Poonal Nr. 359

Deutsche Ausgabe des wöchentlichen Pressedienstes lateinamerikanischer Agenturen Nr. 359 vom 30. Oktober 1998

Inhalt


LATEINAMERIKA

PERU/ECUADOR

ECUADOR

CHILE

VENEZUELA

MEXIKO

MEXIKO/USA

BRASILIEN

URUGUAY

KOLUMBIEN

HAITI

GUATEMALA

PARAGUAY


LATEINAMERIKA

VIII. Forum von Sao Paulo in Mexiko-Stadt –

Die Linke des Subkontinents diskutiert über ihre Perspektiven

Von Gerold Schmidt

(Mexiko-Stadt, 28. Oktober 1998, Poonal).- Es ist schon Tradition geworden, das alljährliche Treffen linksdemokratischer und sozialistischer Parteien und Organisation aus Lateinamerika und der Karibik, die dem Forum von Sao Paulo angehören. Am Donnerstag, den 29. Oktober begann in Mexiko-Stadt die achte Ausgabe der Zusammenkunft. Gastgeber ist wie bereits 1991 die oppositionelle Partei der Demokratischen Revolution (PRD). Das Motto „die Herausforderungen der Linken angesichts des neuen Jahrtausends“ zwar ist nicht gerade originell gewählt, wird den weit über 100 Delegierten aus 20 Ländern aber knapp vier Tage lang genug Diskussionsstoff liefern. Schließlich hat sich seit dem ersten Forum von Sao Paulo, das die brasilianische Arbeiterpartei (PT) 1990 organisierte, einiges verändert.

Mit Spannung wird auf der Eröffnungsveranstaltung die Rede von Luis Inacio „Lula“ da Silva, dem Anfang des Monats zum dritten Mal gescheiterten Präsidentschaftskandidaten in Brasilien, erwartet. Lula steht für ein Dilemma, das die Linke des Subkontinents durchweg auszeichnet: Sie stellt zwar inzwischen die Bürgermeister in Hauptstädten wie Montevideo, Buenos Aires, Mexiko-Stadt oder San Salvador, Provinzgouverneure sowie zahlreiche Abgeordnete in Bundesparlamenten. Doch bei dem Versuch, Wahlen auf landesweiter Ebene zu gewinnen, sind die Erfolge im vergangenen Jahrzehnt fast gleich Null gewesen. Neue Hoffnungsträger sind derzeit die ehemalige Guerilla der salvadoreanischen FMLN und die mexikanische PRD.

Für letztere werden heute sowohl Bürgermeister Cuauhtemoc Cardenas und der Parteivorsitzende Manuel Lopez Obrador sprechen. Rederecht zum Auftakt haben ebenfalls Jose Ramon Balaguer von der kommunistischen Partei Kubas, sowie je ein Vertreter der haitianischen OPL und der guatemaltekischen URNG. Diese Zusammensetzung verdeutlicht anschaulich die Bandbreite, die im Forum von Sao Paulo vereint ist. Aus Asien, Nordamerika, Afrika und Europa haben sich zudem zahlreiche Beobachterdelegationen angekündigt.

In Arbeitsgruppen und im Plenum soll in den folgenden Tagen unter anderem über Alternativen zum Neoliberalismus, die Stellung Lateinamerikas in der Welt und gemeinsame Strategien der Linken debattiert werden. Dabei wird sich herausstellen, ob die Mitglieder des Forums sich einem eher reformistischen oder mehr radikalem Weg verschreiben wollen. Im vergangenen Jahr ließ das VII. Forum im brasilianischen Porto Alegre diesbezüglich viele Optionen offen. In einer Erklärung wurden als unterstützenswerte Alternativen zum Neoliberalismus „nationalistische, volksdemokratische und sozialistische Optionen“ akzeptiert, „die für soziale Gerechtigkeit stehen“. Einfacher war es da schon mit der Formulierung der verbalen Pflichtübung, den Kampf für die nationale Souveränität gegenüber der Vorherrschaft des nordamerikanischen Imperialismus zu verstärken.

Aktualitätsbedingt werden auf dem VIII. Forum von Sao Paulo sicherlich die Verhaftung von Augusto Pinochet und die Verhandlungen zwischen Guerilla, Zivilgesellschaft und Regierung in Kolumbien auf der Tagesordnung sein. Die stärkste kolumbianische Guerilla-Organisation FARC ist mit einer eigenen Abordnung präsent. Zwei weitere Punkte geben dem Treffen wegen der Ortswahl besonderen Reiz. Der mexikanischen Regierungspartei PRI, den Statuten nach immer noch links, wurde nach heftigen Diskussionen bei den zurückliegenden Foren ein Beobachterstatus gewährt. Da nun im eigenen Land die PRD die Gastgeberrolle spielt, ist noch unklar, ob die PRI diesmal überhaupt teilnehmen will und wird. Außerdem wird das Forum kaum umhin kommen, deutlich Stellung zur Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) in mexikanischen Bundesstaat Chiapas zu nehmen. Im Gegensatz zum engen Verhältnis mit anderen aktiven oder ehemaligen Aufstandsbewegungen in Lateinamerika, hat es zwischen Zapatisten und dem Forum bisher keine offiziellen Kontakte gegeben. Spätestens am Sonntag wird deutlich geworden sein, ob die Parteien und Organisationen an die Aufbruchstimmung der ersten Treffen anknüpfen können oder sich das Forum doch eher als eine Instanz etabliert, die wichtige Austauschmöglichkeiten bietet, ohne aber große Impulse auszusenden.

Gewalt gegen GewerkschafterInnen

(San José, 20. Oktober 1998, pulsar-Poonal).- Im vergangenen Jahr starben in Lateinamerika etwa 300 Gewerkschafter*innen durch Mord. Fast 2.500 wurden von staatlichen Behörden verhaftet. Die Zahlen gab die Internationale Arbeitsorganisation bekannt. Verhaftete und Ermordete gehörten fast ausnahmslos in die Reihen derjenigen, die besonders aktiv die gewerkschaftlichen Rechte verteidigten. Einschüchterungen, Drohungen und direkte Gewalt trafen diejenigen, die in ihren Forderungen nicht nachgaben. Das Ausmaß der Attacken gegen die Gewerkschafter*innen erinnert an die 70er Jahren, als in den meisten Ländern des Subkontinents Militärdiktaturen mit Härte gegen jede oppositionelle Regung vorgingen. In den 90er Jahren wird jedoch immer wieder auf die demokratische Entwicklung in den lateinamerikanischen Ländern verwiesen.

Kolumbien ist das Land in dem die meisten Anschläge auf das Leben von Gewerkschafter*innen stattfinden, als Verantwortliche wurden fast immer die Militärs, Geheimdienste und rechte Paramilitärs ausgemacht. Eine andere Form der Repression, die zwar nicht das Leben kosten, aber die gewerkschaftliche Arbeit immer wieder unterbindet, sind die Entlassungen. Um die gewerkschaftliche Organisation zu verhindern oder zu unterdrücken, entließen Unternehmen in Lateinamerika 1997 schätzungsweise 50.000 Arbeiter*innen. Am häufigsten fand diese Methode Anwendung in Kolumbien, Peru, Brasilien, Mexiko und Costa Rica.

PERU/ECUADOR

Das Ende eines jahrzehntelangen Grenzkonfliktes –

Peru und Ecuador beugen sich internationalem Schiedsspruch

Von Eduardo Tamayo und Gerardo Herrero

(Quito, 26. Oktober 1998, alai-Poonal).- Als Ecuadors Präsident Jamil Mahuad und sein peruanischer Amtskollege Alberto Fujimori am Montag in der brasilianischen Hauptstadt den „allgemeinen und endgültigen Friedensvertrag“ unterzeichneten, sprangen beide damit über ihren Schatten. Mehr als 50 Jahre lang war der Grenzstreit um ein paar Quadratkilometer Urwald Anlaß genug zu kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den Nachbarländern gewesen. Zuletzt hatte es Anfang 1995 wochenlange verbissene Gefechte um die bislang nicht genau festgelegte Grenze gegeben. Der von beiden Seiten anerkannte Schiedsspruch der sogenannten Garantenländer schafft zukünftig Klarheit.

Die Präsidenten der USA, Brasiliens, Chiles und Argentiniens hatten am Freitag vergangener Woche ihre Entscheidung Fujimori und Mahaud gleichzeitig zukommen lassen. Danach wird für das umstrittene 78 Kilometer lange Grenzstück – nur ein kleiner Teil der Gesamtgrenze – ein Andenhöhenzug als Markierung festgelegt. In der in der Vergangenheit heftig umkämpften Zone von Cenepa entsteht zu beiden Seiten der Grenze ein entmilitarisierter Nationalpark. Ein nicht einmal ein Quadratkilometer großes Areal mit dem Wachposten Tiwinza als Mittelpunkt wird Ecuador zugesprochen. Die Indígena-Gemeinden in der Urwaldregion haben das Recht zur freien Grenzüberschreitung. Sie waren es, die im Alltagsleben am meisten unter den Feindseligkeiten zu leiden hatten.

Die Parlamente von Ecuador und Peru hatten bereits vor gut einer Woche nach längeren Diskussionen letztendlich mit deutlicher Mehrheit dafür gestimmt, einen Schiedsspruch der vier Garantenländer zu respektieren. Nun können sich alle ohne Gesichtsverlust auf das aus ihrer Sicht Positive an der neuen Regelung berufen. Für Ecuador hat der im Grunde völlig unbedeutende Wachposten Gewicht, weil er wiederholt gegen peruanische Angriffe verteidigt wurde. Peru dagegen hat im wesentlichen seine Gebietsansprüche bestätigt bekommen und kann dies als Erfolg verbuchen.

Die Einigung bietet auch die Chance, einen sich abzeichnenden Rüstungswettlauf in der Region zu stoppen. Der Grenzkonflikt diente den Hardlinern sowohl in Ecuador wie auch Peru als willkommener Vorwand für eine Aufstockung des Waffensarsenals. Gleichermaßen konnten die jeweiligen Regierungen durch lautes Säbelrasseln von innenpolitischen Problemen ablenken, indem sie mit der Berufung auf den Nationalstolz die Bevölkerung erfolgreich gegeneinander aufhetzten. Noch 1995 gelang es Alberto Fujimori dank dieses Krieges, sich aus einem Popularitätstief hochzuziehen. Ecuadors damaliger Präsident Sixto Durán konnte kurzzeitig den Ärger über Mißwirtschaft und Korruption unter seiner Regentschaft verdrängen.

Doch die enormen Kosten für den militärischen Großeinsatz im Amazonas- Urwald rächten sich im Nachhinein. Dies trug sicherlich zu der Einsicht bei, daß mit dem Nachbarkrieg langfristig kein Staat mehr zu machen sei. Der seit 1990 autoritär regierende Fujimori konnte nach einer heftigen Schlappe seiner Unterstützerparteien bei den jüngsten Kommunalwahlen in Peru nicht mehr damit rechnen, mit protzigem Muskelspiel Stimmen zu gewinnen. In Ecuador ist die Ernüchterung nach dem militärischen Kraftakt von 1995 noch in Erinnerung. Der frischgewählte Christdemokrat Jamil Mahuad konnte es sich nicht leisten, nach der Verkündung drastischer Wirtschaftsmaßnahmen, die natürlich in erster Linie die sozial schwach gestellten Ecuadoreaner treffen, weitere Entbehrungen aufgrund eines erneuten Krieges heraufzubeschwören.

So gesehen waren die Bedingungen für eine Friedenslösung gut. Der Ursprung des Konfliktes geht auf die Jahre 1941/42 zurück. Damals marschierten peruanische Truppen auf ecuadoreanischem Territorium ein. Im Vertrag von Río de Janeiro mußte Ecuador als Preis für den Frieden auf 200.000 Quadratkilometern Amazonasgebiet verzichten. 78 Kilometer der neuen Grenze blieben unbestimmt und der Streit darüber brachte die beiden Ländern in den Folgejahren mehrfach an den Rand des Krieges. Vor 1995 kam es bereits 1981 zu einem offenen Konflikt. In keinem der beiden Fälle kam es jedoch zu einer Kriegserklärung. Ob die vielzitierte „offene Wunde“ jetzt geschlossen worden ist, bleibt abzuwarten. In den kommenden Tagen sollen mehrere Vereinbarungen über Handel und Zusammenarbeit den „allgemeinen und endgültigen Friedensvertrag“ absichern.

ECUADOR

Ansturm auf den Armutsbonus

Von Manuel Quintero

(Quito, 27. Oktober 1998, alc-Poonal).- Trotz heftiger Diskussionen in Kirchenkreisen über den sogenannten Armutsbonus der Regierung haben sich bereits etwa 400.000 Ecuadoreaner*innen bei den religiösen Institutionen registrieren lassen, um die monatliche Unterstützung zu empfangen. Der Bonus besteht aus umgerechnet 16 Dollar, die die Regierung denjenigen bewilligt, deren Monatseinkommen unter einer Million Sucres (160 Dollar) liegt. Damit sollen die harten Wirtschaftsmaßnahmen abgefedert werden. Die Erfassung der Armen und die Auszahlung der Gelder sollen auf Bitten von Präsident Jamil Mahuad die evangelische und katholische Kirche in ihren Einflußbereichen vornehmen (vgl. Poonal 355).

In einigen Diözesen der katholischen Kirche ist dieser Vorschlag jedoch auf Widerstand gestoßen, weil sich die Priester nach eigener Darstellung nicht zu indirekten Handlangern der Sparpolitik der Regierung machen wollen. So hat in den Provinzen Azuay, Los Rios und El Oro stattdessen das Militär die Registrierung der Armen übernommen. Im Hochland und im Westen Ecuadors sind die Indígena- Gemeinden dagegen kaum oder gar nicht über den Bonus informiert worden. Die „Armutsregistrierung“ scheitert auch oft an fehlenden Dokumente, die für die Teilnahme am Programm verlangt werden.

CHILE

Trauer und Jubel nach Aufhebung des Haftbefehls gegen Pinochet –

Chilenische Gesellschaft bleibt tief gespalten

Von Leonel Yañez

(Santiago de Chile, 29. Oktober 1998, npl).- „Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen.“ Erbost, aber gefaßt reagierte die chilenische Abgeordnete Isabel Allende auf die Nachricht, daß Pinochet in London auf freien Fuß gesetzt werden soll. Sie ist die Tochter des Ex-Präsidenten Salvador Allende, den das chilenische Militär 1973 von der Macht putschte und ermordete. „Zumindest waren die Verbrechen Pinochets zwei Wochen lang Thema in der ganzen Welt.“

Jubel auf Seiten der Anhänger des Ex-Diktators, Trauer und Resignation auf der anderen kennzeichneten den Mittwoch Abend in Chile. Am Nachmittag hatte das Hohe Gericht Großbritanniens den Haftbefehl gegen Pinochet, den die spanische Justiz im Rahmen ihrer Ermittlungen wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit erwirkt hatte, für illegal.

Die Vorsitzenden der beiden chilenischen Rechtsparteien, Alberto Espina (RN) und Pablo Longueira (UDI) zeigten sich zutiefst zufrieden. „Chile und die Gerechtigkeit haben gesiegt,“ erklärte Espina vor Journalisten. Die ständigen Demonstrationen hätten ihre Wirkung nicht verfehlt. Wie in den Tagen zuvor sammelten sich auch am Mittwoch Hunderte vor den Botschaften Spaniens und Großbritanniens – diesmal nicht zum Protest, sondern zum feiern.

Doch noch ist Pinochet kein freier Mann, da das britische Oberhaus als letzte Instanz noch über die Berufung gegen die Gerichtsentscheidung befinden muß. Es wird erwartet, daß er noch diese Woche gegen Kaution freigelassen wird. Juristen in London gehen davon aus, daß die Lords die Berufung verwerfen werden. Die Ermittlungen in mehreren europäischen Ländern gegen Pinochet, so verlautete aus Spanien und der Schweiz, werden indes fortgeführt.

Die Begründung des Urteils, daß Pinochet als ehemaliger Staatschef Immunität geniesse, verstößt nach Auffassung von amnesty international (ai) „gegen den Geist des internationalen Rechts“. Auch Angehörige der Opfer der Diktatur (1973-1990) und die Jugendverbände der regierenden Christdemokraten und Sozialisten kritisierten die Entscheidung und sprachen von einer vergebenen Chance, endlich Recht zu sprechen. „Die Glaubwürdigkeit Chiles hat schweren Schaden genommen, da wir nicht in der Lage waren, Menschenrechtsverletzungen zu ahnden,“ faßte der sozialistische Kandidat für die Präsidentschaftswahl im kommenden Jahr zusammen.

Die Freilassung Pinochets wird die Risse, die seit der Festnahme Pinochets vor zwei Wochen innerhalb der chilenische Gesellschaft deutlich wurden, kaum kitten. Die Rechte, die sich in acht Jahren Demokratie zerstritten hat und politischen Einfluß einbüßte, nutzte die Festnahme des Ex-Diktators, um ihre Reihen zu schließen. Die „Verteidigung ihrer Führers“ ist das neue gemeinsame Ziel, hinter dem politischer Zwist zurücksteht. Die täglichen Demonstrationen, wachsende Fremdenfeindlichkeit und der Aufruf, „Pinochets Freiheit und die nationale Souveränität mit allen Mitteln“ zu verteidigen, rief bei vielen Chilenen Erinnerungen an die Zeit vor dem Militärputsch wach.

Erneut sieh sich die Linke mit Todesdrohungen konfrontiert. Carmen Soria, Tochter des in der 70er Jahren „verschwundenen“ spanischen Diplomaten Carmelo Soria, und der spanischstämmige Maler Jose Balmes waren die ersten Adressaten. Anfang dieser Woche erhielt auch die kommunistische Präsidentschaftskandidatin Gladys Marin Morddrohungen.

Doch nicht nur die Erben der Militärdiktatur (1973-1990), die bis zu 30 Prozent der Bevölkerung des südamerikanischen Landes ausmachen, sammeln durch die demonstrative Identifikation mit Pinochet neue Kräfte. Auch das demokratische Chile, das für die Aufklärung und Verfolgung der Diktaturverbrechen eintritt, zeigt Präsenz auf der Straße und in den Medien. Teile der Regierungskoalition und linke Organisationen sprechen sich dafür aus, Pinochet zur Rechenschaft zu ziehen. Beobachter befürchten, daß das juristische Tauziehen um Pinochet und die Versuche, ihn auch in Chile vor Gericht zu bringen, zu einer weiteren politischen Polarisierung in Chile führen werde.

Bischöfliches Gotterbarmen mit Pinochet

(Santiago, 27. Oktober 1998, alc-Poonal).- In einer offiziellen Erklärung zur Verhaftung von General Augusto Pinochet in London haben die chilenischen Bischöfe die Gesellschaft aufgerufen „zur Besonnenheit und Gelassenheit“ zurückzukehren. Sie baten außerdem, Gesundheit und Alter des Ex-Diktators in Betracht zu ziehen. Es handelt sich um die erste gemeinsame Verlautbarung der katholischen Kirchenhierachie in Chile seit der Verhaftung Pinochets. Zuvor hat es nur persönliche Erklärungen einzelner Bischöfe gegeben.

In dem Dokument wird Sorge über die Ereignisse der zurückliegenden Tage zum Ausdruck gebracht. Die Situation habe „maßlose Leidenschaft, zum Teil von Aggressivität geprägt“, provoziert. Die Bischöfe beklagen einen „Stillstand auf dem Weg, diese nationale Versöhnung zu erreichen, die das ganze Land herbeisehnt“. Im Sinne des Friedens, der Einheit und der Versöhnung, so fügen die Bischöfe hinzu, dürfe dieser Zustand sich nicht verlängern.

Die Bischofskonferenz fordert alle Chilen*innen auf , ein Klima zu schaffen, in dem es möglich sei, mit den Bürgerspflichten hinsichtlich Justiz und Menschenrechten voranzukommen. Im Bezug auf die Menschenrechte hieß es : „…deren Verletzungen in der Vergangenheit in Chile – wer immer auch die Autoren waren (sic!) – so viel Schmerz hervorriefen und deren Wunden immer noch offen sind“. Die katholischen Würdenträger beschlossen diesen herrlichen Textes mit Anruf um das göttliche Erbarmen und der Bitte, daß im Fall Pinochet „humanitäre Gründe“ Vorrang finden würden, aufgrund „der Mehrdeutigkeit des angewandten Gesetzes“ sowie „des prekären Gesundheitszustandes und fortgeschrittenen Alters“ des jetztigen Senators auf Lebenszeit. (Amen, die Red.)

VENEZUELA

Die Anpassung der Anpassung

Von Salvador Bracho

(Caracas, Oktober 1998, alai-Poonal).- Die neoliberale Logik scheint kein Ende zu nehmen. Die „Erfolge“ eines Anpassungsplans führen direkt zum nächsten hin, der wiederum einen Folgeplan bedingt. Eine unaufhaltsame Verknüpfung, bei der das Angepaßte immer weiter angepaßt wird. Für die Armen und die Mittelschichten bedeutet das, den Gürtel immer wieder enger schnallen zu müssen – und immer wieder die Versprechen zu hören, in der Zukunft würden die Ergebnisse der aktuellen Einschränkungen sichtbar.

In fast allen Ländern Lateinamerikas ist das so gewesen und hat eine dramatische Wirkung zur Folge gehabt. Der Fall Venezuelas war in den vergangenen Monaten ein Beispiel mehr für diese Logik der Strukturanpassung. Noch bei seinem Amtsantritt im Dezember 1993 hatte der heute 82jährige Präsident Rafael Caldera offen gegen die „Rezepte“ des Internationalen Währungsfonds (IWF) gewettert. Doch am Ende seiner Regierungszeit suchte er den Beistand des Fonds, um am 2. Februar 1999 nicht einen völlig bankrotten Staat an seinen Nachfolger, den Gewinner der Präsidentschaftswahlen am 6. Dezember diesen Jahres. übergeben zu müssen.

Diese Notwendigkeit das Angepaßte anzupassen, von Neuanpassungen oder neuen Kürzungen – wie es auch immer genannt wird – findet dieser Tage ihren wichtigsten Architekten ausgerechnet im Planungsminister Teodoro Petkoff. Dieser war einst für seinen anti-dogmatischen Diskurs gegen das Sowjetunion- Modell und seine wagemutigen Guerilla-Aktionen in den 60er Jahren bekannt. Petkoff, der vor zwanzig Jahren für eigenständige Entwicklungswege focht, trat im April 1996 in die Regierung von Caldera ein, um die sogenannte „Agenda Venezuela“ zu verteidigen. Dabei handelte es sich um die euphemistische Bemühung, einen Anpassungsplan nach Art des IWF (und von diesem überwacht ) nicht Anpassungsplan nennen zu müssen. Gegen ähnliche Maßnahmen protestierten Petkoff und Caldera noch im – es scheint – fernen Jahr 1989, als der damalige Präsident Carlos Andrés Pérez sie anwandte und damit einen Putschversuch, den „Caracazo“ provozierte.

Das ganze Jahr 1997 hindurch bestanden die Regierungsreden darin, den Nutzen des Anpassungsplans, die Erfolge der Agenda Venezuela und die günstigen Perspektiven für die letzten Monate des Amtszeit des Staatschefs hervorzuheben. In seiner stets polemischen Art wies Planungsminister Petkoff die Warnungen des ebenfalls gläubigen Neoliberalisten und Ökonoms Emeterio Gómez kategorisch zurück. Dieser machte für den relativen Aufschwung im vergangenen Jahr in erster Linie die hohen internationalen Ölpreise verantwortlich, von denen Venezuela als eines der großen Ölexportländer profitierte.

Tatsächlich mußten alle schönen Aussichten über Bord geworfen werden, als in diesem Jahr der Weltmarktpreis für venezolanisches Öl auf einen Stand sank, der über eine Dekade lang nicht mehr so niedrig gewesen war. Alle strukturellen Anpassungen halfen nicht, den Staat effizienter zu machen. Dafür gab es eine Arbeitsreform, die das Arbeitssystem „flexibler“ macht und derzeit wird das alte System der staatlichen Sozialversicherung aufgelöst. Zukünftig werden es überwiegend private Fonds sein, die die Sozialabgaben der Beschäftigten verwalten. Caldera konnte das ohne Debatte mit Sondervollmachten erreichen, die die Parlamentsabgeordneten ihm angesichts der Wirtschafts- und Finanzkrise verliehen.

In seinem Wahlkampf unterschrieb Caldera „eine Absichtserklärung an das venezolanische Volk“. Es war ein Wortspiel, mit dem er sich von der Absichtserklärung distanzieren wollte, die Carlos Andrés Pérez im Februar 1989 mit dem Internationalen Währungsfonds unterschrieb. Dem Präsident selbst blieb aber im April 1996 nichts anderes übrig, als selbst eine solche Erklärung mit der internationalen Finanzmacht zu unterzeichnen. Mehrere Monate des völligen Chaos in der Wirtschaft waren vorausgegangen.

Die ersten drastischen Maßnahmen bestanden damals in einer Erhöhung der Treibstoffpreise um 450 Prozent, Zinsraten von 70 Prozent und einer Abwertung der einheimischen Währung gegenüber dem Dollar von fast 40 Prozent. Offizielles Ziel war die Inflationsbekämpfung. Die Inflation betrug dennoch gut 100 Prozent und lag damit um ein Viertel über der von 1995. Ein anderes Ziel war ein reduziertes Staatsdefizit, das 1995 etwa fünf Milliarden Dollar betrug. Die Folge war ein merklicher Rückgang der Staatsaktivitäten, der sich besonders stark im Gesundheitswesen bemerkbar machte. Die Ärzte kämpften in den vergangenen zwei Jahren nicht nur um bessere Löhne, sondern genauso um eine bessere Ausstattung der öffentlichen Krankenhäuser. Dort gibt es de facto eine Privatisierungspolitik durch die „Beiträge“, die die Patiente gezwungenermaßen leisten müssen, um behandelt zu werden.

In Venezuela erfüllen die öffentlichen Mittel für Gesundheit, Bildung und andere Dienstleistungen für die Bevölkerung, die gemäß der neoliberalen Anpassungslogik dem Staat noch übrig bleiben, nicht im geringsten die Anforderungen internationalen Standards. Die Gelder für den sogenannten sozialen Ausgleich sind eine Art Almosen, die in keinster Weise die Armut bekämpfen. Sie werden entweder nicht gezielt oder gar nicht eingesetzt, sondern existieren oft nur auf dem Regierungspapier. Nach zweieinhalb Jahren der Agenda Venezuela ist die Bevölkerung deutlich ärmer geworden. Je nach Quelle gelten inzwischen 70 bis 80 Prozent der Bewohner als arm.

Die Ölpreise sollten nicht für den kurzen Aufschwung verantwortlich sein, jetzt aber wird den niedrigen Preisen in Tateinheit mit einem milden Winter im Norden und der Asienkrise die Alleinschuld an der Misere im Land gegeben. Die Regierung wollte 75 Prozent aller Deviseneinnahmen durch den Ölexport erzielen und kalkulierte optimistisch mit 15,50 Dollar pro Barrel. Die Korrektur auf 11,50 Dollar kommt der Realität wesentlich näher. Experten hatten dies bereits 1997 vorausgesagt, waren aber auf taube Ohren gestoßen. Hinter vorgehaltener Hand geben Mitglieder des staatlichen Ölkonzerns zu, daß die Regierung für den Haushalt 1998 mit „politischen“ Zahlen jonglierte.

Seit 1996 spielt das Wort „unvermeidlich“ eine herausragende Rolle in der Regierungsvokabular. Zwischen März und September 1998 waren Haushaltskürzungen in Höhe von 3,2 Milliarden Dollar „unvermeidlich“. Anfang September wurde eine weitere Anpassung der öffentlichen Finanzen um 1,1 Milliarden Dollar angekündigt. Für die Bevölkerung Venezuelas bleiben die wiederholten Anpassungen schwer verständlich. Während der Staat praktisch pleite ist und die Löhne für die öffentlichen Beschäftigten soeben noch am Monatsende bezahlt werden können, vermeldet die Zentralbank Dollarreserven über 18 Millionen Dollar und versucht damit makro- ökonomische Stabilität nachzuweisen.

Die Anpassungskette scheint kein Schlußglied zu haben. Mitten im Wahlkampf – die Parlaments- und Regionalwahlen sind bereits am 8. November, die Präsidentschaftswahlen folgen am 6. Dezember – sind sich die wichtigsten Kandiaten einig, keinen anderen Ausweg zu wissen. Der Dissident Hugo Chávez wird immer schweigsamer und hat wenig Konkretes zum Thema zu sagen. Im Bestreben, sein Putschimage loszuwerden und als verläßlich zu gelten, hält der Oberst im Ruhestand ein Treffen nach dem anderem mit nationalen und internationalen Bankenvertretern, Unternehmern und Investoren ab. Sogar mit dem IWF will er reden.

MEXIKO

Lage in Chiapas verfahren wie eh und je –

Angekündigte Verhandlungen bieten nur leichten Hoffnungsschimmer

Von Gerold Schmidt

(Mexiko-Stadt, 27. Oktober 1998, Poonal).- Bald ist es fünf Jahr eher, daß die Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) der mexikanischen Regierung den Kampf ansagte. Ein Ende des Konfliktes im Bundesstaat Chiapas ist nicht abzusehen. In diesen Tagen wird aber mit gewisser Spannung eine Antwort der Zapatisten an die parteiübergreifende Parlamentskommission Cocopa erwartet, in der die EZLN voraussichtlich Ort und Zeitpunkt für ein Treffen vorschlägt. Es wäre der erste direkte Kontakt zwischen den Aufständischen und den Abgeordneten, seit Parlament und damit ebenfalls die Kommission im Juli vergangenen Jahres neu zusammengesetzt wurden. Mit der alten Cocopa hatten die Zapatisten ein letztes Mal im Januar 1997 im Lacandonen-Urwald gesprochen.

Neue Impulse könnten auch von einem Meinungsaustausch zwischen Vertretern der Zivilgesellschaft und den Zapatisten kommen. Diese Zusammenkunft ist für Ende November in der Stadt San Cristobal vorgesehen. Dabei soll es um die Organisation einer landesweiten Befragung über den von der Cocopa im vergangenen Jahr vorgelegten Entwurf zur Indigena-Gesetzgebung und die Suche nach Friedenslösungen gehen. Die EZLN reagierte mit ihrer Gesprächsbereitschaft auf einen Aufruf, den Künstler und Intellektuelle Anfang September veröffentlicht hatten. Allerdings haben die Zapatisten von vorneherein klargestellt, keine Vermittlung für Diskussionen mit der Regierung suchen zu wollen. Mit dieser halten sie unter den gegebenen Umständen jede Art von Gesprächen für sinnlos. Sie werfen ihr vor, immer noch einen gezielten schnellen Vernichtungsschlag gegen die EZLN-Führung zu planen.

Die Regierung streitet das kategorisch ab und fordert die Zapatisten auf, mit ihr zu reden. Für ein Treffen EZLN-Cocopa will sie Sicherheitsgarantien abgeben. Eine internationale Vermittlung durch die Vereinten Nationen oder andere Institutionen lehnt sie dagegen nach wie vor strikt ab. Diesen Friedensvorschlag haben beispielsweise der Bischof von San Cristóbal, Samuel Ruiz García und Nicht- Regierungsorganisationen gemacht. Auch spanische Parlamentarier von der Vereinten Linken, die sich in Chiapas vor Ort informierten, unterstützten am Wochenende auf einer Pressekonferenz diese Initiative. Bisher erlaubt die mexikanische Regierung aber nicht einmal der Stadt Venedig, in einer überwiegend von zapatistischen Sympathisanten bewohnten Gemeinde ein kleines Wasserkraftwerk zu installieren, das dem Dorf und der Umgebung die Stromversorgung garantieren würde.

Andere Indizien stellen den Friedenswillen der Regierung zumindest in Zweifel. Die angekündigte Entwaffnung paramilitärischer Gruppen in Chiapas ist so gut wie vollständig ausgeblieben. Stattdessen weisen Berichte darauf hin, daß diese Gruppen sich mit der Duldung der Behörden konsolidieren und die zivile Anhängerschaft der EZLN weiterhin einschüchtern. Gesten wie kleinere Teilabzüge von stationierten Truppen bleiben aus, obwohl sich dies die mexikanische Regierung aufgrund ihrer eindeutigen militärischen Überlegenheit ohne weiteres leisten könnte. Genausowenig muß sie derzeit befürchten, die Zapatisten könnten landesweit eine große Mobilisierung der Zivilgesellschaft erreichen. Dies wäre wohl nur bei einer Offensive der Bundesarmee gegen die EZLN der Fall.

Die Anfang Oktober durchgeführten Abgeordneten- und Kommunalwahlen in Chiapas haben die komplizierte Lage nicht verändert. Die Regierungspartei PRI erreichte über 46 Prozent der Stimmen und konnte der Opposition wichtige Landkreise abnehmen, die diese drei Jahre zuvor gewonnen hatte. Die Zapatisten spielten in gewisser Weise Wahlhelfer. Ihre Entscheidung, die Abstimmung einerseits nichts zu sabotieren, andererseits aber die eigene Basis nicht zur Wahl aufzufordern, hatte auf die hohe Wahlenthaltung von 55 Prozent Einfluß und begünstigte die PRI. Gouverneur Roberto Albores Guillen bot das Ergebnis eine willkommene Rechtfertigung für seine Position, der EZLN nicht entgegenzukommen. Die Ausgangssituation in dem Bundesstaat dämpft bereits im Vorfeld allzu großen Optimismus, die angekündigten Gespräche könnten wichtiges bewegen.

Debatte um die Präsidentschaftskandidaten eröffnet

(Mexiko-Stadt, 24. Oktober 1998, Poonal).- Obwohl die kommenden Präsidentschaftswahlen erst Mitte 2000 stattfinden, ist die Diskussion um die Kandidaten – bisher handelt es sich um eine reine Männergesellschaft – bereits seit einigen Monaten in vollem Gange. Die meisten der Aspiranten bringen sich selbst ins Gespräch. Diesem Beispiel folgte am Wochenende auch Porfirio Muñoz Ledo von der oppositionellen Mitte-Linkspartei PRD. Er kündigte an, bei genügend Unterstützung und fairen Bedingungen innerhalb der Partei die Kandidatur anzustreben.

Ledo war zusammen mit dem amtierenden Bürgermeister von Mexiko- Stadt, Cuauhtémoc Cárdenas, vor zehn Jahren die entscheidende Figur beim Aufbau einer Opposition links von der das Land seit 70 Jahren regierenden PRI. Mit Cárdenas gibt es einen mehr oder weniger offen ausgetragenen Kampf um die Vorherrschaft in der Partei. Beide haben es aber zu vermeiden gewußt, einen nicht mehr zu kittenden Bruch herbeizuführen. Es gilt als wahrscheinlich, daß im Laufe des kommenden Jahres auch Cárdenas seine Kandidatur – es wäre die dritte – für das Präsidentenamt anmelden wird.

Der amtierende Bürgermeister von Mexiko-Stadt kann auf eine solide Basis in der PRD zurückgreifen und hat bei entscheidenden Abstimmungen immer über Ledo gesiegt. Eine halbwegs erfolgreiche Zwischenbilanz als Stadtregent würde ihm gute Chancen einräumen. Andererseits hat sich Muñoz Ledo als gewiefter und bisweilen brillanter Oppositionsführer im Parlament im zurückliegenden Jahr Respekt erworben. Der PRD-Mann ist das dritte politische Schwergewicht, das offen seine Ambitionen bekannt gegeben hat. In der Regierungspartei macht der Gouverneur des Bundesstaates Puebla, Manuel Bartlett, seit Wochen Werbung für sich und bei der konservativen PAN tritt mit dem Gouverneur Vicente Fox aus dem Bundesstaat Guanajuato ein äußerst selbstbewußter Populist als Präsidentenanwärter auf.

Zum Tod von Germán List Arzubide

(Mexiko-Stadt, Oktober 1998, Poonal).- Er wollte ein „Mann der drei Jahrhunderte“ werden, doch der Tod war noch respektloser als er. Mit Germán List Arzubide starb am 17. Oktober hundertjährig eine der schillerndsten Figuren Mexikos. Jahrzehntelang von Politik und offiziellem Kulturbetrieb bewußt vergessen, erreichte sein Lebenswerk erst in jüngster Zeit wieder etwas von seiner verdienten Aufmerksamkeit.

Arzubide wurde am 31. Mai 1898 in der Stadt Puebla geboren. Seinen ersten Gefängnisaufenthalt erlebte er noch als Schüler, weil er zu Beginn der mexikanischen Revolution unter seinen Klassenkameraden für die Idee Francisco Maderos warb. Wenig später kämpfte er mit der Waffe gegen die Vertreter des alten Regimes. Seine Berufung war jedoch die zum Dichter. Anfang der 20 Jahre schloß er sich den Estridentisten (die“ Schrillen“) an, einer Gruppe von jungen Poeten und Schriftstellern, die gegen die herrschenden Literaturformen rebellierten und einen eigenen Stil kreierten. Verbunden war damit der Spott über Obrigkeiten und das Anbeten von offiziellen Nationalhelden.

Die anfängliche Sympathie, die der Bewegung entgegengebracht wurde, schlug bald in Feindschaft mit anderen literarischen Gruppen und politische Ablehnung um. Arzubide als wichtigsten Repräsentanten der Estridentisten traf der Bann seiner Gegner besonders stark. Erschwerend für ihn kam sein offenes Eintreten für radikale Gewerkschaften, den Kommunismus und die Aufstandsbewegung von Augusto Sandino in Nicaragua hinzu. Zeitweise lebte er in den 30er Jahren in der Sowjetunion im politischen Exil, kehrte jedoch während der Präsidentschaft von Lazaro Cárdenas nach Mexiko zurück.

Ohne offizielle Unterstützung lebte Arzubide stets in bescheidenen Verhältnissen. „In aufrechter Opposition zu leben, ist bitter“, kommentierte er kurz vor seinem Tod. Ihm gelang es dennoch immer wieder, Gedichte und andere Texte zu veröffentlichen. 99jährig wurde ihm der Nationale Kunstpreis im Bereich Literatur verliehen. Die Autobiographie, die Germán List Arzubide noch schreiben wollte, blieb in den Anfängen stecken. Besonders charakteristisch für seine Persönlichkeit ist ein Text, den er über seine Beziehung zur sandinistischen Guerilla der 30er Jahre schrieb, den wir einer der kommenden Poonal-Ausgaben dokumentieren werden.

MEXIKO/USA

Kein Atommüll im Grenzgebiet

(Mexiko-Stadt, 23. Oktober 1998, Poonal).- Dieser Kelch ging an Mexiko vorüber. Die Umweltschutzkommission des US-Bundesstaates Texas verweigerte die Zustimmung für eine Atommülldeponie nahe der mexikanischen Grenze. George W. Bush, Gouverneur von Texas, begrüßte die Entscheidung. Gegen die Deponie in der Region Sierra Blanca hatte es zu beiden Seiten der Grenze zunehmende Proteste gegeben (vgl. Poonal 358). Sie trugen möglicherweise zur Entscheidung der Kommission bei. In jedem Fall gab sie mit ihrer Einschätzung, das Atommülllager sei an dem geplanten Standort in der texanischen Wüste nicht sicher, den Argumenten von Umweltschützer*innen aus den USA und Mexiko recht.

Das Nein zur Deponie bedeutet auch einen Spannungsfaktor weniger in den Beziehungen der Nachbarländer auf Regierungsebene. Mexikos Regierung hatte in Washington darum gebeten, die Lagerstätte für Atommüll nicht zu erlauben. Das mexikanische Außenministerium beeilte sich folgerichtig, die Standortverweigerung als Erfolg seiner politisch-diplomatischen Bemühungen darzustellen. Nicht- Regierungsorganisationen und die Oppositionsparteien hatten zuvor erklärt, die Proteste seien nicht nachdrücklich genug. Was die entscheidenden Gründe für den Beschluß der texanischen Kommission waren, mag ungeklärt bleiben, aber zweifellos ist das Ergebnis, das George W. Bush knapp zusammenfaßte: „Die Deponie wird nicht in Sierra Blanca gebaut, Punkt.“

BRASILIEN

Homosexueller Protest

(Rio de Janeiro, 23. Oktober 1998, comcosur-Poonal).- Homosexuelle Männer und Frauen sowie Transvestiten zogen durch die Straßen von Río de Janeiro, um gegen die Polizeigewalt und schleppende Arbeit der Justiz in entsprechenden Verfahren zu demonstrieren. Einer der Sprecher faßte die Situation mit den Worten zusammen: „Während des Karnevals bekommen die Transvestiten Applaus und an den übrigen Tagen des Jahres werden sie ermordet.“ Den Statistiken nach gab es in den vergangenen zwölf Jahren im ganzen Land 1.600 Morde an Transvestiten. Davon kamen nur 80 Fälle vor Gericht . Davon endeten wiederum 60 Prozent der Verfahren mit einem Freispruch für die Angeklagten, in ihrer Mehrzahl Polizisten. Claudio Nascimento erklärte im Namen der Homosexuellen, das Ziel sei, die Unterstützung ihrer BürgerInnenrechte durch Menschenrechtsgruppen zu erreichen. „Nur durch die Mobilisierung können wir die Vorurteile besiegen“, sagte er.

Cardoso muß trotz seiner Wahlerfolge paktieren

(Brasilia, 27. Oktober 1998, pulsar-Poonal).- Die klare Wiederwahl und die Erfolge von ihm nahestehenden Gouverneuren in 20 der 27 Bundesstaaten geben dem brasilianischen Präsidenten Fernando Henrique Cardoso noch keinen Freischein für sein Austeritätsprogramm. Denn im zweiten Wahlgang für die Gouverneursämter gab es am vergangenen Wochenende einige Rückschläge. Zwar setzte sich ein Cardoso-Vertrauter im reichsten Bundesstaat – Sao Paulo – durch und der Hauptstadtdistrikt Brasilia konnte mit knappem Vorsprung der Arbeiterpartei (PT) abgenommen werden. Aber Niederlagen für Cardoso gab es unter anderem in den wichtigen Bundesstaaten Río de Janeiro, Minas Gerais und Rio Grande do Sul. Das bedeutet, daß die im Haushalt vorgesehenen drastischen Kürzungen für die kommenden drei Jahre, um das Land vor dem Bankrott zu retten, auf erheblichen Widerstand stoßen werden. Nur mit einer großen Mehrheit im Bundeskongreß kann sich der Präsident sicher sein, sein Programm durchziehen zu können. Um ausreichend Stimmen zu erhalten, wird er an anderer Stelle der Opposition Zugeständnisse machen müssen. Das gibt der Linken, vor allem der PT, nach ihrer Wahlniederlage zumindest einen kleinen Verhandlungsspielraum.

URUGUAY

Premiere von „Tupamaros“ – Anwesenheit von Tupamaros unerwünscht

(Montevideo, 23. Oktober 1998, comcosur-Poonal).- In Uruguay fand die Uraufführung des schweizerisch-deutschen Dokumentarfilms „Tupamaros“ statt, in dem es um die Stadtguerilla von Montevideo in den 70er Jahren geht. Der Film gewann bereits auf mehreren Festivals Preise. In Montevideo hatten die Cinemateca Uruguaya und das deutsche Goethe Institut die Premiere für geladene Gäste organisiert. Auch die beiden Filmemacher Heidi Specogna (Schweiz) und Rainer Hoffman (BRD) waren auf Initiative der Veranstalter anwesend. Specogna kritisierte auf der anschließenden Podiumsdiskussion allerdings, daß keiner der Protagonist*innen des Films (die vier ehemaligen Guerilleros/as José Mujica, Lucia Topolanski, Graciela Jorge und Eleuterio Fernández Huidobro) eingeladen worden sei. „Auf allen Festivals, wo wir unseren Film zeigten, wurde dem Wunsch nach der Beteiligung der Protagonist*innen Folge geleistet. Nur hier in Montevideo, wo wir den Film gedreht haben, wo die männlichen und weiblichen Hauptdarsteller leben, sind sie nicht anwesend“, so Specogna. Und weiter: „Diese Diskriminierung sehen wir nicht nur als einen Mangel an Respekt an, sondern wir vertreten die Auffassung, daß damit eine große Chance vertan wurde, eine wirkliche Debatte und einen Meinungsaustausch zu beginnen.“

KOLUMBIEN

Streik fordert Todesopfer

(Bogotá, 26. Oktober 1998, pulsar/comcosur-Poonal).- Während des andauernden Streikes des Großteils der etwa 800.000 kolumbianischen Staatsangestellten sind bereits fünf Gewerkschafter*innen umgebracht worden. Am Wochenende starben die Krankenschwester Ortensia Alfaro von der Gewerkschaft des Gesundheitswesens in der nördlichen Provinz César und eine Erzieherin von der Bildungsgewerkschaft in der Provinz Huila. In beiden Fällen gaben Pistoleros tödliche Schüsse auf die Frauen ab. Wenige Tage zuvor war auch Jorge Ortega, der Vizepräsident der Einheitszentrale der Arbeiter, vor seiner Haustür erschossen worden. Sein Name stand auf einer vor einigen Monaten entdeckten schwarzen Liste, die insgesamt neun Namen von Persönlichkeiten der Gewerkschafts- und Volksbewegung sowie aus Menschenrechtsorganisationen enthielt. Alle Aufgeführten sind mit dem Tod bedroht worden. Die Ermordung von Gewerkschafter*innen ist in Kolumbien fast an der Tagesordnung. 1997 wurden 80 organisierte Arbeiter*innen umgebracht.

HAITI

Verdächtige Rücktritte im Raboteau-Prozeß

(Gonaives/Wiesbadnen, 20. Oktober 1998, haiti info-Poonal).- Zum dritten Mal innerhalb von zwei Monaten hat ein Richter seinen Posten am Gericht von Gonaives aufgegeben. Dort soll üeber das Massaker von Raboteau – einem Armenviertel von Gonaives – von 1994 Gericht gehalten werden. Werden die Beamten von den mutmaßlichen Tätern von damals unter Druck gesetzt? Diese Vermutung liegt nahe, angesichts der sich häufenden Rücktritte. Justizbeamte hatten gegenüber der Presse unter anderem geäußert, daß Richter 450.000 Gourdes (ca. 45.000 DM) von dem ehemaligen Armeehauptmann Castera Cénafils erhalten haben, um belastendes Material zu vernichten. Castera Cénafils sitzt derzeit als einer der Hauptangeklagten des Massakers von Raboteau im Gefängnis. Die überlebenden Opfer und Familienangehörigen, die sich in Basisgruppen organisiert haben, demonstrierten gegen diese Vorgänge am Gericht und forderten ein funktionstüchtiges Tribunal. In einem offenen Brief vom 13. Oktober hat die Organisation Justitia et Pax in Gonaives an Präsident Préval appelliert, seine Versprechungen des vergangenen Jahres einzulösen. Damals sicherte Préval zu, einen Schauprozeß gegen die Mörder von Raboteau zu ermöglichen. Bisher sei jedoch nichts Greifbares geschehen, so Justitia et Pax. Angesichts wenig nachvollziehbarer Entscheidungen des Justizministeriums hinsichtlich Versetzungen von Beamten bei gleichzeitger Freilassung potentieller Verdächtiger, sei die tatsächliche Entschlossenheit des Staates, die Straffreiheit zu bekämpfen, in Zweifel zu ziehen, schrieb Justitia et Pax.

Aristides Popularität ungebrochen

(Port-au-Prince/Wiesbaden, 20. Oktober 1998, haiti info-Poonal).- Mehrere tausend Mitglieder der Organisation Lavalas-Familie, die Jean-Bertand Aristide nahesteht, haben bei der Rückkehr des ehemaligen Präsidenten von einer Europareise vor dem Flughafen in Port-au-Prince demonstriert. Sie hoffen auf eine Rückkehr von Aristide an die Macht im Jahre 2001 und bezeichneten auf der Protestveranstaltung die anderen Politikern als unfähig.

GUATEMALA

Priester formell wegen Bischofsmord angeklagt

(Guatemala-Stadt, 22. Oktober 1998, pulsar-Poonal).- Der inhaftierte Priester Manuel Orantes ist vom Staatsanwalt Otto Ardón offiziell angeklagt worden, im April dieses Jahres Bischof Juan Gerardi ermordet zu haben. Ardón übergab dem Richter einen Tag vor Ablauf der 90tägigen Frist die Belege, nach denen Gerardi durch die Bisse des Schäferhundes gestorben sein soll, der auf Befehl seines Besitzers Orantes den Bischof anfiel. An dieser These gibt es erhebliche Zweifel (vgl. zurückliegende Poonalausgaben). Der Vorsitzende der guatemaltekischen Bischofskonferenz, Víctor Hugo Martínez, beschuldigte den Staatsanwalt nur eine Fährte und dazu die falsche verfolgt zu haben. Damit werde verhindert, daß die wirklich Verantwortlichen des Verbrechens bestraft würden. Die katholische Kirche geht davon aus, daß das Militär hinter dem Mord an Gerardi steckt.

Plantagenbesitzer schießt auf Campesinoführer

(Livingston, 19. Oktober 1998, cerigua-Poonal).- Die Plantagenbesitzer in der Provinz Izabal haben laut der Nationalen Indígena- und Campesinovereinigung (CONIC) einen Plan entworfen, lokale und landesweit bekannte BäuerInnenführer einzuschüchtern und zu ermorden. Ramiro Choc, der von einem der Großgrundbesitzer am 18. Oktober in den Arm geschossen scheint das erste Opfer auf der Liste zu sein. Choc arbeitet im Vorstand der CONIC. Er berichtete, daß ihm fünf Männer folgten und ihn am Ufer des Rio Dulce stellten. Nach zwei Schüssen in die Luft habe der Plantagenbesitzer ihm gezielt in den Arm geschossen und mit dem Tod bedroht, „weil die Organisation, die Du vertritts, den Plantagen im Weg steht“.

Erste staatliche Einrichtung für mißbrauchte Kinder

(Guatemala-Stadt, 13. Oktober 1998, cerigua-Poonal).- In Guatemala hat die erste staatliche Notunterkunft ihre Türen für mißbrauchte Kinder ihre Türen geöffnet. Sie untersteht dem Sozialministerium und kann bis zu 50 Kinder vorübergehend aufnehmen. Kinder über zwölf Jahren werden nicht versorgt und länger als 48 Stunden soll kein Kind in der Unterkunft bleiben dürfen. Die Mitarbeiter geben als Ziel an, verlassene oder in ihren Wohnungen mißbrauchte Kinder erste Hilfe zu leisten, bis die Gerichte einer Einzelperson oder einer Institution die Vormundschaft zugesprochen haben. Auch für Straßenkinder soll die Einrichtung eine Anlaufstelle sein.

PARAGUAY

Präsident Raúl Cubas sehnt sich nach der Vergangenheit

(Asunción, 27. Oktober 1998, pulsar-Poonal).- Die Zeiten der Militärdiktaturen in Lateinamerika sind vorbei, doch in den Köpfen vieler ziviler Regierender spukt noch die Doktrin der Nationalen Sicherheit. Dies ist der Fall des paraguayischen Präsidenten Raúl Cubas. Er lehnte eine Gesetzesinitiative ab, die die Aufgaben der nationalen Verteidigung und der inneren Sicherheit voneinander trennen wollte. Laut Cubas ignoriert der Entwurf, daß beide Aspekte auf denselben Staatszweck abzielen. Innere Sicherheit und nationale Verteidigung seien aufs engste verbunden, es bestehe eine Beziehung von Ursache und Wirkung. Die nationale Verteidigung diene dazu, die „integrale Sicherheit“ zu garantieren. Dies ist das Konzept der Nationalen Sicherheit, wie es Ende der 60er Jahre entworfen wurde. Danach war die interne Sicherheit direkt mit der nationalen Verteidigung verbunden, weil diejenigen, die internen Probleme verursachten, das Land gegenüber möglichen externen Feinden schwächten. Diese Logik rechtfertigte die Unterdrückung nach innen. Die politische Opposition wurde wie ein externer Feind behandelt. Auf dieser Basis beruhte die paraguayische Diktatur von Alfredo Strössner, die von Augusto Pinochet in Chile, die von Rafael Videla in Argentinien. Die Beispiele ließen sich fortführen.

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