Poonal Nr. 107

Deutsche Ausgabe des wöchentlichen Pressedienstes lateinamerikanischer Agenturen Nr. 107 vom 23.08.1993

Inhalt


HAITI

GUATEMALA

KOLUMBIEN

VENEZUELA

ARGENTINIEN


HAITI

Robert Malval soll Miniterpräsident werden

(Puerto Principe, 19. August, HIB-POONAL).- Nachdem mehrere haitianische Senator*innen sich am 14. August mit dem Präsidenten in Washington getroffen haben, gilt die Ratifizierung von Robert Malval zum Ministerpräsidenten Haitis als gesichert. Der Senat bestätigte am 18. August die Ernennung Malvals, und die Abstimmung im Parlament ist für anfang dieser Woche vorgesehen. Die Ernennung von Malval wird zur Aussetzung des von der UNO verhängten Erdölembargos und der anderen durch die USA und die OAS (Organisation Amerikanischer Staaten) eingeleiteten Sanktionen führen.

Parallel zu diesem Vorgang nimmt die Repression gegen viele Führer*innen der demokratischen und Volksorganisationen sowie gegen die Zivilbevölkerung an Häufigkeit und Intensität zu. Viele in der Demokratie- und Basisbewegung fürchten, daß, wenn das Embargo erst einmal aufgehoben ist, die antidemokratischen Kräfte in Haiti keinen Anlaß mehr haben, das Programm der „Vereinbarung von Goveners Island“ fortzuführen, dessen 9. von 10 Etappen die Rückkehr von Präsident Jean Bertrand Aristide vorsieht.

Senat endlich „normalisiert“

Die Vereinbarung über die vorgesehenen Abstimmungen sind vorige Woche getroffen worden, nachdem mehrere Wochen lang die Senator*innen, die den Staatsstreich unterstützten, auf eine Verzögerungstaktik gesetzt hatten. In dieser Zeit beschuldigten sie die FNCD (Nationale Front für Wechsel und Demokratie), die die Kandidatur von Aristide unterstützt, in Entführungen und Terrorismus verwicklet zu sein.

Am 10. August sind die FNCD und die den Staatsstreich befürwortenden Senator*innen gezwungen worden, als „Kompromiß“ ein Exekutivkomitee zu akzeptieren, das von Leandro Despouy, dem Berater des UNO/OAS-Beauftragten, vorgeschlagen worden war. Der Wille des Senats, die Demokratie zu befürworten, ist aber in Frage gestellt, da das neue Komitee von Pro- Staatsstreich-Senator*innen dominiert wird. Außerdem haben mehrere Senator*innen erklärt, sie würden an zukünftigen Sitzungen nicht teilnehmen, und täglich greifen sie den Präsidenten und die ausländische Einmischung in die haitianische Krise verbal und in der staatlichen Presse an.

Ein weiteres Problem ist, daß bisher weder der Senat noch das Abgeordnetenhaus über die Zukunft der 13 Parlamentarier*innen (alle Staatsstreichbefürworter*innen) entschieden haben, die darauf bestehen, in einem illegalen Wahlprozeß vergangenen Januar „gewählt“ worden zu sein.

GUATEMALA

Die ersten 60 Tage von Ramiro de Leon

– Von Ileana Alamilla

(Guatemala, 12. August 1993, Cerigua-Poonal).- Die neue Regierung unter Ramiro de León, dem ehemaligen Menschenrechtsprokurator, hat ihre Flitterwochen mit den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Sektoren Guatemalas nach weniger als 60 Tagen beendet.

De León wurde am 6. Juni zum Präsidenten Guatemalas gewählt, um einen Ausweg der durch den Staatsstreich vom 25. Mai provozierten Krise zu finden. Die sich um den UnternehmerInnenverband CACIF scharenden Kräfte entschieden jedoch schon seit dem 4. Juni, daß de León lediglich ein Übergangspräsident sein solle. Das heißt: Sie betrachten die neue Regierung als notwendig, um die politische Krise zu überwinden; sie sehen in dem von de León geführten Kabinett jedoch keine verläßliche Vertretung ihrer Interessen gesichert. De León beugte sich rasch dem Druck und ließ das Versprechen, dem Kampf gegen die Armut Priorität einzuräumen, sofort nach dem Amtsantritt fallen. Sein „Friedensvorschlag“, der von der UnternehmerInnenspitze zurückgewiesen wurde, verschwand ebenfalls von der Tagesordnung. Auch der Rest der zivilen Gesellschaft und der guatemaltekischen Politiker, einschließlich der Revolutionären Nationalen Einheit Guatemalas (URNG), zogen den Vorschlag in Zweifel.

Zwei Elemente sind in der gegenwärtigen Situation entscheidend: Die Wirtschaftspolitik und die Rolle der Streitkräfte. Im ersten Fall mußte der Präsident dieselben Kräfte in den Staatsstrukturen belassen, die die guatemaltekische Wirtschaft in den letzten zwei Jahren geleitet haben. Deren politischer Kopf ist der Finanzminister Richard Aitkenhead mit seinem Programm der „Stabilität ohne Wachstum“.

Förderung der Privatinvestitionen, Einfieren der Löhne

Der Präsident stellte in seinem Programm für die ersten 180 Tage Prioritäten in folgender Reihenfolge auf, um die Leitlinien des Internationalen Währungsfonds zu befolgen: Aufrechterhaltung und Konsolidierung der makroökonomischen Basis, Integration in die Weltwirtschaft, Förderung der Privatinvestitionen, Sanierung der öffentlichen Finanzen und Einfrieren der Löhne.

Der Regierungschef forderte die Arbeiter auf, die Produktivität und die Arbeitsdisziplin „zum Wohle der Beschäftigungssituation“ zu erhöhen. Er bat die guatemaltekische Bevölkerung, daß sie zur wirtschaftlichen Stabilität beitrage, indem sie „eine Haltung der Strenge und eine Rationalisierung beim Gebrauch von stark reduzierten persönlichen und familiären Mitteln verwirklicht“. Dieses Wirtschaftsprogramm knüpft nahtlos an die Strategie an, die 85 Prozent der Bevölkerung in den letzten zehn Jahren in die Armut geführt hat.

Der Präsident bewertet die ersten beiden Monate seiner Amtszeit ausgesprochen positiv. Als „historische Tatsache“ bezeichnete er die Sperrung der vertraulichen Ausgaben der Regierung (ein Fonds von jährlich 20 Millionen Dollar, der die Korruption innerhalb der Staatsbürokratie aufblühen ließ) und den Bau von 27 Straßen, die während der Regierung Jorge Serrano mit Unterstützung der USA angefangen wurden.

Die Medien sehen die Arbeit des Regierungschefs wesentlich kritischer. Sie stellen sowohl die ökonomische Strategie und die Bemühungen um die Menschenrechte, wie auch die Suche des Präsidenten nach einem politischen Ausweg aus dem bewaffneten Konflikt in Frage. Als Antwort auf die Presseschelte wurden wenigstens fünf Anschläge gegen Medien registriert. Sie reichen von Mord bis zu subtilen Mitteln der Bestechung, um kritische Medien wirtschaftlich in den Ruin zu treiben. Der Fall von Jorge Carpio, Direktor der Morgenzeitung „El Gráfico“ und Vetter des Regierungschefs gibt Aufschluß über die Unfähigkeit der Regierung, eines der zentralen Probleme des Landes zu lösen: Die Straflosigkeit bei Verletzungen der Menschenrechte.

Im Durchschnitt vier Tote pro Tag

De León akzeptierte die Version der Militärs, daß der Mord an dem Journalisten und Politiker ein Produkt der „gewöhnlichen Kriminalität“ sei. Hatte er anfangs noch energisch die Aufklärung des Verbrechens und die Bestrafung der Täter verlangt, so wandelte sich seine Haltung wenige Tage später in eine stille Komplizenschaft mit den Streitkräften, während die Familie des Opfers die offizielle Erklärung total zurückwies. Zu einem vollständigen Desaster wird die Bilanz der ersten beiden Regierungsmonate ausgerechnet auf dem früheren Arbeitsgebiet des ehemaligen Menschenrechtsbeauftragten: Durchschnittlich mehr als vier Menschen starben, seitdem de León in den Präsidentenpalast einzog.

Für die guatemaltekischen Politiker war der Mord an Carpio eine Botschaft, die die Grenzen des Regierungschefs aufzeigte. Die Position des Präsidenten ist vor dem Hintergrund eines instabilen Gleichgewichts der zwei vorherrschenden Tendenzen innerhalb der Streitkräfte zu sehen. Die eine befürwortet die Theorie der „Nationalen Stabilität“, präsentiert durch den Verteidigungsminister General Mario Enríquez. Die andere Tendenz ist die „Doktrin der Nationalen Sicherheit“ in ihrem traditionellen Sinn, die von Heereschef General José Quilo verfochten wird.

Der Friedensvorschlag von Präsident De León, der von den mächtigsten Gruppen entschieden abgelehnt wurde, belegen ebenfalls die schwache Position des Staatschefs. Offensichtlich sahen die dominanten Sektoren in dem Regierungsplan allein den Versuch, Zeit zu gewinnen. Er präsentierte aber nicht die von ihnen bevorzugte Lösung: die Niederlage der Guerilla.

Die Aufständischen gaben ihre Antwort: Sie forderten ein Annäherungstreffen, um die Form der Verhandlungen unter der Leitung von Monseñor Rodolfo Quezada zu definieren. Damit drückte die URNG aus, daß der Friede möglich sei, wenn die Verhandlungen als politischer Weg gesehen wird, eine Lösung für die Ursachen des Krieges zu finden. Der Regierungsplan zielt jedoch lediglich darauf ab, eine Feuerpause zu vereinbaren. Er ignoriert die bisher im Verhandlungsprozeß erreichten Übereinkünfte und konzentriert seine Aufmerksamkeit auf die Kapitulation der Aufstandskräfte.

De León kehrt zu seinen rechtsextremen Wurzeln zurück

In politischen Kreisen und der Presse herrscht die Einschätzung vor, daß die Regierung unfähig ist zu regieren. Vor allem, weil sie sich mit einem Kreis von Beratern und Helfern umgeben hat, die mit den rückschrittlichsten Kräften in der guatemaltekischen Politik verbunden sind. Einer ihrer Berater, Eduardo Taracena de la Cerda, gehörte zu den Initiatoren, die die demokratische Regierung von Jacobo Arbenz 1954 stürzten. Seine Privatsekretärin, Carolina Midence, ist Nichte des Chefs der Konterrevolution und Initiators der Todesschwadronen in Guatemala: Mario Sandoval Alarcón.

So scheint es, daß Ramiro de León in der Stunde, in der er die Präsidentschaft antrat, entschied, zu seinen politischen Wurzeln zurückzukehren: Zu Beginn der 70er Jahre war der heutige Präsident Guatemalas Mitglied der rechtsextremen Bewegung der Nationalen Befreiung, die Sandoval Alarcón anführte.

Die Zivilpatrouillen: Hauptquelle des Terrors

(Guatemala, August 1993, NG-Poonal).- Die paramilitärischen Patrouillen der zivilen Selbstverteidigung (PAC) spielen eine tragische Rolle in der guatemaltekischen Geschichte. Seit ihrer Gründung durch die Putschregierung von General Efraín Ríos Montt (1982-1983) dienen sie der Unterdrückung der Landbevölkerung – in ihrer Mehrheit Indígenas.

Das jüngste Beispiel sind die Vorkommnisse in der Provinz Huehuetenango am 3. August. 4.000 Menschen der Gemeinde El Naranjal im Bezirk Colotenango protestierten – trotz des heftigen Terrors, den die Zivilpatrouillen und die Armee in dieser Region ausüben – friedlich für die Auflösung der paramilitärischen Milizen. Die PAC schossen auf die Demonstranten, drei Menschen starben und eine nicht genau bezeichnete Anzahl von Personen wurde verletzt. Dennoch zeigten die Bewohner der Gemeinde, daß sie müde sind vom Mißbrauch der Macht durch diese von der Armee kontrollierten Gruppen.

Geschützt durch die Straflosigkeit, die das Militär ihnen garantiert, haben die PAC oder die freiwilligen Komitees zur Selbstverteidigung (CVAC), wie die Regierung sie nennt, in den 10 Jahren ihres Bestehens jeden sich ihnen widersetzenden Menschen bedroht, erpreßt und ermordet.

Es verwundert daher nicht, daß die Menschenrechtsorganisationen des Landes sich für ihre sofortige Auflösung aussprechen. Die Bewohner der ländlichen Gemeinden werden mit Gewalt in die Zivilpatrouillen gezwungen. Diese werden von Ex-Soldaten, Militärbeauftragten oder Zivilisten, die in blutige Aktionen verwickelt sind, geführt.

Daher hat auch der Experte der Vereinten Nationen, Christian Tomuschat, eindeutig für die Abschaffung dieser paramilitärischen Organisation plädiert. Er sieht sie als „eine Hauptquelle der Menschenrechtsverletzungen“ an.

Der Präsident Ramiro de León Carpio hat in seinen Zeiten als Menschenrechtsprokurator mit aller Klarheit die Ausschreitungen der Patrouillen kritisiert. Er hat nun die Gelegenheit, der Welt zu zeigen, daß die häufig beschworene Suche nach Frieden nicht nur Rhetorik ist – indem er ihre baldige Abschaffung befiehlt.

KOLUMBIEN

Legalisierung des Ausnahmezustands?

(Bogotá, 17. August 1993, AC-POONAL).- Die kolumbianische Regierung hat den Ausnahmezustand, der 270 Tage in Kraft war, aufgehoben. Die repressiven Regelungen werden noch bis Oktober gültig sein. Gleichzeitig prüft die Regierung die Möglichkeit, einige Dekrete, die im Rahmen des Ausnahmezustands verabschiedet wurden, dem Parlament zur Verabschiedung vorzulegen und ihnen somit Gesetzeskraft zu verleihen.

Die Regierung hat ein Paket von 100 Gesetzentwürfen geschnürt, in das 24 der 30 seit November 1992 erlassenen Dekrete aufgenommen wurden. Die Entwürfe beziehen sich auf die Bekämpfung subversiver und terroristischer Akte, die Behandlung von Opfern terroristischer Attentate und die Verfügungsrechte über unbewohnte Gebiete. Zudem schränken sie die Massenmedien und die Meinungsfreiheit ein. Die Entwürfe sollen den Handlungsspielraum des Staates in „normalen Zeiten“ stärken, damit nur noch in „tatsächlich extremen Situationen“ der Ausnahmezustand ausgerufen werden muß. Menschenrechtsgruppen haben allerdings darauf hingewiesen, daß mit dem Gesetzespaket der Ausnahmezustand zur dauerhaften Einrichtung werde; die Regierung schaffe unter dem Vorwand, die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten, einen autoritären und undemokratischen Staat.

Menschenrechtsverletzungen

(Bogotá, 17. August 1993, AC-POONAL).- Das Regionale Komitee zur Verteidigung der Menschenrechte (CREDHOS) hat das Armeebataillon Nueva Granada für Folterungen und Gewalttaten im Juni in Magdalena Medio und der Gemeinde Barrancabermeja verantwortlich gemacht.

Am Morgen des 3. Juni drangen Soldaten gewaltsam in das Haus von Marlen Varón Espinosa in Barracabermeja ein, in dem auch ihre beiden Kinder und eine Freundin schliefen. Die Uniformierten folterten Marlen Varón und befragten sie über den Aufenthaltsort von GuerilleroAs. Die junge Frau starb wenige Stunden später an den Folgen der Folter.

In der Ortschaft El Centro verhafteten Mitglieder des Bataillon Nueva Granada ebenfalls am 3. Juni die Minderjährigen Uldarico Cala und Jesus Ardila und mißhandelten sie. Sie wollten das Geständnis erpressen, daß die beiden Jungen Informanten der Guerilla seien.

Am 17. Juni nahmen Soldaten auf der Straße von Barrancabermeja nach Bucaramanga Alvaro Romero und Wilson Murillo fest und folterten sie. Anschließend wurden sie zu einer Kaserne des Bataillons Nueva Granada gebracht und der Staatsanwaltschaft wegen illegalen Waffenbesitzes übergeben.

Gewaltsam drangen Soldaten am 24. Juni in das Haus von Miriam Florez in Barrancabermeja ein. Sie verhafteten ihren Sohn Carlos Alberto Olaya und brachten ihn zur Militärstation des Bataillons Nueva Granada. Dort folterten sie ihn, setzten ihn unter Drogen und zwnagen ihn, Nachbar*innen und Bekannte zu belasten. Anschließend uwrde er der Staatsanwaltschaft übergeben.

Polizisten verhafteten in der Gemeinde Yondó den Landarbeiter Marcos Beleno, als er von der Maisernte nach Hause zurückkehrte. Sie beschuldigten ihn, ein Guerillero zu sein. Die Polizisten raubten nach Angaben seiner Frau zudem 500 000 Pesos aus dem Haus.

Spanischer Priester wurde ermordet

(Bogotá, 17. August 1993, AC-POONAL).- Die Leiche des spanischen Priesters Javier Cirujano Arjona ist in der zweiten Juliwoche von Soldaten gefunden worden. Javier Cirujano war am 29. Mai entführt worden und seitdem verschollen. Vieles deutet darauf hin, daß Cirujano, der Pfarrer in der Gemeinde San Jacinto im Departement Bolivár war, von Guerilleros/as des nicht-demobilisierten Teils der Volksbefreiungsarmee (EPL) entführt wurde.

In einer bis heute nicht dementierten Erklärung übernahm die EPL die Verantwortung für die Ermordung des Priesters. Der EPL erklärte, daß Cirujano „hingerichtet“ worden sei, da er eine Person an die Armee verraten habe. Es ist unklar, ob diese Person der vor 8 Jahren ermordete Führer der Bauernbewegung ANUC ist oder ein vor wenigen Wochen verhafteter Aktivist des EPL.

Cirujano hatte seit seiner Ankunft in Kolumbien eine kritische Haltung gegenüber dem bewaffneten Kampf eingenommen und sich stark für die Entwaffnung des EPL eingesetzt. Viele Kommentator*innen sehen in dieser Haltung des Priesters den Grund für seinen Tod. Unklar ist der Tathergang. Einige Informationen deuten darauf hin, daß der Tod von Cirujano durch einen Unfall herbeigeführt wurde, bei dem er einen heftigen Schlag gegen die Schädelbasis erlitt. Der Tod hat offensichtlich zu heftigen Auseinandersetzungen innerhalb des EPL und der Guerillakoordination Simón Bolivár geführt.

VENEZUELA

Präsidentschaftswahlen in Krisenzeiten

Von Julio Fermin

(Venezuela, August 1993, Noticrítica-POONAL).- Am 3. Juli dieses Jahres begann offiziell der venezolanische Wahlkampf für die Präsidentschaftswahlen am 5. Dezember. Insgesamt gibt es 17 Kandidaten, die durch eine Vielzahl von Parteien und Wählergruppen unterstützt werden. Am selben Tag findet gemeinsam die Wahl der Abgeordneten und Senatoren für den Nationalkongreß sowie die der Abgeordneten für die gesetzgebenden Versammlungen (Parlamente) der Provinzen statt.

Dieser Wahlprozeß entwickelt sich jedoch in einem völlig anderen Szenario als die vorangegangenen Wahlen. Damals war die Polarisierung zwischen den sozialdemokratischen Parteien der Acción Democrática (AD) und der sozialchristlichen COPEI vorhersehbar. Diese haben seit 1958 ein Zweiparteiensystem etabliert, das im Kongreß die Mehrheit hatte, und sich in der Präsidentschaft abwechselte.

Das Land durchläuft eine Periode des Wandels. Die historische Entscheidung des Obersten Gerichtshofes vom 20. Mai dieses Jahres, die es ermöglichte, Carlos Andrés Perez vor Gericht zu stellen, ein Verfahren wegen Korruption gegen ihn zu eröffnen und seinen Rücktritt vom Präsidentenamt zu erzwingen, erweckte viele Erwartungen und Hoffnungen in der Bevölkerung auf eine ökonomisch bessere Periode und auf soziale und politische Veränderungen.

Der Wandel fällt nicht leicht. Nachdem der Wirbel um das Gerichtsverfahren, die Abstimmungsphase der Eliten über einen konsensfähigen Nachfolger und die zunehmende Auswechslung der alten Regierungsmannschaft durch andere – zum großen Teil nicht an politische Parteien gebundene – Personen vorbei war, wurde eine Ruhepause erreicht. Es war wie ein Atemholen, das Zeit gab.

Riesiges Haushaltsdefizit

Anschließend sachwanden die Hoffnungen auf wirtschaftspolitische Veränderungen. Die neue Regierung verkündete, den Prozeß der Wirtschaftsreform nicht zu stoppen. Der neue Präsident Ramón J. Velásquez erklärte schnell die Ziele seiner Regierung: Den Übergang zu den nächsten Wahlen zu sichern, die Interessen des Landes miteinander zu versöhnen, um einen sozialen Frieden zu erreichen und Notmaßnahmen anzuwenden, um das massive Haushaltsdefizit von mehr als 400.000 Millionen Bolivar zu bekämpfen.

Viele dieser Maßnahmen waren in den Empfehlungen des nach dem versuchten Staatsstreich vom Februar 1992 geschaffenen Staatsrates enthalten, dem Velásquez selbst vorsaß. Um den ökonomischen Schwierigkeiten entgegenzutreten, schlug die Regierung die Ausführung eines Ermächtigungsgesetzes vor (regieren durch Erlasse, Anm.d.R.), daß Steuergesetze und Finanzreformen enthält, die bereits die Perez-Regierung in den Kongreß eingebracht hatte.

Dieses Gesetz hatten die sozialdemokratische und die sozialchristliche Partei gemeinsam ausgearbeitet, damit die Unpopularität der Maßnahmen keinen Einfluß auf die Wahl nehmen sollte. Zusammengefaßt handelte es sich darum, die Wirtschaftsreform zu vervollständigen, die mit dem Paket der Anpassungsmaßnahmen 1989 angefangen hatte und die die anschließenden sozialen und politischen Krisen entfesselte.

Die Ruhe ist vorbei: Erneut Attentate und Bombenanschläge

Was das politische Klima anbelangt, dauerte die Ruhe der ersten zwei Monate nur kurz, denn schon im Juli gab es mehrere Bombenattentate auf den Sitz des Obersten Gerichtshofes und erfolglose Anschläge auf Richter und den Sitz der Unternehmerorganisation FEDECAMARAS.

Der aktuelle Streitpunkt sind die Korruptionsprozesse; die Untersuchungen werden von den Mitgliedern der Sicherheitspolizei des Staates durchgeführt. Zu diesen gehört auch der Ex-Präsident Jaime Lusinchi, der wegen der Veruntreuung geheimer Regierungsgelder vor Gericht gestellt wird. Im Fall von Perez legen es die Nachforschungen nahe, daß das besagte Geld für die Bekämpfung der salvadorianischen Guerilla und die Beratung der aktuellen Regierung von Nicaragua in Sicherheitsfragen benutzt wurde.

Der 4. Februar 1992, Datum des ersten Putschversuches, änderte in Venezuela die bis dahin bestehenden Machtverhältnisse. Das Bedeutendste war die Entstehung zwei neuer Optionen: Eine personelle und neue Parteien, die jetzt das seit 1958 bestehende Zweiparteiensystem aufzubrechen drohen.

Die Fernsehübertragung der Kongreßdebatte über die Suspendierung der Grundrechte am 5. Februar 1992, dem Tag nach dem Putschversuch, bot ein ideales Szenarium für diese Änderung. Auf der einen Seite hielt Rafael Caldera, Gründer der sozialchristlichen COPEI, eine gegengewichtige Rede. Als gewitzter politischer Veteran nutzte er die Gelegenheit, um Gedanken über die Gründe der Militärbewegung und die Notwendigkeit tiefgreifender Veränderungen in der Wirtschaftspolitik und im politischen System anzuregen.

Auf der anderen Seite war es die Bewegung Causa R, vertreten durch den derzeitigen Bürgermeister von Caracas, Aristóbulo Istúriz, die sich vom Chor der Regierungsredner abhob. Er unterstützte die Argumente Calderas. In den folgenden Monaten war diese Organisation führend bei den Vorschlägen für eine kürzere Amtszeit des Präsidenten durch den Entscheid einer Volksbefragung, für vorgezogene Wahlen und für die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung. Die Früchte dieser Arbeit wurden im Dezember 1992 geerntet – mit der Wiederwahl von Andrés Velásquez in der Provinz Bolívar (eine der größten und reichsten des Landes) und mit dem Triumph bei der Bürgermeisterwahl von Caracas.

Demonstrationen, Streiks, Putschversuche

Von diesem Moment hielten politische Erschütterungen das Land in Atem: landesweite Demonstrationen, der zweite Versuch eines Staatsstreiches im November, die Niederlage der Regierungspartei bei den Governeurs-, Bürgermeister- und Gemeinderatswahlen im Dezember, Streiks usw. Die Regierung verlor mehr und mehr ihre Legitimationsgrundlage und die traditionellen Parteien konnten sich nicht aus der Verantwortung für die Krise stehlen.

Unter den 17 Kandidaten werden in den Umfragen nur vier reelle Chancen eingeräumt: Rafael Caldera (MAS, MEP, PCV und andere), dicht gefolgt von Osvaldo Alvarez Paz (COPEI), an dritter Stelle Andrés Velásquez (Causa R) und bereits abgeschlagen der Kandidat der Regierungspartei Claudio Fermín (Acción Democrática). Für die Chancen der jeweiligen Kandidaten spielte die Krise mit ihren ungewöhnlichen Episoden eine wesentliche Rolle:

Caldera mit der Unterstützung von mehr als 13 Organisationen der Linken, des Zentrums und der Rechten, unter denen die Bewegung für den Sozialismus, die Wahlbewegung des Volkes (MEP) sowie die Kommunistische Partei herausragen; außerdem kann er mit der Unterstützung von fast 30 Prozent der aus der COPEI ausgeschlossenen Führer und der Dissidenten der Acción Democrática rechnen. Caldera, der Ex-Präsident (1969-74) und Parteigründer, hat es meisterhaft verstanden, innerhalb und außerhalb seiner Partei Unterstützung zu finden. Er umging geschickt innerparteiliche Machtkämpfe und wob ein dichtes Netz von Koalitionen. Er begann mit den Unabhängigen, verständigte sich mit den traditionellen Gruppierungen der Linken und zählt zur Zeit auf die Unterstützung der ausgeschlossenen Basis der COPEI und ihrer Führer.

Vier Präsidentschaftskandidaten mit ernsthaften Chancen

Alvarez Paz, wiedergewählter Gouverneur der Ölprovinz Zulia, startete eine kometenhaften Kampagne mit starker Unterstützung des Finanzsektors. Er profitierte von der Führungskrise und agierte im richtigen Moment, um Eduardo Fernández in den Vorwahlen vom April dieses Jahres die Kandidatur zu entreißen. Fernández bezahlte seine bedingungslose Unterstützung für die CAP nach den versuchten Staatsstreichen sehr teuer. Paradoxerweise war Alvarez Paz die politische Figur der Opposition, die die ökonomischen Reformen der Regierung von CAP am meisten unterstützte. Der Auswahlprozeß des Kandidaten der Partei war ungewöhnlich, denn es nahmen mehr als 2 Millionen Menschen an den offenen Wahlen teil.

Andres Velásquez, wiedergewählter Governeur der Minenprovinz Bolívar, hat mit seiner politischen Gruppierung, der Causa Radical in den letzten Jahren den größten Aufstieg verzeichnet. Die Causa Radical widerspricht in ihrer Organisationsstruktur den traditionellen Parteien, was als Phänomen für diese Wahl gelten kann. Statt auf die Infrastruktur eines Parteiapparats zurückzugreifen, gibt es eine Bewegung von Freiwilligen auf nationaler Ebene.

Claudio Fermin, der Ex-Bürgermeister von Caracas, der beim Versuch der Wiederwahl im Dezember 1992 scheiterte und in diesem Jahr wegen einer Korruptionsanklage im Gefängnis war, schrieb sich in letzter Stunde für die Vorwahlen seiner Partei ein – am selben Tag, an dem er aus dem Gefängnis kam. Den Vorwahlen der Regierungspartei blieben mehr als 70 Prozent der Mitglieder fern, aber Fermin schlug seinen Hauptgegner Carmelo Lauría (Kandidat der Parteielite), er erhielt fast 90 Prozent der abgegebenen Stimmen.

Die zentrale Frage: Für oder gegen Wirtschaftsreformen

Oberflächlich betrachtet präsentieren die Reden und das Bild in den Massenmedien zwei polarisierte Wahloptionen zwischen denen, die die Kontinuität des Wirtschaftsprogramms sichern und denen, die es ablehnen, ohne deutlich formulierte Alternativvorschläge zu haben. Für die Paketlösung treten Alvarez Paz und wegen seiner populistischen Vergangenheit etwas weniger stark Fermín ein. Gegen das Wirtschaftspaket sind Caldera und Velasquez.

Die ersteren haben sich ausdrücklich dafür ausgesprochen, die Wirtschaftsreform zu vertiefen und die Rolle des Staates durch Privatisierungen zu reduzieren sowie die Dezentralisierung seiner Verwaltung zu beschleunigen, indem den Regionen und Bezirken mehr Macht gegeben wird. Alvarez Paz ist dabei der radikalste Verfechter der aktuellen Wirtschaftspolitik. Er brachte seine Strategie in dem Satz: „Ich glaube an Gott und an den Markt“ auf den Punkt. Er hat auch vorgeschlagen, daß bei der Wahl im Dezember auch mit Ja oder Nein über eine verfassungsgebende Versammlung im nächsten Jahr abgestimmt wird.

Fermín leidet unter der Unbeliebtheit, die seiner Partei in der Regierung entgegenschlägt, sowie unter Problemen, die aus seiner Zeit als Bürgermeister von Caracas herrühren. Seine populistische Haltung hat sich zu den erwähnten Leitlinien gewandelt, allerdings bleibt sie angesichts seiner Verbindungen zur Gewerkschaft und zur Parteibasis noch moderat.

Caldera und Velásquez streiten sich um denselben Wählerkreis. Dies ist eine breite Schicht, die nicht erneut die traditionellen Parteien wählen will und beide Parteifüher sind sich dessen bewußt. Bis zu dem Punkt, daß es Druck dahingehend gab, daß der Zweitplazierte zugunsten des Ersten aufgeben sollte. Die alternativen Vorschläge beider Kandidaten wirken dennoch nicht sehr überzeugend: Beide stellen das wirtschaftliche Anpassungsprogramm in Frage und schlagen vor, es abzuschaffen. Sie verteidigen Interventionen des Staates in Schlüsselbereichen der Wirtschaft, verlangen, die demokratischen Mechanismen zu vertiefen, sie sagen aber nicht wie. Caldera wird angeklagt, eine betrügerische Kampagne im Stil von Perez zu führen, indem er ein Programm verspricht, das er später durch ein anderes ersetzen wird. Velásquez und seine Partei werden als Gefahr für die traditionellen Parteien AD und COPEI empfunden, die nun versuchen, der Provinzregierung von Bolívar Korruptionsfälle anzuhängen.

Mangel an politischen Ideen

Richtig ist, daß die ideologischen Vorschläge und die politischen Projekte abseits geblieben sind. Es ist schwieriger, von Regierungsprogrammen in Krisenzeiten zu sprechen. Darum äußern sich die Kandidaten entsprechend der öffentlichen Meinung, mit vorsichtigen Bewegungen und wenig Präsenz in der Straße. Obwohl die Kampagne gerade anfängt, ist nichts von sonst üblichen Massenversammlungen zu sehen. Angst vor leeren Plätzen?

Die Kampagne findet hauptsächlich im Fernsehen und den Printmedien statt. Während der Wahlkampfreisen wird direkt mit den Unternehmensorganisationen, der Kirche und anderen gesellschaftlichen Organisationen gesprochen. Die Thematik wird von der öffentlichen Meinung bestimmt: Korruption, Zurückdrängen und Modernisierung des Staates, Privatisierung, Wahl- und Verfassungsreformen.

Noch bleibt viel zu tun. Jeder Kandidat und seine Organisation muß die Schwierigkeiten umgehen, die von denen kommen können, die die Absicht haben, die Wahlen zu verhindern. Aber vielleicht wird das größte Hindernis sein, die Nichtwähler zu aktivieren und in dieser Wählergruppe die entscheidenden Stimmen zu gewinnen. Die Wahlenthaltung hatte 1988 17,8 Prozent erreicht. In den vorherigen Jahren (1958-1983) lag der Durchschnitt bei 9,8 Prozent (6. Platz bei der Wählerbeteiligung auf Weltebene). Obwohl die Wahlen auf regionaler und lokaler Ebene von den nationalen 1979 getrennt wurden, verdoppelte sich die Wahlenthaltung bis 1989 von 27,1 auf 54,8 Prozent – bei einem Durchschnitt von 40,86 Prozent. In Venezuela ist das Wählen ein Recht und eine Pflicht zugleich. Das bedeutet, daß sich die Wahlenthalter, ohne sich als organisierte Gruppe zu betrachten, doch protestierend verhalten. Dies zeigt eine Studie über die Enthaltung im Jahr 1989 auf: 48,7 Prozent enthielten sich aus politischen Gründen, während der Rest es aus fehlender Motivation oder unfreiwillig tat.

Die Nichtwähler entscheiden die Wahl

Nach den Vorhersagen könnte jeder Kandidat gewinnen. Aber zum ersten Mal in der demokratischen Periode wäre es ein Sieg mit relativer Mehrheit nahe an 30 oder 35 Prozent, was bedeuten würde, auf politischen sehr unsicherem Boden zu stehen. Gleichfalls schwierig kann die nachfolgende Führung eingeschätzt werden, denn dieselbe Tendenz würde sich im Kongreß bestätigen, der sich gespalten und sich wenig gehorsam präsentieren würde, wie dies traditionell gegenüber der jeweiligen Regierung gewesen ist. Ein Kongreß, in dem 50 Prozent der Abgeordneten direkt gewählt werden, wird voll von neuen Mandatsträgern sein, die verschiedene Interessen verteidigen werden.

Währenddessen planen und realisieren einige Sektoren der zivilen Gesellschaft, die soviele Wechsel in der Wahlszenerie in Gang setzten, bereits einen direkten Meinungsaustausch mit den aussichtsreichsten Kandidaten. Sie wollen konkrete Themen anmahnen, wie die Zukunft der Sozialpolitik, ausstehende Wahlreformen und die Möglichkeit einer verfassungsgebendenVersammlung.

ARGENTINIEN

Keine Alternative zu Menem?

Ein Interview mit Beinusz Szmukler, Präsident der amerikanischen Juristenvereinigung

(Buenos Aires, Juni 1993, ALAI-POONAL).- Meinungsumfragen zeigen, daß Präsident Carlos Menem weiterhin einen starken Rückhalt bei den Wählern hat. Im Unterschied zu dem, was anderen Regierungschefs widerfährt, die eine ähnliche Anpassungspolitik betreiben, hat er offensichtlich nicht den Verschleiß erfahren, den antipopuläre Maßnahmen sonst zu bewirken pflegen. Um diesen Widerspruch aufzuklären, sprach ALAI mit dem Argentinier Beinusz Szmukler. Er ist zur Zeit Präsident der amerikanischen Juristenvereinigung.

Die Umstände in denen Menem 1989 an die Macht gelangte sind in diesem Zusammenhang wichtig. Die Inflation erreichte in dem Jahr ungeahnte Ausmaße. Die Warenpreise in den Supermärkten wechselten stündlich. Diese chaotische Situation bewirkte darüberhinaus eine vorzeitige Regierungsübergabe durch Alfonsín.

An der Macht, machte Menem genau das Gegenteil von dem, was er im Wahlkampf versprochen hatte. Er setzte ein strenges Programm der wirtschaftlichen Anpassung in Gang, dessen Dreh- und Angelpunkt die Privatisierung nationalen Vermögens ist. Mit dieser Politik, die einen äußerst hohen sozialen Preis hat, erreichte er eine Stabilisierung der Situation. Der Eindruck, auf die durch die Hyperinflation traumatisierten Argentinier*innen war groß.

Andererseits gibt es den Fakt, daß in der Opposition keine reale Alternative zu sehen ist. Der Radikalismus (Name der Parteibewegung, nicht der politischen Position; Anm. d. Red.), der seinen Platz als zweite Kraft behauptet, ist keine Alternative. Die Regierung Alfonsín entstammte der radikalen Partei. Die Menschen haben es erlebt und außerdem arbeitet die Regierung Menem in der Öffentlichkeit sehr viel mit der Gleichsetzung von Radikalismus und Hyperinflation. Die Linke ist gespalten. Es findet sich bei ihr kein richtiges Alternativprogramm, so daß die Leute darin eine Perspektive sehen würden. Diese Situation macht es leichter, all diese Anpassungspläne anzuwenden. Es gibt Widerstand, aber der Widerstand ist verstreut.

Das sind einige der Faktoren, die diese Unterstützung erklären. Man kann allerdings nicht von einer wirklichen Unterstützung sprechen. Menem hat heute die Fähigkeit verloren, die Massen zu mobilisieren. Die Leute gehen nicht auf die Strasse, um ihn zu ünterstützen.

Frage: Was sind die Aspekte, die beim Privatisierungsprozess in Argentinien am meisten ins Auge stechen?

Bei den öffentlichen Diensten beispielsweise wurden vor der Privatisierung die Tarife auf brutale Art erhöht. Beim Telefon stiegen die Tarife siebzigmal. Alle Unternehmen werden ohne Schulden übergeben, die Schulden übernimmt der argentinische Staat. Die Tarife sind die höchsten auf dem internationalen Markt, die absolut höchsten. Vergleicht man die monatlichen Telefonkosten in Argentinien mit anderen Ländern, sind diese fünf oder sechsmal billiger. Dem Unternehmen wird eine Mindestrente praktisch garantiert, so daß es kein Risiko gibt. Das Unternehmen kann die Tarife erhöhen, wenn die Rentabilität sinkt.

Brutale Erhöhung der Tarife nach der Privatisierung öffentlicher Dienste

Bemerkenswert bei diesen Diensten ist, daß es außerdem keine festen Investitionsversprechen mit staatlicher Kontrolle gibt. Ein gutes Beispiel ist der Kauf der Fluggesellschaft Aereolíneas Argentinas durch die spanische Iberia. Die Iberia kauft sie mit minimalen Kosten und zwar mit billigen, aus zweiter Hand erworbenen Schuldscheinen auf die argentinische Auslandsschuld sowie einem Bankkredit. Das heißt, Iberia muß so gut wie keine Eigenleistungen aufbringen. Der Bankkredit wurde zudem, vor dem Kauf, mit Hypotheken auf die Flugzeuge garantiert.

Das sind die Kennzeichen der argentinischen Privatisierung. Dabei scheint das Argument, daß der Staat ein schlechter Leiter eines Unternehmens ist, nur für den argentinischen Staat zu gelten. So teilt sich das Telefonunternehmen in zwei Unternehmen auf: Das eine ist die Telefónica Española, die dem spanischen Staat gehört. Das andere gehört der Telecom und einem italienischen Unternehmen. Beide sind Unternehmen des französischen bzw. des italienischen Staates. Offensichtlich funktionieren also der französische, italienische und spanische Staat gut, während der argentinische Staat schlecht funktioniert.

Wir könnten sagen, daß der argentinische Staat privatisiert worden ist, denn er leitet praktisch nichts mehr. Die Tendenz ist, wirklich, absolut nichts mehr in der Hand zu haben, wie im Fall der Nationalen Lotterie, der lächerlich erscheint. Die Frage ist, welchen Sinn es macht, die Nationale Lotterie zu privatisieren, die doch niemals Verlust einbringen kann. Der Privatisierungsprozess ist zudem dadurch gekennzeichnet, daß die Dienstleistungen schlechter funktionieren als unter dem argentinischen Staat. Aereolíneas Argentinas war eines der besten Unternehmen dieser Art in der Welt, unter den zehn besten eingestuft. Jetzt muß es sich unter den zehn schlechtesten befinden.

Sicher werden die Telefondienstleistungen eines Tages besser werden, denn mit den Tarifeinnahmen können die Unternehmen fantastische Werke vollbringen. Aber jetzt ist es schlimmer als in den Händen des Staates. Was ist der Unterschied? Wenn ein Unternehmen des Staates diese Tarife hätte anwenden dürfen, würde dieses Unternehmen wunderbar und rentabel funktionieren. Und wenn die Schulden von Aereolíneas Argentinas übernommen worden wären, wie es jetzt gemacht wurde, wäre es ein rentables staatliches Unternehmen gewesen.

All das wird schwerwiegender, wenn man die Perspektive des Wirtschaftsplans sieht. Er bestand in einer brutalen Anpassung mit Tausenden und Abertausenden Entlassungen und mit einer ungeheuren Erhöhung der Steuerlast für die Mittelklasse. Diese Anpassung ist im wesentlichen darauf ausgerichtet, die Auslandsschulden zu bezahlen. Das heisst, ein Plan, gezeichnet vom Internationalen Währungsfonds und der Weltbank, um auf Ewigkeit die Schuld eintreiben zu können.

Frage: Könntest Du diesen Punkt präzisieren? Der Schuldendienst ist äußerst hoch. Dieses Jahr mußte Argentinien 5 Milliarden Dollar bezahlen und das wird durch die internationale Handelsbilanz nicht gedeckt. Auch wenn der gesamte Überschuß zwischen Exporten und Importen dafür bestimmt würde, könnten die 5 Milliarden nicht erreicht werden. Da sie aber zu jedem Preis gedeckt sein sollen, muß Geld von allen Seiten her und im allgemeinen erhält man es durch die Anpassungsmassnahmen.

Privatisierung der Sozialversicherung

Zur Zeit nimmt der Konsum der argentinischen Haushalte ab. Dies wird klar auf den Handel und die Industrie durchschlagen und damit sinken notwendigerweise die Steuereinnahmen. Auf diesem Weg wird das Geldsammeln für die Auslandsschuld schwieriger.

Daher suchen sie andere Wege, um Einnahmen zu erzielen. Einer davon ist die Privatisierung der Sozialversicherung. Man versucht dabei ähnlich vorzugehen wie in Chile mit der Rentenversicherung der Leute. Dieser Mechanismus ist verfassungswidrig, denn mit diesem Gesetz werden die Arbeiter verpflichtet, in eine private Kasse einzuzahlen. Das kommt teuer zu stehen, denn der Internationale Währungsfonds hat es zur Bedingung gemacht, daß dieses Gesetz in Kraft tritt. Das Ziel ist es nicht, das Rentenproblem der Menschen zu lösen, sondern einen Kapitalmarkt zu schaffen. Dort können die großen wirtschaftlichen Gruppen dann billiges Geld für ihre Geschäfte finden.

Frage: Aber wie erreicht es das Regime, daß die Bevölkerung den Hintergrund dieser Politik nicht wahrnimmt?

Das Trauma der Hyperinflation lastet immer noch schwer auf den Leuten und die derzeitige Inflationsrate liegt bei anderthalb bis zwei Prozent monatlich. Nachdem die Menschen diese Krise durchlebt hatten, beruhigt sie diese vermeintliche Stabilität ein wenig. Ohne Zweifel protestieren sie, aber noch ohne Organisation. Die organisierten Proteste sind vereinzelt, ohne Verbindung miteinander. Zum Beispiel gehen die Lehrer auf die Strasse und bekommen politische Unterstützung durch die linken Parteien. Aber dabei bleibt es dann. Es gibt keine Solidarität der verschiedenen Sektoren der Gesellschaft, die gleichfalls betroffen sind.

Es gibt keine kämpferischen Organisationen, weder in der Volks- noch Arbeiterbewegung. Der Grund ist, daß der Großteil der argentinischen Arbeiterbewegung in den Händen einer Gewerkschaftsbürokratie liegt, die ständig mit der Regierung und den Unternehmen zum Wohle eigener Interessen verhandelt. Es ist eine Bürokratie, die sich in eine besondere Art von Unternehmen verwandelt hat: es ist ein Geschäft.

Frage: Auf politischer Ebene fehlen die Alternativen. Wie ist es bei der sozialen Bewegung?

Die Situation ist die folgende: Der Ansehensverlust der politischen Klasse in Argentinien ist sehr groß, die Menschen haben kein Vertrauen in die Politiker. Darum wird es sehr schwierig sein, eine Alternative zu schaffen, die von den politischen Gruppierungen oder der Regierung ausgeht. Vom demokratischen Standpunkt aus gesehen ist das sehr gefährlich. Eine Alternative kann nur aus der sozialen Bewegung kommen.

„Niveau der Zerstörung der argentinischen Wirtschaft ist erschreckend“

In der Tat kann man kurzfristig nicht optimistisch sein, was grundlegende Wechsel in der politischen Situation angeht. Ich glaube, es wird ein schwieriger Prozeß sein, aber man muß anerkennen, daß Wege gesucht werden, das Wege geschaffen werden. Eine punktuelle, oberflächliche Herangehensweise an die Probleme ist gefährlich. Es ist eine grundsätzliche Behandlung notwendig.

Das Niveau der Zerstörung der argentinischen Wirtschaft ist erschreckend. Außerdem hat Argentinien Probleme im Agrarexport, weil seine traditionellen Agrarprodukte (Getreide, Feldfrüchte und Fleisch) – die immer noch zwischen 70 und 80 Prozent seiner Exporte ausmachen – mit den USA konkurrieren müssen. Dieser Wettbewerb ist natürlich sehr schwer.

Frage: Kann von den Teilwahlen der Abgeordneten etwas erwartet werden, die im Oktober stattfinden?

Es dürfen keine großen Erwartungen auf Änderungen durch Wahlen gesetzt werden, denn die Alternativen sind schwach. Man darf jedoch nicht vergessen, daß bei diesen Wahlen insofern alles auf dem Spiel steht als Menem seine Wiederwahl beabsichtigt. Die Versuchung der Wiederwahl bedarf einer Verfassungsänderung. Er braucht dafür eine Zweidrittelmehrheit. Diese Unterstützung zu bekommen, wird sehr schwierig.

Verfassung aus dem Jahr 1853

Bei den Meinungsumfragen ist interessant, daß eine Mehrheit mit Verfassungsreformen einverstanden ist, denn die Verfassung stammt noch aus dem Jahr 1853. Die Leute sind auch für die Einführung der Wiederwahl. Gleichzeitig sind sie jedoch gegen die Wiederwahl Menems. Dies ist äußerst wichtig: Denn wenn die Möglichkeit der Wiederwahl nicht durch eine Verfassungsänderung konkretisiert wird, öffnet sich ein ganzer Fächer unterschiedlichster Optionen.

Dieses ganze Panorama kann sich ändern, wenn eine Situation entsteht, die den Wirtschaftsplan ins Wanken bringt. Der Wirtschaftsplan ist das Argument der Regierung. Ihr Anliegen ist, daß der Dollar wie seit anderthalb Jahren im Verhältnis zum Peso stabil bleibt. Als ob diese Peso-Dollar-Parität das Problems des Verfalls der Lebens-, Gesundheits-, Wohnungs- und Erziehungsbedingungen sowie der Kultur lösen könnte.

Immer mehr Menschen werden in Argentinien an den Rand gedrängt. Die Leute, die eine reguläre Arbeit haben – das heißt für die Familie, daß beide Partner arbeiten – kommen zurecht. Aber darüber hinaus gibt es Millionen, die jeden Tag nur schlechtes Essen bekommen, die unter schrecklichen Bedingungen leben. Gut, das sind Bedingungen, die wir kennen, weil sie in Lateinamerika häufig vorkommen. Was passiert ist, daß der Verfall in Argentinien nicht das Niveau erreicht hatte wie in den anderen Ländern des Kontinents. Aber jetzt, glaube ich, sind wir in diesem Sinn ganz Lateinamerikaner.

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