Deutsche Ausgabe des wöchentlichen Pressedienstes lateinamerikanischer Agenturen Nr. 167 vom 01.11.1994
Inhalt
HAITI
ARGENTINIEN
KUBA
NICARAGUA
ECUADOR
COSTA RICA
GUATEMALA
HAITI
Aristide spielt die Rolle, die ihm die USA zugewiesen haben
(Port-au-Prince, 21. Oktober 1994, hib-POONAL).- Die Erklärungen des zurückgekehrten Präsidenten Jean-Bertrand Aristide und seiner Regierung zeigen, was viele vorhergesagt haben: er kam mit wenig Macht auf die Insel zurück. Aristide hat nicht nur keinen Handlungsspielraum, er ist ein Mitarbeiter und Förderer des neoliberalen Plans und anderer Aspekte der US-Vision über Haitis Zukunft geworden. In den Aktionen und Reden der vergangenen Woche wurden die haitianischen Menschen und ihre Forderungen nach wirtschaftlicher und sozialer Gerechtigkeit kaum erwähnt. Der Präsident und seine Regierung waren stattdessen in der Defensive von der Sorge erfüllt, den einheimischen Bourgeoisie und den USA, die ihre Truppen im Regierungspalast installierten, zu gefallen.
Der Präsident hat sich von den Menschen entfernt
Als Aristide am 15. Oktober sprach, erschien er in einer kugelsicheren Glasbox. Aus unbekannten Gründen wurde seine Rede über eine schreckliche Leitung übertragen. Für die tausende von Menschen, die vor dem Regierungspalast zusammenkamen, war sie praktisch nicht zu verstehen. Am 17. Oktober ging der Präsident entgegen der Tradition nicht zur Pont Rouge, wo 1806 Jean-Jacques Dessalines ermordet wurde, sondern zum Nationalmuseum. Weil vor dem Palast eine Menschenmenge war, leiteten sie ihn schnell aus einem Hintereingang heraus. Abgesehen von diesen beiden Ereignissen, erschien Aristide nur auf einer kurzen Pressekonferenz. Bemerkenswerterweise bat sein Berater die haitianischen Journalist*innen, den ausländischen Kolleg*innen den Vortritt zu lassen.
Dienstags hatte die Regierung einen Benzinpreis von 38 Gourdes pro Gallone angekündigt – im Vergleich zu 19 Gourdes vor dem Staatsstreich. Die Begründung: „Der Internationale Währungsfonds sagt, Haiti kann den Benzinpreis nicht länger subventionieren.“ Nach Kritik und Panikreaktionen aus der Bevölkerung sank der Preis auf 30 Gourdes (3 US-Dollar). Mittwochs verkündete Aristide, die Marktwirtschaft und die „wirtschaftliche Demokratisierung“ zu unterstützen – eine Umschreibung für den Verkauf von Staatsunternehmen. Er sprach ebenso über die Bedeutung des Privatsektors und von der Schaffung einer Kommission mit Vertreter*innen des Staates und der Privatwirtschaft.
Aristide und seine Kabinettsmitglieder klagten wiederholt über Plünderungen und „Gewalt“. Am 15. Oktober sagter der Präsident: „Wir rauben nicht. Ordung und Disziplin überall, zu jeder Zeit, ja!…Keine Gewalt, keine Rache, ja zur Versöhnung!“ Doch weder Aristide noch seine Minister sprachen über die Ursache für das Plündern und die Gewalt. Sie werden offensichtlich von der Befürchtung der Leute genährt, es werde kein gerichtliches Vorgehen gegen ihre Mißhandler geben. Während die „Gewalt“ verurteilt wird, kann die Bevölkerung deutlich sehen, wie die Regierung die „Versöhnung“ durchführt, indem sie offen mit denen zusammenarbeitet, die für den Putsch verantwortlich sind.
Die Putschisten sind weiterhin an der Macht
Das Interims-Oberkommando der Streitkräfte ist voll mit Putsch- Teilnehmern. An der Spitze steht mit Jean-Claude Duperval ein Mann, der seine Hände beim Staatsstreich mit im Spiel hatte und von der ausländischen Presse zudem mit dem Drogenhandel in Verbindung gebracht wird. Aristide hat bisher keinen Hinweis gegeben, daß er ein anderes Oberkommando will. Genauso wenig hat er auf die Tatsache reagiert, daß etwa ein Dutzend bekannter Menschenrechtsverletzer und Putschunterstützer mit Auslandsposten „belohnt“ werden anstatt zuhause Gerichtsverfahren unterzogen zu werden.
In all den angekündigten Plänen und Programmen ist bisher nichts über die Untersuchung und Verfolgung derer erwähnt worden, die tausende Menschenrechtsverletzungen begingen. Es wird von keinem Vorgehen gegen die „respektablen“ Mitglieder der Bourgeosie gesprochen, die mit der de facto-Regierung bei schmutzigen Geschäften zusammenarbeiteten, dabei Millionen scheffelten und den Staat zugrunde richteten. Aristide hat die Gerechtigkeit bisher nur in abstrakten Ausdrücken genannt. Er hat konkrete Pläne für Schulen und das Geschäftsleben, aber nichts Konkretes, um der haitianischen Bevölkerung die Anwendung der Gerechtigkeit in Aussicht zu stellen. Der einzige Weg, die „Volksgerechtigkeit“ zu vermeiden, besteht darin, daß der Staat für Gerechtigkeit sorgt.
Wochen nach der Invasion ist immer noch nicht klar, ob in einem Schriftstück die Leitlinien für die Besatzung festgelegt sind. Vielleicht gibt es einen Handel, vielleicht werden die Konditionen immer noch verhandelt. Die fehlende Klarheit über die Besatzung ist eine von vielen Hinweisen für die Menschen und Gruppen der Demokratie- und Volksbewegung mehr, daß ein anderer Aristide zurückgekehrt ist. Viele sagten diesen Fall voraus. Die Aktionen heute beweisen, daß er Realität geworden ist.
Machtkampf: USA wollen die neue Polizei kontrollieren
(Port-au-Prince, 20. Oktober 1994, hib-POONAL).- Zwischen der nordamerikanischen und der haitianischen Regierung ist ein Machtkampf um die Kontrolle der zukünftigen Sicherheitskräfte entbrannt. Die USA wollen bestimmen, welche Armeeoffiziere gefeuert werden und welche bleiben. Sie wollen die tatsächliche Kontrolle bei der Ernennung des Streitkräftechefs und bei der Ausbildung. Ebenso haben sie die Absichts, bei der Struktur des neuen Polizeisystems mitzureden, die zum Teil auf dem französischen Gendarmerie-Modell aufbaut.
Der Machtkampf geht auf die Zeit vor dem Putsch zurück. Damals lud Präsident Jean-Bertrand Aristide die Schweizer Polizei ein, ein neue Palastwache auszubilden. Die USA sprachen sich heftig gegen diese Ausbildung aus und unterstützten einige Wochen später den Staatsstreich. Die derzeitige Armee, die die Polizei mit einschließt, wird durch zwei neue Kräfte ersetzt werden – Streitkräfte mit etwa 1.500 Mann und Polizeikräfte mit einer Stärke zwischen 7.000 und 10.000 Mann. Aber nicht das gesamte Personal wird neu sein. Einige Soldaten werden direkt übernommen und andere werden auf der neuen Militärakademie akzeptiert. Sie soll im Dezember mit 375 Kadetten den Unterricht aufnehmen.
Ein Streit geht um die „Umerziehung“ oder Entlassung der Menschenrechtsverletzer. Mitglieder von Aristides Regierung sagten früher, sie würden die absolute Kontrolle über das Vorgehen haben. Doch nach der Rückkehr des Präsidenten sind die USA von ihrem Versprechen zurückgetreten. Sie verlangen nun, daß fünf von den USA genannte Offiziere, darunter Duperval und Brigadegeneral Bernadin Poisson – wie Duperval Putschteilnehmer – das letzte Wort haben. Heute sagt ein Aristide-Mitarbeiter: „Die USA zwingen alles auf, was sie wollen.“
Die neue Armee soll an der Küste, der Grenze und in den Kasernen bleiben. Die neue Polizei wird für „Gesetz und Ordnung“ innerhalb des Landes zuständig sein. Dabei wollen die USA das alleinige Recht, die neuen Polizeioffiziere auszubilden. Sie haben dafür ihre Institution ICITAP, die vom FBI gegründet wurde und dem Justiz- und Außenministerium untersteht. ICITAP entstand 1986, um „die entstehenden Demokratien in der westlichen Hemisphäre zu stärken“. Der MitarbeiterInnenstab rekrutiert sich aus FBI, Geheimdienst, Drogenagent*innen und Polizeioffizieren. Die Institution hat in vielen lateinamerikanischen Ländern gearbeitet, darunter ragen besonders Panama, Guatemala und El Salvador hervor. Die „neuen“ Kräfte in eben diesen Ländern sind in keinster Weise „reformiert“. In Guatemala ist die Polizei in zahlreiche Menschenrechtsverletzungen verwickelt. In El Salvador akzeptierte die neue Polizei eine Reihe von Menschenrechtsverletzern der unterdrückerischen Nationalpolizei. Kritik gab es dafür von vielen Seiten, einschließlich der UNO.
Die haitianische Regierung möchte Canada und Frankreich zur Ausbildung hinzuziehen. Bis jetzt können die ICITAP-Vertreter*innen aber noch sagen, es handele sich um eine US-Angelegenheit. In diesem Fall geht es nach Aussage des haitianischen Abgeordneten Samuel Madistan um einen größeren Streit zwischen den USA und der verfassungsmäßigen Regierung. Er traut Aristide zu, „bis zum Ende durchzustehen und eine multinationale Präsenz sicherzustellen.“
ARGENTINIEN
Menem verteidigt schmutzigen Krieg
(Mexiko-Stadt, 27. Oktober 1994, POONAL).- Zum wiederholten Male rechtfertigte der argentinische Präsident Carlos Menem das Verhalten der Militärs in den 70er Jahren, als sie für eine blutige Unterdrückung verantwortlich waren. Menem sprach gegenüber einer Radiostation von einem schmutzigen Krieg, in dem damals einige für die Gültigkeit des Gesetzes gekämpft und andere dieses Gesetz ständig verletzt hätten. Er forderte dazu auf, nicht jedes Mal zurückzugucken.
Der Präsident reagiert damit auf die Kritik der Opposition an seiner Person, weil er die Beförderung von zwei Marinesoldaten unterstützt, die zugegeben haben, während der Militärdiktatur an Folterungen beteiligt gewesen zu sein. Die von der Marine beantragte Beförderung wird zur Zeit im argentinischen Senat diskutiert. Menem meint: „Man muß mit Gerechtigkeit vergeben und vergeben, wenn es Reue gibt“. Die Opposition sieht dies ganz anders. So glaubt der Abgeordnete Carlos Alvarez von der Frente Grande, daß der Präsident „in seinem Gefühl der Allmacht und sich als Eigentümer der Geschichte und der Vergebung für alle fühlend, viel weiter geht: es geht nicht um die Idee des Vergessens, sondern darum, die Geschichte derjenigen zu legitimieren, die nicht zur Rechenschaft gezogen wurden.“
KUBA
Freie BäuerInnenmärkte tragen erste Früchte
– Von Dalia Acosto
(Havanna, 17. Oktober 1994, sem-POONAL).- „Die Papaya wächst wild und fast überall. Kannst Du Dir vorstellen, daß meine sechsjährige Tochter sie nicht kannte“, fragt Norma Sierra, während sie eine dieser Früchte zeigt. Sie hat sie gerade für 20 Pesos gekauft, nach dem offiziellen Wechselkurs sind das 20 Dollar. Seit dem 1. Oktober geht Norma einmal in der Woche auf den nächsten freien BäuerInnenmarkt. Die viele Jahre leeren Auslagen bieten jetzt Gemüse, Bohnen und sogar Schweinefleisch an. Nach langer Zeit mangelnder Versorgung kaufen die Inselbewohner*innen nun mit der Sorge derjenigen, die daran gewöhnt sind, daß die Sachen nicht für alle reichen.
Nach Angaben der spanischen Tageszeitung „El Pais“ sollen die freien Märkte auf eine Initiative des ehemaligen spanischen Wirtschaftsministers Carlos Solchaga zurückgehen. Dieser hatte während seines Kuba-Besuches 1993 empfohlen, „die Produktivkräfte auf dem Land freizumachen“ und die Bäuer*innen ihre Erzeugnisse direkt vermarkten zu lassen. Nicht wenige Male vorher hatten die kubanischen Autoritäten diese Möglichkeit ausgeschlossen. Von Ende der 70er Jahre bis 1986 hatte es die Märkte bereits gegeben. Doch dann wurden sie abgeschafft, weil sie zur unverhältnismäßigen Bereicherung einiger weniger führten und die Genossenschaftsbewegung bremsten. Für einige entspringt das jetzige Zugeständnis eher der Verzweiflung als der Überzeugung. Raul Castro, Verteidigungsminister und zweiter Sekretär der Kommunistischen Partei meint: „Wenn es Essen für die Bevölkerung gibt, sind die Risiken unwichtig.“
Nach einem Bericht für den Weltkindergipfel (1991) verbrauchten die Kubaner*innen noch 1988 pro Kopf fast 3.000 Kalorien. Doch ab 1989 ist die Tendenz fallend. Einige Wissenschaftler*innen sprechen von einem Absinken des Konsums auf 2.000 Kalorien. Andere glauben, bei Familien ohne Geld für den Schwarzmarkt oder die Devisenläden könne der tägliche Verbrauch nur noch 1.000 Kalorien betragen. Daten des zentralen Planungsrates geben für 1989 folgende Importquoten an: Getreide 79 Prozent, Bohnen 99 Prozent, Fleisch 21 Prozent, Fisch 44 Prozent, Milich und Milchprodukte 38 Prozent und Fette 94 Prozent. In den Folgejahren reduzierten sich die Importe und Lebensmittel waren weniger verfügbar.
Können freie Märkte die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln sichern?
Das Rationierungssystem garantiert jedem Bewohner von Havanna monatlich knapp drei Kilo Reis und Zucker, 567 Gramm Getreide und etwa 13 Kilo verschiedener Lebensmittel. Allerdings kann die Garantie selten eingehalten werden. In anderen Provinzen sind die Quoten geringer. Die Ernährungsprobleme beeinträchtigen die Gesundheit der Kubaner*innen. So wird die Mangelernährung zu den Hauptursachen für die Nervenkrankheit gerechnet, an der im letzten Jahr mehr als 50.000 Kubaner*innen litten und die zur zeitweiligen Erblindung führte. Die Hoffnung vieler richtet sich auf den Markt. Aber die Expert*innen glauben nicht an ein dauerhaft hohes und breites Angebot. Ein Ökonom meint: „In der kubanischen Landwirtschaft gab es lange Zeit einen Stillstand und jetzt kann sie nicht von heute auf morgen wiederbelebt werden. Man muß aussähen und die Ergebnisse abwarten.“
In den letzten Jahren hat der Verstädterungsprozeß auf Kuba zugenommen. Untersuchungen zeigen, daß besonders die Jugendlichen in die urbanen Zentren abwandern. Die Mehrheit sieht in der Bodenbearbeitung keine Zukunft. Diejenigen, die für Staatsunternehmen arbeiten, bekommen einen niedrigen Lohn. Die privaten Bäuer*innen haben geringe Mittel und müssen einen wichtigen Teil ihrer Produktion zu sehr niedrigen Preisen an den Staat verkaufen. Die fehlenden Anreize spiegeln sich in den Produktionsergebnissen eines landwirtschaftlich geprägten Landes wieder, das nicht in der Lage ist, seine Bevölkerung selbst zu ernähren.
Die Bäuer*innen sind noch skeptisch. Nicht wenige erinnern sich, wie 1986 nach der Schließung der Märkte ihre Bankkonten eingefroren wurden. Während sich jetzt die Staatsunternehmen dem freien Verkauf widmen, zeigen sich viele der Landbewohner*innen unentschlossen und erkundschaften das Terrain erst einmal. Dennoch setzen viele Kubaner*innen ihre Hoffnung auf die Märkte. Beim letzten Mal reichten einige Monate aus, die Nahrungsmittelproduktion anzukurbeln. Dieses Mal kann es genauso sein. Norma Sierra ist auf jeden Fall glücklich. Sie interessieren die Widersprüche, das Mißtrauen und die noch hohen Preise nicht: „Solange es Essen für meine Familie gibt, bin ich ruhig.“
NICARAGUA
Streit in der FSLN geht weiter – Direktor der Barricada abgesetzt
(Mexiko-Stadt, 27. Oktober 1994, POONAL).- Die Sandinistische Versammlung, das höchste Organ der FSLN, setzte am 25. Oktober den Chef der Parteizeitung „Barricada“ ab. Carlos Fernando Chamorro galt als Mitglied der von Sergio Ramirez angeführten „Erneuerungsströmung“ innerhalb der Partei. Der ehemalige Innenminister Thomás Borge, das dienstälteste Mitglied in der FSLN-Führung, nannte „ausgesprochene und nicht ausgesprochene Widersprüche“ mit Chamorro als Grund für die Entscheidung. Borge gehört zum als „orthodox“ oder „radikal“ bezeichneten Flügel der FSLN. Diese Gruppierung mit dem Ex-Präsidenten Daniel Ortega als exponiertem Vertreter hat innerhalb der Partei die Mehrheit.
Obwohl die Tageszeitung „Barricada“ ein Parteiorgan ist, hat sie in den vergangenen Jahren die Entwicklung der FSLN kritisch begleitet. Vor dem Hintergrund des in den letzten Wochen verschärften Machtkampfes zwischen „Radikalen“ und „Erneueren“ sowie den parteiinternen Mehrheitsverhältnissen kommt die Absetzung von Chamorro nicht völlig überraschend. Dieser bezeichnete den Vorgang als „etwas normales, wenn es Meinungsverschiedenheiten zwischem dem Zeitungschef und den Eigentümern gibt“. Mit der neuen Verlagspolitik werde das Land jedoch einen „demokratischen, pluralen Spielraum“ verlieren. Nach der Absetzung Chamorros traten der stellvertretende Direktor und einer der Herausgeber zurück. Die Mehrheit der Journalist*innen der Barricada unterschrieb einen Brief, in dem „die Liquidierung einer ganzen journalistischen Einstellung“ beklagt wird.
Nach Einschätzung von Beobachter*innen nähern sich die Anhänger Daniel Ortegas immer mehr der absoluten Kontrolle bei den Schlüsselpositionen in der FSLN. Die Frage ist, inwieweit dies dem Ansehen der Partei schadet. Einen Tag vor der aufsehenerregenden Entscheidung hatte es ein anderes aufsehenerregendes Ereignis gegeben: der Priester, Dichter und ehemalige Kulturminister Ernesto Cardenal kehrte der Partei den Rücken. Er klagte in einer Pressekonferenz die „Radikalen“ an, von der Partei „Besitz zu ergreifen“.
Wirtschaftliches Chaos und politische Anpassungen
– Von Guillermo Fernández
(Managua, 29. September 1994, alai-POONAL).- Die Gewehre schweigen zwar seit mehr als vier Jahren, doch die Zukunft des Landes ist immer noch unklar. Der zum ersten Mal zu Beginn des Jahres 1993 vom Präsidialminister Antonio Lacayo angekündigte „wirtschaftliche Aufschwung“ scheint weiter weg als je zuvor. Damals sagte der Regierungsfunktionär ein Wachstum von 5 Prozent voraus. Monate später sprach Lacayo von 3 Prozent und zum Jahresende war in den offiziellen Verlautbarungen nur noch von 1 Prozent die Rede. Zur selben Zeit beschrieben die Expert*innen verschiedener Privatorganisationen die tatsächliche wirtschaftliche Lage in Nicaragua als „tiefe Rezession“.
Für 1994 scheint sich die Geschichte zu wiederholen. Als die Regierung im April dieses Jahres mit den multilateralen Finanzorganismen den sogenannten Anpassungsplan – Phase II (als ESAF bekannt) unterschrieb, gingen die Regierungsvertreter*innen wieder von einem 4prozentigen Wachstum aus. Doch nur fünf Monate nach diesen Ankündigungen versichert Zentralbankchef Evenor Taboada, das Wachstum werde höchstens 2 Prozent betragen. Den Unterschied der Zahlen rechtfertigte er mit den Hinweisen auf die Trockenheit, die große Teile des Landes heimgesucht hat, die Energiekrise, die die Stromversorgung auf bis zu acht Stunden täglich reduziert und die TransportarbeiterInnenstreiks zu Anfang des Jahres und im August. Dies habe zu Verlusten von rund 50 Millionen US-Dollar geführt.
Doch die Prognose des Bankverantwortlichen wird wiederum von Nicht-Regierungsorganismen bestritten. „Die Vorhersage von Taboada ist übertrieben optimistisch. Ich glaube nicht an ein Wachstum über 0.5 Prozent hinaus und würde für die nationale Wirtschaft überhaupt nichts bedeuten“, meint beispielsweise der Ökonom José Arias. Er ist Direktor des Wochenbulletins „Cable Centroamericano“, das auf Wirtschaftsthemen in der Region spezialisiert ist. Andere sind noch pessimistischer als Arias. ESAF hat die Arbeitslosigkeit in die Höhe getrieben. Unter den Bedingungen befindet sich die Regierungsverpflichtung, bis Dezember dieses Jahres 7.000 staatliche Arbeitsplätze abzubauen. Die Regierung erfüllt diese Verpflichtung nach und nach. Dazu kommt die monatliche Erhöhung der Treibstoffpreise. Dies hat Auswirkungen auf die gesamte wirtschaftliche Aktivität. Die Strom- und Wassertarife werden ebenfalls erhöht. Viele Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen sind dazu übergegangen, Gebühren für ihre Leit#stungen zu erheben, die ein Großteil der Bevölkerung nicht bezahlen kann. Zahlreiche Einrichtungen sind bereits privatisiert worden.
7000 Arbeiter werden bis Dezember entlassen – In einigen Regionen sind bereits 90 Prozent der Menschen ohne Arbeit
Mitten im wirtschaftlichen Chaos – die Arbeitslosigkeit erreicht in einigen Regionen im Westen bis zu 70 Prozent und bis zu 90 Prozent an der Karibikküste – hat es bemerkenswerte Schritte für eine politische Stabilisierung gegeben. Dazu zählt die Verabschiedung des Militärgesetzbuches durch die Nationalversammlung und die anschließende Zustimmung der Präsidentin Violeta Chamorro am 2. September. Es handelt sich um einen historischen Schritt. Zum ersten Mal gilt ein Gesetz für die Streitkräfte, das von verschiedenen politischen Kräften mit unterschiedlichen Ideologien diskutiert und im Konsens verabschiedet wurde. Das Gesetz bekräftigt den verfassungsmäßigen Charakter der Sandinistischen Volksarmee (EPS), das aus den Guerillakräften der Nationalen Sandinistischen Befreiungsfront (FSLN) hervorgegangen ist. Für den Kommandierenden der Streitkräfte wird eine fünfjährige Amtszeit festgelegt. Die Nominierung erfolgt durch das Staatsoberhaupt der Republik auf Vorschlag einer Militärrates, dem die ranghöchsten Militärs angehören. Der Chef des EPS darf weder mit PräsidentIn noch VizepräsidentIn verwandt sein.
Weitere vom Parlament verabschiedete Gesetze bannten größere Gefahren der sozialen Destabilisierung. Die Räumung der Bewohner*innen von Häusern und Grundstücken, die während der letzten Monate der sandinistischen Regierung übergeben wurden, sind eingestellt. Die Entschädigungsgutscheine für die ehemaligen Eigentümer*innen, denen das während der sandinistischen Revolution beschlagnahmte Vermögen nicht zurückgegeben werden kann, werden neu bewertet. Das nicaraguanische Parlament hat auf diese Weise ein eigenes Profil als von der Regierung unabhängige Staatsmacht entwickelt. Zur politischen Stabilität des Landes hat es beträchtlich beigetragen. Jetzt besteht die größte Herausforderung in der Reform der von der Revolutionsregierung 1987 verabschiedeten Verfassung.
Die Reformen sollen den Verfassungsrahmen an die neue historische Etappe des Landes anpassen. Unter anderem sind ein Wiederwahlverbot für das Präsidentenamt und ein absolutes Enteignungsverbot vorgesehen. Die Wehrpflicht und jegliche Zwangsrekrutierung sollen abgeschafft werden. Außerdem steht die Gründung neuer Staatsinstanzen, zum Beispiel ein Menschenrechtsbüro, ein Verfassungsgericht und ein Verwaltungsgericht, auf dem Programm.
ECUADOR
Religionsunterricht wieder eingefuehrt
– Von Alexandra Lara
(Quito, 29. September 1994, alai-POONAL).- Zwischen Korruptionsskandalen und Parteistreitigkeiten wurde am 22. September vom Nationalkongreß der Gesetzentwurf zur „Unterrichtsfreiheit der ecuadoreanischen Familie“ gebilligt. Dieses Projekt, von der Bischofskonferenz Ecuadors vorgestellt, sieht unter anderem vor, daß „nach Entscheidung der Eltern wöchentlich zwei Unterrichtsstunden in Religion und Moral in allen staatlichen, städtischen, öffentlichen und privaten Unterrichtszentren“ gegeben werden sollen.
Obwohl der erwähnte Entwurf noch keine Rechtsgültigkeit hat – denn bislang fehlt die Zustimmung der Regierung – waren die Reaktionen der Gegner*innen dieses Projektes unerwartet heftig. So trat die Erziehungs- und Kulturminisrin Rosalía Arteaga ausdrücklich deswegen zurück, weil sie mit dem Gesetzesprojekt nicht einverstanden ist. Die „Nationale Vereinigung der Lehrer*innen“ erklärte, das Gesetz sei verfassungswidrig und verstoße gegen die Rechte der Schüler*innen. Widerspruch gab es auch von zahlreichen sozialen Institutionen und Guppen der Gesellschaft. Selbst verschiedene religiöse Gruppierungen sprachen sich dagegen aus.
Ein unüberlegtes Gesetz
Die nicht-katholischen Gruppen befürchten, der Gesetzesentwurf werde starke religiöse Auseinandersetzungen nach sich ziehen. Sie fragen sich, was mit jenen Bürger*innen passiert, die eine andere als die katholische Religion gewählt haben. Der Bischof der anglikanischen Bischofskirche von Ecuador, Neptalí Larrea Moreno, kritisierte „die Einflußnahme bei dem Abstimmungsprozeß für das Gesetz“. Er argumentierte, es habe überhaupt keine ökumenische Öffnung gegeben, „nicht einmal eine politische, um dieses Gesetz auf allen Ebenen zu diskutieren. Das hat schwere Folgen für das Land“. Weiterhin betonte er, es stünden „die Rechte der Kinder und Jugendlichen auf dem Spiel, wenn den Eltern die Entscheidung überlassen wird, ob ihre Kinder Religionsunterricht wählen sollen oder nicht“. Außerdem sei die ecuadoreanische Gesellschaft nicht zu ihrer Meinung zum Gesetz befragt.
Ein anderer Punkt der Kontroverse betrifft das Thema Moral. Hierzu erläutert Bischof Larrea, daß „Religion kein Synonym für Moral ist“. Er gab zu bedenken, „daß die großen Intellektuellen, die ihre akademische Ausbildung seit Generationen an den Universitäten und in den römisch-katholischen Kollegien des Landes erhalten haben, höchst zweifelhaft und unmoralisch agieren können, wenn sie eine Funktion im Staat ausüben …“ Der anglikanische Bischof ist besorgt darüber, daß die Politiker wie früher sowohl Teil der römisch-katholischen als auch der politischen Machtstruktur sein könnten. „Dies wäre kein Problem der religiösen Erziehung mehr, sondern eines Machtergreifungsplanes durch die Indoktrinierung“. Ebenso besorgniserregend sei die Tatsache, daß nach dem Inkrafttreten des Gesetzes die katholischen Bischöfe mit der Ausführung des Religions- und Moralunterrichtes beauftragt seien. Die Lehrer*innen müssen zwar die Zustimmung des Erziehungsministeriums haben, gleichzeitig jedoch stellen die zuständigen religiösen Autoritäten eine Lehrbefugnis aus, die der Staat nicht widerrufen kann. In diesem Sinne wurden die Artikel 2 und 3 des Entwurfes verfaßt.
Eine kontinentale Strategie
Der ecuadoreanische Fall ist nicht der einzige in Lateinamerika. Ähnliche Tendenzen zeichnen sich in Bolivien, Mexiko, Venezuela, Argentinien und Nicaragua ab. Der lateinamerikanische Kirchenrat (CLAI) sieht eine kontinentweite Strategie, die auf der IV. bischöflichen Generalkonferenz Lateinamerikas (CELAM) im Oktober 1992 in Santo Domingo verabschiedet wurde. Die katholischen Prälaten beschwerten sich damals, in einigen Ländern des Kontinentes verstehe man nicht, „daß die katholische Erziehung ein unveräußerliches Recht der katholischen Eltern und Kinder ist“. Sie würden nicht die nötigen Mittel dafür erhalten oder diese Art der Erziehung werden einfach verboten.
Der Präsident der CLAI, der argentinische Methodistenbischof Federico Pagura, glaubt, die Wiedereinführung des Religionsunterrichtes sei „ein Schritt zurück“, denn „in der Kolonialepoche dominierte die römisch-katholische Kirche absolut die kulturelle Lebenserziehung unserer Völker… Erst nach vielen Jahren des Kampfes wurden Katholiken, andere Gläubige oder Nichtgläubige in der Ausübung ihrer Überzeugungen geachtet.“
Nach Paguras Urteil geht es bei der ganzen Sache um „bestimmte Machtspielräume, die auf dem Spiel stehen“. In erster Linie sei das außerordentliche Wachstum der hauptsächlich aus den USA und einigen anderen Ländern kommenden religiösen Sekten der Grund. Dies stelle nicht nur die katholische Kirche sondern auch andere gesellschaftliche Gruppen vor große Fragen. Zweitens gäbe es den moralischen Niedergang, der im gesellschaftlichen Leben zu beobachten sei. „Unsere Völker, unsere Gesellschaften sind in der Krise“, sagt Pagura. „Aber viele von denen, die unsere Gesellschaften leiten, sind sogar in religiösen Einrichtungen ausgebildet worden. Es ist uns nicht garantiert, daß jener Religionsunterricht alten Typs die zukünftige Situation im Land ändern wird. Er beruht auf einer Methode, aus der wir bislang keinen großen Nutzen gezogen haben.“
COSTA RICA
Gewerkschaft klopft an die Tür des Solidarismo
– Von ASEPROLA
(San José, 29. September 1994, alai-POONAL).- Vor einigen Jahren schrieben wir einen Artikel für die venezolanische Zeitschrift „Nueva Sociedad“ (Neue Gesellschaft). Er hatte den Titel „Der Solidarismo: die Gewerkschaft wird vom Unternehmen besucht“. Damit stellten wir den Arbeitgebereinfluß im costaricensischen Organisationsmodell des Solidarismo heraus. Heute können wir ein Ereignis präsentieren, das auf das Gegenteil hinweist: die Existenz einer Gewerkschaftsorganisation mitten im Herz des Solidarismo, im Dachverband „Union Solidarista“, bekannt als „Vereinigung Solidaristische Costaricensische Bewegung“. Ein großes Paradoxon. Die Arbeiter*innen des Dachverbandes entschlossen sich nach der Entlassung ihres Geschäftsführers Rodrigo Jiménez und weiterer Kolleg*innen und angesichts ihrer Ohnmacht, eine Gewerkschaft zu gründen.
Es war einer dieser Zufälle der Geschichte, daß gerade die jüngsten Reformen des Gesetzes 7360 die Gründung einer „solidaristischen Gewerkschaft“ ermöglichen. Die Reform war eine schwere Geburt und wurde gegen die Anhänger*innen des Solidarismo durchgesetzt. Diejenigen, die vorher eine ständige Anti- Gewerkschaftsbotschaft in ihren Ausbildungskursen und politischen Erklärungen ausposaunten, benutzen jetzt das Mittel der gewerkschaftlichen Organisierung, um die Rechte zu verteidigen, die ihnen der Solidarismo als Arbeiter*innen verweigert.
Ironie des Lebens: die Dialektik setzt sich durch
Dabei handelt es sich um kein trojanisches Pferd, das dem Solidarismo untergejubelt wurde. Wir haben es mit keiner geplanten Gewerkschaftsstrategie zu tun, die die Arbeiter*innen mit Gewerkschaftsgesinnung zusammenbringt, um unter optimalen Bedingungen die Gewerkschaft als Alternative vorzuschlagen. Es handelt sich einfach um den Widerspruch von Kapital und Arbeit. Dieser Widerspruch wird in der Botschaft des Solidarismo von der Harmonie zwischen ArbeiterIn und PatronIn verleugnet oder beschönigt. Die Konfrontation mit der Realität der Arbeiter- Patron-Beziehung läßt diese frohe Botschaft jetzt wie eine Seifenblase platzen.
Wenn man den Diskurs über die Produktqualität, die Produktionserhöhung und die Unternehmenseffizienz im Solidarismo als praktische These und Erziehungsinput begreift, dann sagt er nichts anderes, als daß die Arbeiter*innen bereit sind, ihre Identität und Psyche als Arbeiter*innen zugunsten der Bedürfnisse des Unternehmers aufzugeben. Dies alles, um dafür die unternehmerische Gunst zu erhalten: eine Verbesserung der solidaristischen Programme; das Recht, an den Unternehmen teilzuhaben; die Unterstützung für eigene kleine Geschäfte (des Solidarismo). Doch im Grunde bleibt das Problem gleich. Bei den direkten Abkommen (mit den Unternehmer*innen) im Industrie-, Bananen- und Handelssektor mußten die Solidarismo-Führer*innen große Zugeständnisse machen. Seit kurzem beginnen sie aufzuwachen und zu merken, daß dieser Weg zu nichts führt außer der Tatsache, mit dem Arbeitgeber solidarisch zu sein, ohne daß von diesem wirklich eine Gegenleistung kommt. Die Ergebnisse bezüglich der Miteigentümerschaft, vermehrter Zugeständnisse und vermehrter Rechte für die solidaristischen Arbeiter*innen sind ernüchternd. Die gefügige Haltung im Arbeitsverhältnis zugunsten der Allianz Arbeiter-Patron hat nichts oder wenig gebracht.
Machtkämpfe innerhalb des Solidarismo
Der andere interessante Aspekt der Analyse betrifft die Machtkämpfe innerhalb des Solidarismo. Der plötzliche Abgang von Rodrigo Jiménez ist nur die Spitze des Eisberges. Rodrigo, der gegenüber der Allianz mit dem Unternehmertum immer offen war, vertrat gleichzeitig das Prinzip, die solidaristische Bewegung dürfe weder einen ideologischen Besitzer noch Paten haben. Seine Botschaft war ein stechender Pfeil für die soziale Schule von Johannes XXIII. Genauso wie Alberto Martén verteidigte Rodrigo den nicht-religiösen und nicht-konfessionellen Charakter des Solidarismo. Er leistete standhaft der Vasallenrolle und konfessionellen Gebundenheit Widerstand, die der Priester Claudio Solano vorsieht. Dieser will dem Solidarismo ein katholisches Etikett aufdrücken. Solano versucht, seine falsche Verbindung von Kirche und solidaristischer Philosophie und Praxis zu verteidigen. Gegenüber der katholischen Hierachie preist er den Solidarismo als Evangelisierungstriumph an. Vor diesem Hintergrund kann die Hypothese nicht falsch sein, daß eine Annäherung zwischen dem nicht-religiösen Solidarismo und dem religiösen Solidarismo der sozialen Schule den Fall von Jímenez als Geschäftsfuhrer des Dachverbandes erforderte. Er war zum Haupthindernis einer möglichen Annäherung geworden. Die Informationen, die seinen Sturz einem Plan der Kirchenschule zuschreiben, sind daher mehr als glaubhaft.
GUATEMALA
Erste Verhandlungsrunde ohne Ergebnis
(Valle de Bravo, Mexico, 24. Oktober 1994, cerigua-POONAL).- Regierung, Armee und die Revolutionäre Nationale Einheit Guatemalas (URNG) haben die am 21. Oktober begonnen Verhandlungen über das Thema „Rechte und Identität der Indígena-Völker“ bis zum 4. November unterbrochen. In der Zwischenzeit sollen die von beiden Seiten gemachten Vorschläge analysiert werden. Die UNO wird über ihren Vermittler Jean Arnault den Verhandlungsparteien ein Arbeitspapier präsentieren, das Gemeinsamkeiten und Meinungsverschiedenheiten auflistet.
Guerillakommandant Gaspar Ilom bezeichnete die Pause als wichtig, da so die einzelnen Aspekte des Thema gründlich geprüft werden könnten. Er sagte, die URNG sei über den bisherigen Verlauf zufrieden und hoffe, die Dynamik werde fortgeführt. Für die Regierungsdelegation sprach deren Leiter Héctor Rosada von einem „höchst produktiven“ Treffen. Gleichzeitig traten in Äußerungen gegenüber der Presse unterschiedliche Auffassungen zu verschiedenen Punkten hervor. So wies Ilom Absichten der Regierung zurück, permanent zu verhandeln oder den Verhandlungskalender zu ändern, um das Thema „Waffenstillstand“ vorzuziehen. Der Guerillaführer verwies auf das früher ausgehandelte Rahmenabkommen, dessen Ordnung eingehalten werden solle. Ständige Verhandlungen lehnte er mit dem Hinweis ab, es müsse Zeit für Beratungen geben.
Zu den Schwierigkeiten beim aktuellen Verhandlungsthema gehören offensichtlich Verfassungsfragen. Guatemaltekische Regierung und Streitkräfte meinen, die Ergebnisse eines Abkommens könnten ohne Verfassungsänderungen gültig sein. Dagegen ist die URNG derselben Meinung wie die Versammlung der Zivilen Gesellschaftsgruppen (ASC) und verlangt substantielle Änderungen in der Verfassung bezüglich der Indígena-Bevölkerung. In ersten Reaktionen kritisierten Vertreter*innen von Maya-Organisationen, daß Guerilla und Regierung ein Abkommen auf die nächste Runde verschoben hätten. In diesem Sinn äußerten sich sowohl Rigoberto Dueñas vom Nationalrat der BäuerInnenorganisation (CNOC) als auch María del Rosario Toj vom Komitee für BäuerInneneinheit (CUC). Toj fügte jedoch hinzu, angesichts fehlender Bedingungen wäre es nicht das Beste gewesen, ein Abkommen ohne die „notwendige Tiefe“ zu unterzeichnen. Maria Morales von der Organisation Majawil Qij forderte die Parteien auf, die Verhandlungen zügiger voranzubringen.
Flughafen und Grenzposten werden bestreikt
(Guatemala, 27. Oktober 1994, NG-POONAL).- Die Arbeiter*innen der guatemaltekischen Migrationsbehörde bestreiken vom 1. November an den internationalen Flughafen La Aurora und acht Grenzposten. Die Regierung schuldet den Arbeiter*innen die Bezahlung der in den letzten anderthalb Jahren geleisteten Überstunden. Der Streik an den Grenzen betrifft je vier Übergänge mit El Salvador und Honduras.
Attentat auf Gewerkschaftsführer
(Guatemala, 26. Oktober 1994, cerigua-POONAL).- Manuel Alonso, Vorsitzender der Allgemeinen ArbeiterInnenzentrale Guatemalas (CGTG) in der Hafenstadt Puerto Barrios erlitt bei einem Attentat mehrere Schußwunden, überlebte nach ersten Angaben jedoch. Mehrere Männer schossen aus einem fahrenden Auto heraus auf Alonso, als dieser sich zu seiner Wohnung begeben wollte. Die Nationalpolizei nahm die Untersuchungen auf.
Gegen Zwangsrekritierung
– Interview mit Rosalina Tuyuc
(Guatemala-Stadt, September 1994, alai-POONAL).- Die Nationale Koordination der Witwen Guatemalas (CONAVIGUA) hat immer wieder gegen die Zwangsrekrutrierung der jungen Männer durch das Militär protestiert. Sie setzt sich für einen freiwilligen Militärdienst ein, zu dem es als Alternative den sozialen Dienst gibt. Aus diesem Grund behaupten die Streitkräfte, CONAVIGUA und besonders ihre Vorsitzende Rosalina Tuyuc unterstützten die Guerilla. Osvaldo León sprach mit Tuyuc, kurz nachdem diese von der französischen Regierung für ihre Menschenrechtsarbeit mit einem Preis der Ehrenlegion ausgezeichnet wurde.
Es heißt, in Guatemala sei es sehr gefährlich, sich in die Angelegenheiten der Militärs einzumischen. Was veranlaßt CONAVIGUA, mit dem Feuer zu spielen und die Abschaffung der Zwangsrekrutierung vorzuschlagen?
Es sind die Ungerechtigkeiten und Mißbräuche, die sich mit der militaristischen Kultur eingebürgert haben, die in unserer Gesellschaft existiert. Seit ihrer Gründung haben die Streitkräfte die Jugendlichen, insbesondere die jungen Mayas zum Militärdienst gezwungen. Mit Gewalt sind sie von ihren Arbeiten weggerissen worden, von ihren Familien. Unser Kampf gilt dieser diskriminierenden Praxis. Der wesentliche Inhalt des Gesetzesentwurfes besteht in der Einführung des freiwilligen Wehrdienstes. Der soziale Zivildienst und das Recht auf Kriegsdienstverweigerung sollen anerkannt werden, genauso wie die Bezahlung aller jugen Männer, die diesen Dienst ableisten. Das Militär prägt vielen unserer Jugendlichen ein, der Militärdienst sei ein Dienst fürs Vaterland. Wir empfinden das als eine Form des Betrugs und darum machen wir diese Kampagne seit Februar vergangenen Jahres.
Wie reagieren die anderen Gesellschaftsteile auf diese Forderung CONAVIGUAS?
Wir haben eine große Zustimmung erfahren. Bei dem ersten Aufruf für diesen Kampf nahmen ungefähr 40.000 bis 45.000 Menschen an einem Protestmarsch teil. Beim zweiten Mal, dem Internationalen Tag der Kriegsdienstverweigerung, waren es fast genauso viel. Daran sehen wir, daß wir nicht alleine stehen. Es gibt die Unterstützung anderer Frauen- und Volksorganisationen, einschließlich des Büros des Menschenrechtsbeauftragten, der San Carlos Universität, des erzbischöflichen Menschenrechtsbüros. Sie haben uns bei der Ausarbeitung der juristischen Formulierungen dieses Gesetzentwurfes geholfen. Es ist gemeinsame Arbeit – von vielen Frauen, von vielen Organisationen. Auch die Versammlung der Zivilen Gesellschaftsgruppen (ASC) entschloß sich, das Recht auf Kriegsdienstverweigerung in Guatemala zu unterstützen. Allerdings ist hier sehr wenig über das Thema bekannt. Aber wir haben Dokumente herausgegeben, in denen wir über unsere Opposition gegen den Militärdienst sprechen, den sozialen Dienst erklären, die Kriegsdienstverweigerung und ihre Gründe. Einige, die sich öffentlich äußerten, haben dies gemacht, weil sie eine Verpflichtung gegenüber unserem Volk spüren. Andere unterstützen uns im Stillen, um den Verfolgungen oder Bedrohungen zu entgehen.
Das ist der Preis, den Sie alle für die Verteidigung dieser Sache zahlen?
Ja, der Kampf ist nicht einfach gewesen. Als wir im Februar letzten Jahres begannen, begannen schon einen Monat später die Anschuldigungen der Streitkräfte gegen CONAVIGUA und besonders gegen meine Person. Wir sollten Guerilleras sein. Der Fortschritt unserer Sache sollte gestoppt werden. Es gab viele Drohungen gegen Kolleginnen auf dem Land und in der Stadt. Wir wußten jedoch, daß dies passieren würde, denn bis dahin hatte es noch keinen so starken Kampf gegen die Rekrutierung gegeben. Zum ersten Mal in der Geschichte akzeptiert der Verteidigungsminister, daß es in diesem Land bei der Militärrekrutierung der jungen Männer Gewalt gegeben hat. Einer der Erfolge ist, daß sie jetzt sagen, bis zu einem neuen Gesetz die (Zwangs-)Rekrutierung einstellen zu wollen. Das bedeutet nicht, daß sie es wirklich lassen, aber zumindest haben sie das öffentlich versprochen. Ich glaube, dies ist etwas Positives.
Was war die Reaktion der Jugendlichen, der Betroffenen?
Sehr positiv. Es wird ein großes Interesse daran deutlich, wie der Kriegsdienst verweigert werden kann. In vielen Gemeinden wird sogar vom Recht auf friedlichen Widerstand Gebrauch gemacht. Dort sehen wir eine Antwort der jungen Männer und der Familien. Das ist ganz wichtig. Fast jeden Monat führen wir örtliche, regionale und landesweite Treffen mit den Jugendlichen durch. Diese haben viele Schläge erlitten. Vor allem gibt es eine sehr große psychologische Angst, denn sie sahen, wie sie (die Soldaten) ihre Eltern ermordeten, ihre Schwestern und Mütter vergewaltigten. Andererseits hat ihnen diese Situation zu verstehen geholfen, daß es nicht nötig ist, dem Vaterland mit den Waffen zu dienen, sondern durch die Schaffung der Kultur, der Bildung, der Identität, der alternativen Entwicklung für unsere Völker. Bereits die Jüngeren, die 13 oder 14 Jahre alt sind, reagieren so.
Poonal Nr. 167 von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
Schreibe einen Kommentar