. Das bedeutet eine ständige Enge, durch die die Übertragung von Krankheiten der Atemwege und des Magen-Darm-Traktes erleichtert werden. Darum kämpft die MCS um menschenwürdige Häuser, die mit der Mindestversorgung wie Wasser und elektrischem Licht ausgestattet sind. „Wir kämpfen jedoch nicht nur für mehr und bessere Wohnungen. Notwendig sind grundsätzliche Veränderungen, deshalb kämpfen wir für eine Veränderung des rechtlichen Rahmens, für eine richtige Stadtreform kämpfen,“ erklärt Luis Zúñiga vom Zentrum für familiäre und gemeinschaftliche Neuorientierung (Crefac), einer salvadorianischen Nichtregierungsorganisation. In dieser Organisation verfügen die Bewohner*innen selbst über die Unterstützung, die sie von außen bekommen. Sie wollen eine politische Plattform zur Verteidigung der Interessen der Bevölkerung erstellen. Diese Plattform wird augenblicklich von allen Organisationen der MCS diskutiert. Auf die Frage, welche Rolle die kommunalen Organisationen in den zukünftigen Wahlen in El Salvador spielen werden, an denen sie in den Reihen der FMLN teilnehmen werden, antwortet Pedro Rivas, Generalkoordinator der CCDSR und Mitglied des Direktoriums der Kommunalen Bewegung El Salvadors: „Wir können uns keiner der Parteien anschließen, weil wir in den politischen Interessen autonom sein wollen. Trotzdem bilden wir Pakte mit den politischen Kräften, die unsere Interessen verteidigen, wie zum Beispiel mit der Partei der Demokratischen Konvergenz von Rubén Zamora und mit verschiedenen Strukturen der FMLN. Außerdem sind wir mit den anderen Volksorganisationen wie der Nationalen ArbeiterInnenunion El Salvadors (UNTS) und besonders der ACEL, der Gewerkschaft des Nationalen Elektrizitätsunternehmens, koordiniert.“ In naher Zukunft wird die MCS eine Reihe von Kampagnen für ihre Forderungen und gegen die Repression starten, der viele ihrer Mitglieder zum Opfer gefallen sind. „Wir wissen, daß unser Kampf lang ist, aber auch, daß wir in der heutigen Situation bessere Bedingungen als je zuvor haben, um das Bild der Städte El Salvadors zu verändern,“ so José Mirio González.
CHILE
Diplomatische Beziehungen zu Vietnam und Nordkorea aufgenommen
(Santiago de Chile, November 1992, ANCHI-POONAL).- Chile hat wieder diplomatische Beziehungen auf Botschaftsebene mit Vietnam und Nordkorea aufgenommen. Die entsprechenden Protokolle wurden von dem chilenischen Außenminister Enrique Silva Cimma, dem vietnamesischen Kanzler Nguyen Manh Cam und dem nordkoreanischen Kanzler Kim Yong Nam unterzeichnet. Sowohl Vietnam als auch Nordkorea hatten die diplomatischen Beziehungen zu Chile aus Protest gegen den Sturz des Präsidenten Salvador Allende durch die Streitkräfte im September 1973 abgebrochen. Der Geheimdienst des chilenischen Militärs hingegen hatte Vietnam und Nordkorea wiederholt vorgeworfen, die chilenischen Aufstandsbewegungen auszubilden, unter anderem die „Bewegung der Revolutionären Linken“ (MIR). Deren früherer Generalsekretär Andrés Pascal Allende hatte des öfteren Vietnam und Nordkorea besucht und war dort mit großen Ehren empfangen worden.
LATEINAMERIKA
Die Streitkräfte in den Identitätskrise
(Ecuador, November 1992, alai-POONAL).- Der Ost-West-Konflikt zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion hatte nicht nur starke Folgen für die militärischen Einrichtungen der direkt von dieser Konfrontation betroffenen Länder, sondern auch für die Streitkräfte in Lateinamerika selbst. Eine Darstellung der Rolle der Streitkräfte auf unserem Subkontinent zur Zeit des Konfliktes zwischen Ost und West kann zum Verständnis der aktuellen Situation dienen. In den vergangenen Jahrzehnten war die Rolle der lateinamerikanischen Armeen klar durch die nordamerikanische Strategie der „Hemisphärenverteidigung“ bestimmt und definiert. Bereits im Dezember 1823 erhob der damalige US-Präsident James Monroe in einer nach ihm benannten Doktrin den Anspruch auf die Vorherrschaft der USA auf dem lateinamerikanischen Kontinent. Was zunächst als defensive Verteidigungsstrategie gegen die kolonialistischen Ambitionen der europäischen Mächte gedacht war („Amerika den Amerikanern“), diente im weiteren Verlauf als Grundlage für das zunehmend aggressive Streben der USA nach Hegemonie.
Im Sog des Ost-West-Konfliktes
Nach dem Zweiten Weltkrieg geriet die Lateinamerika-Politik der USA dann ganz in den Sog des globalen Machtkampfes mit der Sowjetunion. In diesem Kontext ist der Interamerikanische Vertrag der Gegenseitigen Hilfe (TIAR) und die rechtliche Gestaltung der Interamerikanischen Verteidigungsgemeinschaft (JID) zu sehen. Insbesondere die kubanische Revolution 1959 und das Entstehen von nationalen Befreiungsbewegungen in zahlreichen Ländern ließen die USA um ihre Vormachtstellung in Lateinamerika fürchten. Die Vereinigten Staaten entwickelten eine auf zwei Säulen basierende Strategie. Einerseits sollten die Streitkräfte in den jeweiligen Ländern mit Hilfe umfangreicher militärischer Unterstützung der USA den Kampf gegen die Aufstandsbewegungen intensivieren und die „Aggression des internationalen Kommunismus“ niederschlagen. Gleichzeitig sollte ein wirtschaftlicher Modernisierungsprozeß eingeleitet werden, um die extreme Armut in Lateinamerika zu verringern. Den Streitkräften der jeweiligen Länder fiel demnach eine zentrale Rolle als Garant der US-amerikanischen Dominanz zu. Die enge Anbindung an die USA verlief indes nicht reibungslos, allenthalben offenbarten sich die Widerprüche zwischen den aufgewerteten nationalen Militärführern und der Hegemonialmacht. Einige forderten eine geringere Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten und nationale Konzepte zur Beseitigung der wirtschaftlichen Unterentwicklung. Deutlichster Ausdruck dieser Tendenz war die Machtergreifung linksorientierter Offiziere in Peru, Bolivien und Ecuador.
Die Phase der „schmutzigen Kriege“: Die Militärs ergreifen dieMacht
In den siebziger Jahren manifestierte sich das Gewicht der Streitkräfte in der „Doktrin der Nationalen Sicherheit“. Der Kampf gegen die Befreiungsbewegungen diente reaktionären Militärs in vielen Ländern als Vorwand, die Macht zu ergreifen und in einem „schmutzigen Krieg“ jegliche Opposition zu zerschlagen. Gleichzeitig bildeten sich Gruppen heraus, die eine gewisse militärische Autonomie und ideologische Unabhängigkeit von den Vereinigten Staaten suchten. Das wurde zunächst daran deutlich, daß die lateinamerikanischen Regierungen Waffen aus europäischen Ländern und der Sowjetunion kauften und Länder wie Argentinien, Brasilien und Chile eine eigene Militärindustrie aufbauten. Nach der brutalen Repression zogen sich die Streitkräfte in den achtziger Jahren zwar zumeist von den Schalthebeln der Macht zurück und ermöglichten eine zumindest formale Demokratisierung, dennoch behielten sie in den meisten Ländern ihren dominanten Einfluß. Die von US-Präsident Reagan erneut angeheizte Ost-West- Konfrontation diente den Militärs weiterhin als Rechtfertigung für ihren umfassenden Anspruch, die nationale Sicherheit zu garantieren. Der Zusammenbruch der Sowjetunion und der daraus resultierende Aufstieg der USA zur alleinigen Supermacht hat die Rolle der Streitkräfte in den Ländern Lateinamerikas nachhaltig erschüttert. Das Schreckgespenst einer kommunistischen Machtergreifung im Hinterhof der USA ist nun auch bei der Führungsmacht selbst verblaßt. Mit dem Verschwinden des globalen Feindes sehen die USA immer weniger Grund, aufwendige Militärapparate zur Sicherung der Hegemonie zu finanzieren. Der nordamerikanische Verteidigungsminister Richard Cheney schlug zudem vor, die lateinamerikanischen Länder sollten die Rüstungsausgaben verringern, die Waffenproduktion herunterfahren und mehr Geld in die Infrastruktur und nicht-militärische Industrie stecken.
Wandel in US-Strategie nach dem Kollaps der Sowjetunion
Von den lateinamerikanischen Militärs wurde diese Forderung mit wenig Begeisterung aufgenommen, vor allem in den Ländern mit eigener Rüstungsindustrie wie Brasilien, Argentinien und Chile. Sie argwöhnten zudem, die USA wollten mit dieser Initiative nur Märkte für ihre Waffenindustrie sichern, da die US- Rüstungsschmieden nach dem Ende des Ost-West-Konflikts Probleme hatten, ihr Kriegsgerät zu verkaufen. Die Militärs, allen voran General Augusto Pinochet, verteidigten die Erhaltung der Waffenindustrie. Sie führten an, daß die „kommunistische Gefahr“ nicht endgültig beseitigt sei. Grundsätzlich haben die Streitkräfte den Anspruch nicht fallengelassen, die innere Ordnung der Länder in ihrem Sinn zu kontrollieren. Andererseits sehen sie ihren Machtanspruch durch zunehmende Einflußnahme der Industriestaaten im Kontext des Nord- Süd-Konfliktes beschnitten. In Militärkreisen wird mittlerweile der immer größer werdende Abstand zwischen den Ländern im Norden und im Süden als Bedrohung der „nationalen Sicherheit“ diskutiert. Die Rolle der Militäreinrichtungen in Lateinamerika im neuen Weltszenarium hat nach Ansicht des brasilianischen Vizeadmirals Armando Amorium Ferreira mit dem Widerstand gegenüber einer Ordnung zu tun, „in der uns der Zugang zu einer technologischen Entwicklung versagt wird und in dem uns Umweltpolitik aufgezwungen wird, die vor allem die „entwickelten Länder“ bevorzugt, genauso wie die Strategien gegen den Drogenhandel“. Der brasilianische Militär schlägt vor, diesen Widerstand mit der politischen, wirtschaftlichen und militärischen Integration Lateinamerikas zu beginnen. Die militärische Integration rechtfertigt er in der folgenden Weise: „Die militärische Zusammenarbeit unter den Ländern Lateinamerikas wird nicht eine militärische Macht schaffen, die fähig wäre, großen militärischen Einfluß im Süden des Kontinents zu nehmen. Sie wird aber unbestreitbar eine große Fähigkeit zur Abschreckung ermöglichen. (..) Auf diese Möglichkeit zu verzichten, bedeutet, die Bedingung einer Nation zweiter Klasse in einem kolonialen System zu akzeptieren, das kaum raffinierter ist als das des vergangenen Jahrhunderts.“
Unbehagen über enge Anbindung an Vereinigte Staaten
Derlei kategorische Versicherungen lassen ahnen, daß innerhalb der Streitkräfte zunehmend bewußt wird, daß die eigenen Interessen sich immer weniger mit denen der Führungsmacht USA decken. Der brasilianische General Leonidas Pires Goncalves, Verteidigungsminister der Regierung Sarney, unterstützte diese Position, indem er die künftige Rolle der Vereinigten Staaten als alleinige Weltordnungsmacht relativierte. Sie müßten die unveräußerlichen Rechte der anderen Länder respektieren, wie zum Beispiel das Recht auf die soziale und ökonomische Entwicklung der Völker (Interview mit Alvin Toffler für Jornal do Brasil). Wenn man auch davon ausgehen kann, daß diese Positionen bislang zumindest offen nur von einer Minderheit formuliert werden (die offiziellen Positionen sind weitgehend an der Hegmonie der USA orientiert), so ist doch unverkennbar, daß die Rolle der Streitkräfte im politischen System der formal-demokratischen Staaten Lateinamerikas neu definiert werden muß. Unverkennbarer ist allerdings auch, daß sich bislang weder im politischen noch in militärischen Zirkeln eine klare Haltung abzeichnet. Argentiniens Präsident Menem offenbarte dieses Dilemma mit seinem nebulösen Vorschlag, eine interamerikanische Militärmacht zu bilden, die die „demokratische Stabilität des Kontinents“ sichern sollte. Der Vorschlag rief mehr Verwirrung denn positive Resonanz hervor. Auch die Streitkräfte tuen sich schwer, ihre Rolle in einem neuen Szenarium politischer und wirtschaftlicher Entwicklung zu bestimmen. Die Neuorientierung wird unvermeidlich auch Widersprüche innerhalb der Streitkräfte selbst offenlegen.
HAITI
Student*innen protestieren gegen Sparpläne
(Port-au-Prince, 23. Oktober 1992, HIB-POONAL).- Die Student*innen, die in diesem Monat an die Universität zurückkehrten, haben Widerstand gegen geplante Einsparungen im Hochschulbereich angekündigt. Zudem werfen sie der Regierung vor, sich in das Schulsystem einzumischen und die Meinungsfreiheit zu beschneiden. In einer Presseerklärung hat die Nationale Vereinigung Haitianischer Student*innen (FENEH) die derzeitige Regierung beschuldigt, sie wolle die Schulen und Universitäten unter ihre Kontrolle bringen und demokratische Gruppierungen mundtot machen. Unter anderem wolle die Regierung die Ausgaben für den Bildungssektor kürzen und Gebühren für die freien Universitäten einführen. Die Regierung wolle die Reformen, die der demokratisch gewählte und vor vor einem Jahr gestürzte Präsident Aristide eingeführt habe, um Kindern aus unteren Schichten den Zugang zu Schulen und Universitäten zu ermöglichen, rückgängig machen. „Es sind die Student*innen und die Arbeiter*innen, die aufgestanden sind und weiter aufstehen werden, mit starkem Widerstand gegen die Putschist*innen bis zum Sieg,“ heißt es in einer Erklärung des StudentInnenverbandes. „Die FENEH startet einen Aufruf an alle Student*innen, Arbeiter*innen und Volksorganisationen, solidarisch zusammenzuarbeiten und eine starke Widerstandsbewegung aufzubauen.“ Bereits im vergangenen Frühjahr hatten die Student*innen das Semester mit Demonstrationen und Protesten gegen die Putschregierung beendet. Bei Zwischenfällen wurden etliche Student*innen von Soldaten erschossen. Die Universitätsleitung stellt sich ebenfalls den Regierungsplänen entgegen. Der „Conseil de Direction“ der Staatsuniversität „Faculte des Sciences“ kritisierte, daß sie „hauptsächlich der Stärkung des privaten Sektors dienen.“
Flugblätter gegen das Militärregime
(Port-au-Prince, 22. Oktober 1992, HIB-POONAL).- Am vergangenen Samstag und erneut am Sonntag warf ein zweimotoriges Flugzeug hunderte von Flugblättern zugunsten des vor einem Jahr gestürzten Präsidenten Aristide über der Hauptstadt sowie über mindestens zehn anderen Städten ab. Die Flugblätter enthielten einen Aufruf an die Haitianer*innen, sich zu organisieren, um dem derzeitigen Regime Widerstand zu leisten. Auf den Zetteln war ein Portrait des gestürzten Präsidenten Aristide abgebildet. Das Militär nahm zahlreiche Personen fest, die die Flugblätter von der Erde aufhoben. Festnahmen und Gewaltanwendungen wurden aus den Gemeinden Petit-Goave, Miragoane, St. Marc und Gonaives gemeldet. Aus einigen Dörfern wurde berichtet, daß Soldaten auf das Flugzeug nd auf Zivilist*innen geschossen hätten.
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