Deutsche Ausgabe des wöchentlichen Pressedienstes lateinamerikanischer Agenturen Nr. 308 vom 25. September 1997

Inhalt


EL SALVADOR

ARGENTINIEN

MEXIKO

URUGUAY

BRASILIEN

NEOLIBERALISMUS

ALAI: Sie haben darauf hingewiesen, daß die Abnutzung des

GUATEMALA

PARAGUAY

ECUADOR

LATEINAMERIKA

CHILE

FASIC sieht es als ermutigend an, daß der oberste chilenische

HONDURAS


EL SALVADOR

Politisches Projekt von Villalobos vor dem Scheitern

(Mexiko-Stadt, September 1997, Poonal).- Die sozialdemokratisch ausgerichtete Demokratische Partei (PD), aus den ehemaligen Guerillabewegungen Revolutionäre Volksarmee (ERP) und Nationaler Widerstand (RN) entstanden, befindet sich in einer tiefen Krise. Symptomatisch ist der Rücktritt des Vorsitzenden Joaquín Villalobos aus der Parteiführung. Der ehemalige Guerillakommandant und Militärstratege der Nationalen Befreiungsfront Farabundi Marti (FMLN) gab zu, daß die „moderateren“ Ideen seiner Partei sich in El Salvador nicht durchsetzen konnten und von den ehemaligen Anhänger*innen als Verrat betrachtet wurden. Bei den vergangenen Parlaments- und Kommunalwahlen konnte die PD nur ein Abgeordnetenmandat erringen, während die FMLN sich als mit Abstand stärkste Oppositionspartei konsolidierte und sogar das Bürgermeisteramt von San Salvador gewann. Nach dem Rücktritt von Villalobos soll die PD neu organisiert werden. Möglicherweise ist es dafür aber zu spät. Sechs Führungsmitglieder und etwa 50 weitere Parteiaktivist*innen haben der Partei in den vergangenen Tagen den Rücken gekehrt. Sie beschuldigen die Parteispitze, zu der auch die ehemalige Kommandantin Ana Guadalupe Martínez gehört, einen Ruck zur extremen Rechten gemacht zu haben. Die Dissident*innen wollen eine neue Mitte-Links-Partei gründen.

ARGENTINIEN

Warnung an geständigen Ex-Militär

(Mexiko-Stadt/Buenos Aires, 19. September 1997, comcosur-Poonal).- Der ehemalige Marinesoldat Adolfo Scilingo, der über die Verbrechen und der Militärdiktatur und die sogenannten Todesflüge ausgesagt hatte, wurde mitten im Stadtzentrum von Buenos Aires mehrere Stunden entführt. Die Täter waren in Zivil gekleidetet, hielten ihrem Opfer aber Polizeiausweise vor und sagten ihm: „Du wolltest also eine Anhörung, hier hast Du sie“. Damit spielten sie auf ein Gespräch an, das Scilingo mit dem Gouverneur von Buenos Aires, Eduardo Duhalde, haben sollte. Die Angreifer fügten dem Ex- Militär mit einem Messer Schnittwunden zu. In sein Gesicht ritzten sie die Initialien von drei Journalist*innen, die sie als seine „Kompliz*innen“ anklagten. Es handelt sich um Magdalena Ruiz Guiñazu, Horacio Verbitsky und Mariano Grondona. Gegen diese und gegen Scilingo richteten die Täter außerdem Todesdrohungen. Nach zwei Stunden wurde Scilingo im Süden der argentinischen Hauptstadt abgesetzt.

Scilingo befindet sich erst seit kurzem wieder in Freiheit. Aufgrund einer umstrittenen Gerichtsentscheidung wegen angeblicher Scheckfälschung war er mehr als zwei Jahre inhaftiert. Tage vor der zweistündigen Entführung hatte er über die Zusammenarbeit von aktuellen Regierungsfunktionären wie Innenminister Carlos Corach und früheren Angehörigen der Militärdiktatur berichtet. Scilingo ist zudem dabei, eine Liste von 139 ehemaligen Kollegen aufzustellen, die mit ihm für die Unterdrückung und Verfolgung Oppositioneller unter der Diktatur verantwortlich waren. Die Entführer benutzten ein Auto vom Typ Ford-Falcon. Dieser Wagentyp war bei den Entführungen und den Fällen des „Verschwindenlassens“ während der Diktatur und bei den Aktionen der Todesschwadron „Triple A“ üblich. Die Organisation Human Rights/Américas hat in einem Brief an den argentinischen Präsidenten inzwischen ihre „tiefe Besorgnis“ über den Angriff gegen Adolfo Scilingo ausgedrückt. Sie fordert Präsident Menem auf, die Sicherheit aller bedrohten Personen zu garantieren.

Die Mühle

Von Eduardo Galeano

Nelly Delluci überquerte Drahtgitter und Weideland auf der Suche nach dem Ort, wo ein Konzentrationlager mit dem Namen La Ecuelita abgerissen worden war. Aber die argentinische Armee hatte keinen einzigen Ziegel stehen lassen. Den ganzen Nachmittag suchte sie vergeblich. Und als sie inmitten des Geländes am verlorensten fühlte, richtungslos umherirrte, da sah Nelly die Mühle. Sie entdeckte sie von weitem. Sich nähernd hörte sie das -chzen der vom Wind gegeißelten Mühlenflügel und hatte keine Zweifel:

„Hier ist es.“

Es gab nichts als Gras in der Umgebung, aber dies war der Ort. Der Mühle, die von der Abenddämmerung schon Rot gefärbt war, gegenüberstehend, erkannte Nelly das -chzen wieder, das die Häftlinge 15 Jahre zuvor, Tag für Tag, Nacht für Nacht, begleitet hatte. Und sie erinnerte sich: Ein Oberst, überdrüssig der Litanei der Mühle, hatte befohlen, sie festzubinden. Die Flügel wurden mehrmals mit Stricken umschlungen und festgezurrt, aber die Mühle hatte weitergeächzt.

MEXIKO

Polizei steht im Verdacht Reporterin überfallen zu haben

(Mexiko-Stadt/Montevideo, 19. September 1997, comcosur-Poonal).- Drei Unbekannte schlugen und bedrohten die Reporterin Silvia Otero von der Tageszeitung „El Universal“. Sie warnten sie, weitere Attacken würden folgen. Die Journalistin war auf dem Weg zu einem Gefängnis im Osten der Hauptstadt, um über das Verschwinden von sechs Jugendlichen nachzuforschen, von denen drei kurz danach ermordet aufgefunden wurden. Als Täter verdächtigt werden Mitglieder der berüchtigten Polizeieinheit „Los Jaguares“. Der Angriff auch Otero ist kein Einzelfall. In den zurückliegenden Tagen waren auch zwei Journalisten des Fersehsender „Televisión Azteca“ und zwei Reporter der Tageszeitung „Reforma“ betroffen. In allen Fällen sprachen die Angreifer die Warnung aus, nicht weiter über Verbrechensfälle zu forschen, in die mutmaßlich Mitglieder der Polizei verwickelt sind.

Neuer PRI-Präsident

(Mexiko-Stadt, September 1997, Poonal).- Die Überraschung blieb aus. Der Vorstand der regierenden Revolutionären Institutionellen Partei (PRI) wählte nach dem Rücktritt von Humberto Roque Villanueva (vgl. Poonal 306) den ehemaligen Gouverneur des Bundesstaates Querétaro, Mariano Palacios Alcocer, zum neuen PRI- Präsidenten. Diese Entscheidung war bereits durch die Empfehlungen wichtiger Parteipolitiker*innen der drei PRI-Sektoren (Arbeiter, Campesinos, Angestellte) vorweggenommen worden. Gegenkandidat*innen gab es nicht. Der GeneralsekretärInnen-Posten der Partei ist ebenfalls neu besetzt. Er fiel Socorro Díaz zu, die zuvor ein Regierungsprogramm im Ministerium für soziale Entwicklung leitete.

Marihuana bleibt hoch im Kurs

(Mexiko-Stadt, September 1997, Poonal).- Wenn Mexiko wegen des

Drogenhandels in die internationalen Schlagzeilen kommt, dann ist fast immer vom Kokain die Rede. In der Tat hat das lukrative Geschäft mit dem Kokainschmuggel in die USA inzwischen den Anbau und den Handel von Marihuana in seiner relativen Bedeutung, nicht aber unbedingt in seinem Umfang zurückgedrängt. Denn keineswegs wollen die mexikanischen Drogenhändler, die „Narcos“, die ihren kolumbianischen Kollegen immer stärker den US-Markt streitig machen, auf den Deal mit der Hanfpflanze verzichten. Saftige Gewinne bringt auch dieser Geschäftszweig nach wie vor ein. Der Marihuana-Anbau hat in Mexiko eine lange Tradition. In der „Cucaracha“, einem der bekanntesten Lieder der mexikanischen Revolution von 1910, heißt es gleich zu Anfang: „Die Kakerlake, die Kakerlake kann nicht mehr laufen, weil ihr Marihuana zum Rauchen fehlt.“ Der zum Teil surreale weitere Text läßt durchaus Rückschlüsse auf die Rauchgewohnheiten des Autors zu. Für die mexikanischen Campesinos stand und steht jedoch weniger der Genuß des Krauts im Vordergrund, sondern seine Funktion als Einkommensquelle. Kein Verbot, keine Strafandrohungen und keine noch so groß angelegten Kampagnen von Polizei und Militär zur Vernichtung der Hanfpflanzungen – der fast ebenso umfangreiche Mohnanbau wird in diesem Artikel außen vor gelassen – haben in den vergangenen Jahrzehnten durchschlagenden Erfolg gezeigt.

Auf den ersten Blick lesen sich die Meldungen der Drogenfahnder beeindruckend: Seit Dezember 1994 bis Mitte August 1997 vernichteten sie über 500.000 Marihuana-Felder mit einer Gesamtfläche von fast 40.000 Hektar. Polizei und Militär beschlagnahmten zudem 846 Tonnen der grünen Pflanze, zerstörten knapp 2.000 Landepisten für Kleinflugzeuge und fast 1.500 Trocknungsanlagen. Allein 21.000 Soldaten sollen tagtäglich im Drogeneinsatz ein. Nützen tut dies wenig. Auf 80 Prozent der zerstörten Felder, so kürzlich ein Oberst gegenüber der Presse, wird sofort wieder angebaut. Dabei steht zu vermuten, daß ein Gutteil der Pflanzungen dazu angelegt wird, den Fahndern ins Auge zu fallen. Dies soll ablenken von größeren Anbauflächen in entlegeneren Gebieten. Die nördlichen Bundesstaaten Jalisco, Sonora und Sinaloa sind besonders als Anbaugebiete bekannt. Aber auch in Michoacan, Guerrero, Oaxaca und Chiapas wird gesät und geernet. Fast ganz Mexiko eignet sich für Marihuana-Pflanzungen. In günstiger Lage sowie bei ausreichend Regen oder künstlicher Bewässerung können die Campesinos die Ware schon nach zwei Monaten an den örtlichen Drogenboss liefern. Zwischen 400 und 500 Pesos bringt ein Kilo Marihuana derzeit den Bauern im Bundesstaat Sinaloa ein. Da lohnt es sich unter Umständen, eine fünf Kilometer lange Wasserleitung zur versteckt gelegenen Hanfpflanzung zu legen, wie die mexikanische Wochenzeitschrift „Proceso“ berichtet. Mit etwas Glück ist das nicht nötig, wie die Gruppe „Los Tucanes de Tijuana“ in einem ihrer vielen Lieder über die mexikanische Drogenszene besingt: „Eine Quelle in den Bergen ist eine Mine, Señores, ich säe, ernte und verkaufe, niemals sind meine Blumen trocken, das ganze Jahr über ist Saison, kleine Quelle meiner Liebe.“

Für viele Campesinos ist der Anbau trotz der Risiken eine sehr erstrebenswerte Haupt- oder Nebenerwerbsqülle. Mit herkömmlichen Agrarprodukten könnten sie nicht so viel verdienen. In einigen Regionen leben bis zu einem Viertel der Dorfbevölkerungen seit Generationen vom Drogeneinkommen. Wenn die Felder an unzugänglichen Berghängen oder in Schluchten in der Regenzeit gepflegt und bewacht werden müssen, nimmt die Zahl der Dorfbewohner spürbar ab. Hat der Grosshändler seine Ware im Kleinflugzeug oder LKW abgeholt und bezahlt, sitzt das Geld manchmal locker. Ein Bekannter erzählte dem Autor von einem Dorf ohne Stromzugang, wo die Campesinos für einen eisgekühlten Kasten bis zu 600 Pesos – knapp 80 Dollar – aus den zerschlissenen Taschen zogen. Das dürfte aber die große Ausnahme sein, die Mehrheit der Bauern bleibt trotz des Marihuana-Anbaus bitterarm. Oft werden sie nur als Wächter angestellt oder stellen ihre Felder gegen eine relativ geringe Pacht für die Pflanzungen zur Verfügung. Den Schnitt macht auf jeden Fall der Narco. Während die mexikanischen Konsumenten mit etwa 2.000 Pesos (256 Dollar) für das Kilo und zwei bis vier Pesos für das Gramm noch ziemlich billig an ihren Marihuana-Genuß kommen, kann das Kilo guten Mexiko-Hanfs in den USA zwischen 4.000 und 8.000 Dollar (31.000 bis 62.000 Pesos) einbringen. Die Gewinnspanne ist für die Drogenhändler groß genug, um bei Bestechungsgeldern und Transportkosten nicht sparen zu müssen. Ende August entdeckten die Drogenfahnder im Bundesstaat Michoacan mit 500 Hektar Fläche eine der größten zusammenhängenden Marihuana-Pflanzungen der letzten zehn Jahre. Die Narcos wird das nicht um den Schlaf gebracht haben.

URUGUAY

Im Bildungssystem gärt es nach wie vor

(Montevideo, 19. September 1997, comcosur-Poonal).- Die uruguayischen Bildungsbehörden mit Minister Germssn Rama an der Spitze hielten Ende vergangener Woche immer noch mehrere Schulen und Ausbildungseinrichtungen geschlossen. Am 18. September protestierten mehrere tausend Schüler*innen, Lehrer*innen und Eltern auf den Strassen der Hauptstadt gegen die Politik des Ministers. „Keine Unterdrückung und keine Reformen ohne die Leute“, war einer der am meisten gerufenen Sprüche. Die Sekundarschullehrer*innen weigerten sich unterdessen, demonstrierende Schüler*innen zu bestrafen und in den Schulen zu Unterrichten, die unter Polizeiaufsicht stehen. Sie äußerten ihre Bereitschaft, mit Hilfe des Parlaments nach Auswegen aus dem Konflikt zu suchen. Der LehrerInnenverband warnte vor „einer autoritären Eskalierung, deren Ausgang unvorhersehbar ist“. Hintergrund der in den vergangenen Monaten immer wieder aufflammenden Proteste der Schüler*innen und anderer Gruppen des Bildungssektors sind Reformen, die Minister Rama ohne Rücksprache mit den Betroffenen beschloß.

BRASILIEN

Anti-Cardoso-Allianz

(Mexiko-Stadt, 14. September 1997, Poonal).- Die beiden Spitzenpolitiker der Partei der Arbeiter*innen (PT) und der Demokratischen Arbeitspartei (PDT) kündigten ein Bündnis gegen die neoliberale Politik von Präsident Fernando Henrique Cardoso an. „Nur eine Allianz der fortschrittlichen Kräfte kann den Neoliberalismus besiegen“, so Luis Inacio „Lula“ da Silva von der PT während des Treffens mit Leonel Brizola. Letzterer erklärte bereits jetzt seinen möglichen Verzicht zugunsten einer erneuten Präsidentschaftskandidatur von Lula bei den Wahlen von 1998. Er habe kein Problem damit, nur Vizepräesident zu sein, „wenn dies der dafür zu zahlende Preis ist, um die Einheit der Linken zu gründen. Lula sprach sich für ein noch größeres Bündnis aus. „Nur so können wir eine Politik überwinden, die mehr als die Hälfte der Brasilianer*innen an den Rand gedrängt hat und ohne Zugang zum Markt läßt“, sagte der ehemalige Metallgewerkschafter. Ideal sei eine Einheitskandidatur aller Kräfte, die gegen den Neoliberalismus sein. Dies schließe die kleinen und mittleren Unternehmer*innen ein, die Landlosen, die Gewerkschaften, die frei Berufstätigen und die Student*innen ein. Obwohl es in der PT zuletzt einige Skandale gegeben hat, ist Lula nach wie vor der populärste Oppositionskandidat, der als einziger Chancen hätte, erfolgreich gegen Cardoso anzutreten. Dieser könnte derzeit den Umfragen nach dennoch mit seiner Wiederwahl rechnen. Die rechtlichen Hürden für eine erneute Kandidatur hat der amtierende Präsident mit einer von Senat und Abgeordnetenhaus verabschiedeten Verfassungsreform inzwischen ausgeräumt.

NEOLIBERALISMUS

Interview mit Franz Hinkelammert, Teil I

(San Jos'e, September 1997, alai-Poonal).- „Was ich mir nicht erklären kann ist, warum es so eine große Fähigkeit gibt, Gesellschaften, Kulturen, Menschen, die Natur zu zerstören“. Dies war der Eingangskommentar von Franz Hinkelammert, als Osvaldo León ihn für ALAI über seine Ansichten über den Neoliberalismus und dessen Auswirkungen auf die Menschheit befragte. Hinkelammert ist Autor umfangreicher Arbeiten zu gesellschaftspolitischen Fragen und Mitglied des ökumenischen Forschungswerkes in Costa Rica.

ALAI: Sie haben darauf hingewiesen, daß die Abnutzung des

Begriffes „Neoliberalismus“ dazu führte, von „Globalisierung“ zu

sprechen und angesichts der Abnutzung dieses Begriffes sich

„Mundialisierung“ (Mundialización) durchsetzen würde. Können Sie dies ein bißchen genauer erklären?

Hinkelammert: In seinen Ursprüngen ist der Neoliberalismus eine Denkschule, keine Politik, obwohl er Politikberatung gibt. Es ist die Denkschule von Chicago, in der Freedman und Hayeck die Hauptvertreter waren. Von Chile aus wandelte sich der Neoliberalismus zum Namen einer bestimmten Wirtschaftspolitik, weil die Chilenen, die diese Politik durchführen, die „Chicago boys“ sind, will sagen, mit den Lehren der neoliberalen Chicago- Schule verbunden sind. So taucht in Lateinamerika diese Politik auf, die sich neoliberal nennt, die streng genommen aber nicht völlig mit dem übereinstimmt, was die Chicago-Schule lehrt. In jedem Fall handelte es sich um eine Strukturanpassung, als sie formalisiert wurde, aber das Modell war der Neoliberalismus. So fand dieser Eingang in den Sprachgebrauch und die Anhänger*innen der Strukturanpassung nannten sich später Neoliberale, ohne notwendigerweise aus Chicago zu kommen. Außerdem besteht kein Zweifel daran, daß Strukturanpassung und Neoliberalismus sich miteinander identifizieren.

So kam es, daß die Kritik an der Strukturanpassung zur Kritik am Neoliberalismus wandelte. Dies wiederum führte dazu, daß sich die Parteigänger*innen der Strukturanpassung vom Wort neoliberal distanzierten. Sie wiesen darauf hin, der Neoliberalismus werde in Chicago gelehrt und sie könnten ihn nicht anwenden. Sie erklärten, wir sind Liberale und keine Neoliberalen. Danach kam das Wort „Globalisierung“ auf: eine tatsächliche Globalisierung und eine Ideologie der Globalisierung. Wenn sie diese -nderungen vornehmen, können sie das machen, aber es sind die Entwicklungen von Wörtern in Bezug auf Konzepte. Darum ist nicht angebracht, endgültige Wörter zu suchen. Die Worte ändern sich, vor allem heute, wo es es so etwas wie einen Krieg der Wörter gibt, bei denen diese wie Stellungen benutzt werden: ich muss dieses Wort gebrauchen, ich darf dieses nicht mehr benutzten, ich muß ein anderes erfinden, um den Gegenüber ohne Verteidigung zu lassen. So nach dem Motto, wenn dieser sich nach einem Wort richtet, dann darf ich es nicht mehr benutzen.

ALAI: Welche Bedeutung geben Sie dann im Streit der Wörter dem Begriff „Globalisierung“?

Hinkelammert: Ich benutze diesen in dem Sinne der globalen Bedrohungen, die auftauchen. Aber ich bringe jetzt immer das Wort Totalisierung ein für das, was sie Globalisierung nennen. Denn es handelt sich um die Totalisierung der Märkte: Totalisierung gegenüber der Globalisierung. Das mache ich und dazu habe ich alles Rechte vor allem in einer Zeit, in der sie vom Wort Globalisierung Abstand nehmen, um dem ganzen einen anderen Sinn zu geben. Jetzt sprechen sie von Mundialisierung, doch die Mundialisierung ist ebenfalls Totalisierung.

ALAI: Welches sind diese globalen Bedrohungen, von denen Sie sprechen?

Hinkelammert: Die globale Bedrohung fängt mit der Atombombe an, geht weiter mit der Umweltkrise und danach mit der Gentechnologie, die völlig neu ist. Außerdem glaube ich, ist da die Bedrohung, die aus dem Ausschluß der Bevölkerung resultiert. Das ist auch eine globale Bedrohung, die auf das System zurückwirkt.

ALAI: Würden Sie nicht die Tatsache einschließen, daß ebenfalls auf globaler Ebene sich die Wirtschaftstechnokrat*innen gegenüber der politischen Macht durchsetzen?

Hinkelammert: Natürlich, aber das ist mit der Totalisierung der Märkte verbunden. Diese Technokrat*innen, die jetzt weltweit den Markt durchsetzen, geraten mit den globalen Bedrohungen in Konflikt. Diese erhöhen sich in dem Maße, in dem sich die Märkte totalisieren. In dem Maße, in dem sich die Märkte durchsetzen, gibt es Krise, aber es ist nicht eine Krise der Märkte, sondern eine Krise aller möglichen Art, der Bevölkerung, der Natur, usw. Diese Krise spielgelt sich nicht den der Ökonomie wider – der geht es besser, je größer die Krise – was die Kapitalanhäufung angeht. Die Arbeiter*innen sind weder Teil der Wirtschaft noch des Reichtums obwohl sie dafür arbeiten.

Den Markt totalisieren bedeutet, Institutionen zu totalisieren, denn es müssen nur Grundprinzipien angewandt werden. Ein Grundkriterium, das mir sagt: freier Handel, Freiheit für das Kapital – spekulativ oder nicht -, Privatisierung der produktiven Teile des Staates, Umwandlung des Staates in eine Maschine, die Anreize zahlt, die das Kapital subventioniert. Das alles in seiner Gesamtheit ist als Verfahren konzipiert und wenn ich nichts anderes als Prinzipien anwenden muß, brauche ich keine Politik betreiben, nur durchsetzen… Und wenn die Leute nicht wollen, muß ich schießen und da wird die Diktatur der Nationalen Sicherheit logisch, die es zu Beginn dieser Politik in Lateinamerika und in fast allen Ländern gab.

Die Politiker*innen wandeln sich daher in diese angepaßtere Figur, um durchzusetzen, was durchgesetzt werden muß und was von einer Technokratie diktiert ist. Wir sagen Technokratie, aber in Wirklichkeit sind es gigantische Bürokratien: Internationaler Währungsfonds, Weltbank, es sind staatliche Bürokratien, nicht private, aber sie gehen mit der Unterstützung der Privatwirtschaft vor. Die Schlüsselentscheidungen kommen aus den USA und die US- Regierung trifft sie. Aber diese staatlichen Bürokratien sind diejenigen, die die Politik der Strukturanpassung durchsetzen. Es gibt die Durchsetzung eines Akkumulationsmodells und zwar weltweit. Aber dieses Akkumulationsmodell nimmt auf die Globalität der Erde keine Rücksicht.

GUATEMALA

USA und Europa geben Geld für Friedensprozeß frei

(Antigua, 11. September 1997, cerigua-Poonal).- Trotz ihrer Beunruhigung über die verzögerte Durchsetzung einer Steuerreform und die nach wie vor bestehende Straffreiheit im Justizsystem werden vom Ausland weitere 395 Millionen Dollar für die Umsetzung des Friedensabkommens freigegeben. Darauf einigte sich die sogenannte Beratungsgruppe, in der Japan, Kanada, Scheden, die USA sowie vier internationale Banken vertreten sind. Insgesamt sind Guatemala 1,9 Milliarden US-Dollar an Schenkungen und Krediten zugesagt worden, von denen bisher etwa ein Drittel ausgezahlt wurde. Die Beratungsgruppe hörte sich die Berichte mehrerer Kommissionen an, die im Rahmen der Friedensabkommen zwischen Regierung und Guerilla entstanden. Sie äußerte sich im allgemeinen sehr zufrieden über die Anstrengungen im Land, mahnte aber zum wiederholten Male höhere Steuereinnahmen an. Miguel Martínez, Vertreter der Interamerikanischen Entwicklungsbank erklärte, die Guatemaltek*innen, die mehr hätten, sollten auch eine größere Steuerlast tragen. Die Regierung spricht von einer Einnahmensteigerung um 27 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Die Steuerquote wird in diesem Jahr voraussichtlich auf 8,6 Prozent steigen, sie liegt damit aber noch deutlich unter der für das Jahr 2000 anvisierten Marge von 12 Prozent.

Mitglieder der Beratungsgruppe kritisierten außerdem die Straffreiheit an, die Kriminelle in Guatemala genießen. Sie drängten die Regierung zudem, die Friedenshilfe den hilfsbedürftigsten Bevölkerungsgruppen zukommen zu lassen. Verschiedene Organisationen der Zivilgesellschaft kamen zu dem Treffen, um ihre Bewertung des Friedensprozesses einzubringen. Da dies im offiziellen Programm jedoch nicht vorgesehen war, konnten sie nur ein improvisiertes Gespräch mit Mitgliedern der Gruppe erreichen.

Paramilitärs üben immer noch Einfluß aus

(Quiché, 24. September 1997, pulsar-Poonal).- In den Friedensabkommen mit der Guerilla hat die guatemaltekische Regierung die Auflösung der paramilitärischen Zivilpatrouillen (PAC) zugesagt. Tatsächlich sind einige Gruppierungen aber nach wie vor aktiv. Der Rat der ethnischen Gemeinschaften „Runujel Junam“ (CERJ) gab bekannt, daß zehn Familien bei ihrer Organisation Zuflucht gesucht haben. Sie verließen ihr Land und ihre Häuser aus Furcht vor den Paramilitärs. Diese hatten ihnen nach Aussage von CERJ-Vertreter Miguel Sucuqui mit Gewalt gedroht. Die Familien hatten sich für die Freilassung von sieben Dorfmitgliedern eingesetzt, die sich in den Händen der Armee befinden. Die Campesinos wurden von den Soldaten ohne ersichtlichen Grund festgenommen, gefoltert und danach zur Abschreckung vorgeführt. Die zehn geflüchteten Familien warten auf die Ankunft der UNO-Mission zur Internationalen Überprüfung der Menschenrechte in Guatemala (MINUGUA), von deren Delegiert*innen sie sich Hilfe erhoffen.

PARAGUAY

Colorados wählen Oviedo

(Asunción/Mexiko-Stadt, 24. September 1997, pulsar-Poonal).- Nach einer schleppend langsamen Stimmenauszählung, die sich über mehr als zwei Wochen hinzog, ist General Lino Oviedo zum Präsidentschaftskandidaten der regierenden Colorado Partei erklärt worden. Das partei-interne Wahlgericht erkannte ihm einen Vorsprung von 11.200 Stimmen gegenüber seinem schärfsten Rivalen Luis María Argaña zu. In Prozenten ausgedrückt, siegte er mit 36,7 zu 34,9 Prozent. Im April vergangenen Jahres hatte Oviedo sich gegen den amtierenden Präsidenten und Parteikollegen Carlos Wasmosy erhoben. Er fand innerhalb der Armee jedoch trotz vieler Sympathien keine putschbereite Mehrheit. Wasmosy erklärte, die Ergebnisse der Kandidatenwahl zu akzeptieren. Er werde Oviedo jedoch nicht unterstützen. Das Oppositionsbündnis von der Radikal- Authentischen Liberalen Partei und der Partei Nationale Begegnung (Encuentro Nacional) wird am kommenden Sonntag seinen gemeinsamen Kandidaten bestimmen. Die Präsidentschaftswahlen sind für den 10. Mai 1998 vorgesehen. In den zurückliegenden Wochen hatten die internen Wahlen der Colorado Partei die Parlamentsarbeit praktisch zum Stillstand gebracht. Mehr als 50 Gesetzesentwürfe, zum Teil als dringend eingestuft, blieben liegen. Mitglieder aus der Wirtschaft sowie politische Beobachter*innen befürchten, die Wahl des gescheiterten Putschisten Oviedo werde die Krise in Paraguays Wirtschaft und Politik eher verschärfen als beruhigen. Der Politologe Carlos Martini erklärte gegenüber der Nachrichtenagentur Reuter: „Zweifellos ist die Wahl Oviedos ein Votum für die Greuel unserer Vergangenheit… Er ist ein Putschmilitär mit faschistischen Eigenschaften, der seine tiefe Verachtung gegenüber der Verfassung und den Gesetzen bewiesen hat.“

ECUADOR

General spricht sich für Diktatur aus

(Quito, 22. September 1997, pulsar-Poonal).- Interimspräsident Fabián Alarcón hat den General Rene Yandun als Kommandant der Dritten Division der Streitkräfte abgesetzt. Die Entscheidung fiel nach einer Dringlichkeitssitzung mit führenden Militärs. Yandun hatte erklärt, die Ecuadoreaner*innen wünschten sich eine neue Diktatur. Er habe „von führenden Persönlichkeiten gehört, alle Welt wolle eine Diktatur, eine absolute harte, feste und energische Diktatur“, so der General im Radio. Man müsse „ein neues Regierungssystem suchen, da das soziale Gefüge zusammenbricht“, verkündete Yandun weiter. Verteidigungsminister General Ramiro Ricaurte erklärte, die ecuadoreanischen Streitkräfte seien zutiefst demokratisch. Eine Äusserung durch einen hohen Offizier der Armee könne die Demokratie nicht zerstören. Der diktaturfreundlich General soll sich unterdessen in Militärhaft befinden, bis eine Sonderkommission über seine mögliche Bestrafung entschieden hat.

LATEINAMERIKA

Parlament und Kirchen für Schuldenstreichung

(Caracas, 10. September 1997, alc-Poonal).- Angesichts des nahenden VII. Iberoamerikanischen Gipfels koordinieren die Lateinamerikanische Bischofskonferenz (CELAM) und das Lateinamerikanische Parlament (PARLATINO) ihre Haltungen zu Auslandsschuld und Armut. CELAM-Vorsitzender Bischof Oscar Rodríguez sowie PARLATINO-Präsident Juan Adolfo Singer aus Uruguay trafen sich jüngst anläßlich eines Besuches bei Venezuelas Staatschef Rafael Caldera. Venezuela wird am 8. und 9. November Gastgeberland für den Gipfel sein. Beobachter*innen glauben, daß beim Treffen mit Venezuelas Staatsoberhaupt eine gemeinsame Linie festgelegt wurde: Die Auslandsschuld muß gestrichen werden.

Nach dem Besuch veröffentlichten CELAM, PARLATINO und die Lateinamerikanische ArbeiterInnenzentral (CLAT) ein Dokument zum Gipfeltreffen. Darin heißt es: „Wir schließen uns dem Übereinkommen des Lateinamerikanischen Parlamentes an, die Unlauterkeit von Zins- und Schuldendienst der Auslandsschuld anzuklagen, und folgen dem Aufruf von Papst Johannes Paul II., sie zum Jahrtausendwechsel zu streichen“. Ein gemeinsames Dokument dieser Art ist in der Region bisher beispiellos. Ebenso gehen die drei Institutionen auf das Thema der Ungerechtigkeit und der Spaltungen ein: „Wir teilen Armut, Elend und sozialen Ausschluß, unter dem Lateinamerika heute leidet… Bestimmte Interessen aber verstehen unser geeintes Lateinamerika nicht, bzw. sie möchten es ungern so sehen.“

Eine inhaltlich weitgehend gleiche Auffassung vertritt die zweite große kirchliche Regionalorganisation, der Lateinamerikanische Kirchenrat (CLAI). Dessen Vorsitzender, der brasilianische Theologe Walter Altmann, sieht die Schuldenstreichung als gerecht und außerdem notwendig an, um die Zukunft der Völker zu retten. „Die Schuld wurde schon bezahlt“, sagt er. „Die Kapitalzinsen waren so hoch, daß die Kredite vollständig beglichen sind „, so Altmann bei einem Aufenthalt in Argentinien. Zu den politischen Möglichkeiten der Initiative äußert er sich vorsichtig: „Das ist in dem Maße machbar, in dem sich die Kräfte mehr und mehr im Hinblick auf dieses Vorhaben einen. Wir brauchen eine sehr starke Bewußtseinsbildung in den Ländern der Dritten Welt, aber ebenso breiten Druck der internationalen öffentlichen Meinung.“ Die Rolle der Kirchen in der sogenannten Ersten Welt sieht er dabei als „fundamental“ an.

In seiner typischen Zurückhaltung hat Venezuelas Präsident Caldera es bisher vermieden, sich zu den Forderungen und Treffen bezüglich des Themas Auslandsschuld öffentlich zu äußern. Laut den Organisator*innen sagte er im vergangenen Juli sogar in letzter Minute seine Teilnahme an einem Seminar ab, daß das PARLATINO und das venezolanische Parlament abhielten, während CELAM-Vorsitzender Bischof Rodríguez anwesend war. Das Wirtschaftsinstitut SELA mit Sitz in Caracas veröffentlichte Zahlen, nach denen die Auslandsschuld Lateinamerikas in den vergangenen 21 Jahren (1975- 96) um fast 900 Prozent gestiegen ist. Von knapp 70 Milliarden Dollar erhöhte sie sich auf über 600 Milliarden Dollar. Sie ist derzeit das „größte Finanzproblem der Region“, so das Fazit des Instituts.

CHILE

Militär akzeptiert nur die eigene Justiz

(Santiago de Chile, 17. September 1997, alc-Poonal).- Nur sechs Monate fehlen, dann muß General Augusto Pinochet seinen Posten als Streitkräftechef räumen. So sieht es die Verfassung vor, die noch unter dem Militärregime verabschiedet wurde. Für die Militärgerichtsbarkeit ist das ein Wettlauf gegen die Zeit. Die Militärs versuchen, alle Anklagen wegen Menschenrechtsverletzungen in ihre Zuständigkeit zu bringen und das von der Diktatur verabschiedete Amnestiegesetz anzuwenden. So lautet die Bilanz der Stiftung für Soziale Hilfe der Christlichen Kirchen (FASIC), die seit Jahren um die Aufklärung der Menschenrechtsverletzungen durch das Militärregime von Pinochet in den Jahren 1973 bis 1990 kämpft. Mit Pinochet wird auch General Fernando Torres Silva, der oberste Militärrichter, im März 1998 in den Ruhestand versetzt werden. Dieser versucht, in den letzten Monaten seiner Amtszeit alle Prozesse, in denen Mitglieder der Streitkräfte vor zivilen Gerichten angeklagt sind, auf Militärgerichte zu übertragen.

FASIC sieht es als ermutigend an, daß der oberste chilenische

Gerichtshof dabei ist, die Rechtsprechung zum Amnestiegesetz zu

überprüfen. Die Stiftung weist aber gleichzeitig auf die ihrer

Meinung nach unzulängliche Justizverwaltungsreform hin, die die Regierung von Präsident Eduardo Frei durchsetzen will. Eine Änderung der Militärjustiz, die während der Diktatur große Macht anhäufte, ist nicht vorgesehen. Die tiefgehende Krise des chilenischen Justizsystems führt FASIC im wesentlichen auf die Straffreiheit zurück. Zudem seien die Menschenrechte im Regierungsprogramm von Frei abwesend. Hervorgehoben wird der Fall der Colonia Dignidad, die von dem Deutschen Paul Schäfer gegründet und geleitet wurde. Die Regierung geht trotz vieler Anklagen gegen die Siedler*innen immer noch halbherzig gegen die Kolonie vor.

Die Stiftung listet in ihrer Bilanz die noch nicht abgeschlossenen Prozesse wegen Menschenrechtsverletzungen in Chile auf. Dreizehn von ihnen werden vor dem Obersten Gerichtshof geführt, weitere acht kommen wegen Streits um die Zuständigkeit nicht voran. Sieben Prozesse befinden sich vor dem Berufungsgericht. Vor der Interamerikanische Menschenrechtskommission (CIDH) sind 31 Fälle wegen verhafteter und danach verschwundener sowie hingerichteter Personen anhängig. Vor dem Menschenrechtskomitee der UNO werden acht Fälle verhandelt.

HONDURAS

CIA gewährt Blick in die Akten – brisante Stellen sind geschwärzt

Von Paul Jeffrey

(Tegucigalpa, 19. September 1997, alc-Poonal).- Der „schmutzige Krieg“ ist vorbei. Jetzt wollen die Mittelamerikaner*innen den Schleier entfernen, der die Gewalttaten und Verbrechen gegen die Bevölkerung nach wie vor umhüllt. Behörden und Aktivist*innen in Honduras haben nun Zugang zu Dokumenten über die Menschenrechtsverletzungen in den 80er Jahren erhalten. Sie wurden am 29. August 1997 vom CIA freigegeben. Die Aktion geht auf eine 1995 abgegebene Bitte des honduranischen Menschenrechtsbeauftragten der Regierung, Leo Valladares zurück. Dieser hatte zuvor erfahren müssen, daß die honduranischen Generäle ihre Archive über die 80er Jahre wohlweislich verbrannt hatten.

Einige der insgesamt 300 Seiten Dokumente weisen nur zwei oder drei Sätze auf, der Rest wurde von der CIA unkenntlich gemacht. Dennoch entgingen den Zensor*innen einige aufschlußreiche Details. „Es gibt neue Untersuchungsspuren. Es handelt sich um eine Arbeit, die viel Geduld erfordert und wir haben sie“, sagt Valladares. So kam unter anderem die Anwesenheit eines CIA-Agenten während des Verhörs von Ines Consuelo Murillo Schwaderer im Jahr 1983 zum Vorschein. Die Anwältin wurde damals 78 Tage lang in geheimen Zellen des Bataillon 3-16, der Todesschwadron der Militärs, gefoltert. Murillo „erhielt wiederholt Elektroschocks und wurde in ein Wasserfaß getaucht“, heißt es im CIA-Bericht. Der nicht identifizierte Agent habe gegen die Mißhandlung von Murillo protestiert, sei aber während des Verhörs außerhalb des Zimmers geblieben. Während die Anwältin gefoltert wurde, las der Agent ihre Antworten, die ihr die in den USA ausgebildeten honduranischen Soldaten bei vorherigen Verhörs gestellt hatten.

Murillo selbst hat über die Besuche eines als nordamerikanischen Agenten präsentierten „Mister Mike“ berichtet, während sie gefoltert wurde. Vor dessen Besuchen wurde ihre Zelle gesäubert und sie durfte sich waschen. US-Offizielle hatten bisher immer abgestritten, von „illegalen Verhaftungen und Folterungen“ zu wissen. Valladares bezeichnet die jetzt veröffentlichten Dokumente als „einseitig“. Sie beziehen sich hauptsächlich auf die Aktivitäten der Linken, Berichte über Aktivitäten der Militärs sind dürftig. „Mein Eindruck ist, sie versuchen die Regierungsaktionen zu rechtfertigen“, meint der Menschenrechtsbeauftragte. Valladares klagt auch wiederholt die Streitkräfte an, weil sie Offiziere versteckt halten, die von den einheimischen Gerichten gesucht werden. Sie sollen sich wegen ihrer Rolle beim Verschwindenlassen von 184 Honduraner*innen zwischen 1980 und 1993 verantworten. Valladares glaubt nicht an eine wirkliche Wandlung der Militärs. „Die Geheimdiensteinrichtungen der Streitkräfte werden benutzt, um bestimmte politische Gruppen zu erpressen und zu kontrollieren“, ist er überzeugt. „Sie überprüfen weiterhin die Zivilist*innen. Ihre Methoden haben sich nicht geändert. Es ist eine Institution, die sich dem Wandel entgegenstellt und die nicht akzeptiert, daß wir im Jahr 1997 und nicht in den 60ern leben.“

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