(Montevideo/Bogotá, 14. Juni 2020, colombiaplural).- Seit Jahrzehnten befasst sich Raúl Zibechi mit der Untersuchung von Widerstandsbewegungen und der Beobachtung von Völkern, Nationen, Kollektiven und Bevölkerungsteilen, die in Lateinamerika gegenhegemoniale Kämpfe führen. Als Schriftsteller und Aktivist hat er sich dem Verständnis der Praktiken und Strategien der Gegenbewegungen von unten verschrieben. In einem virtuellen Dialog quer durch den Kontinent von Uruguay nach Kolumbien sprachen wir etwas mehr als eine Stunde lang angeregt über die letzten 20 Jahre politischer Praxis in Lateinamerika. Dabei blieb die institutionelle Politik der Regierungen und Staaten außen vor, denn für die interessiert sich Zibechi nicht besonders. Dafür befassten wir uns mit der Kunst der Lebensbewältigung, die die Menschen in ihren Territorien im ständigen Widerstand gegen ein immer heftiger agierendes neoliberales kapitalistisches Modell entwickelt haben.
Mit dem Sturz von Evo Morales haben mit Ausnahme Venezuelas die wichtigsten so genannten progressiven Regierungen Lateinamerikas aufgehört zu existieren. Inwieweit haben diese Regierungen gegen die koloniale, kapitalistische und patriarchale Logik gekämpft oder versucht, sie zu transformieren?
Ich glaube, dass die meisten dieser Regierungen nie ernsthaft in Betracht gezogen haben, sich dem Kapitalismus entgegenzustellen. Ich würde sogar sagen, überhaupt keine. Auf der Diskursebene vielleicht noch die Regierungen von Evo Morales und Hugo Chávez, aber die meisten begnügten sich mit der Verbesserung des Einkommens in den verschiedenen Sektoren der unteren Bevölkerungsschichten, sozialpolitischen Maßnahmen und verschiedenen Arten von Hilfe, aber nichts darüber hinaus. Lula, die Kirchners, Mujica und Tabaré beschränkten sich darauf, die Bedingungen zu verbessern und haben damit den Kapitalismus eigentlich nur weiter verfestigt.
Was das Patriarchat angeht: Evos Regierung war eklatant patriarchal, und das erklärtermaßen. Einige linke Regierungen haben Gesetze zu Gunsten von Frauen erlassen, aber sie haben es den Frauen in keiner Weise erleichtert, sich zu organisieren und mehr Macht zu haben. Sie platzierten einige Frauen in verschiedenen Machtbereichen, in Institutionen, einige in sehr prominenten Positionen, aber das hat nichts mit einer antipatriarchalen Positionierung zu tun. Dass der Staat eine Institution ist, die der patriarchalen und kolonialistischen Logik folgt, wurde in der öffentlichen Debatte nicht einmal erwähnt.
Wobei die Frage des Kolonialismus komplizierter ist. Tatsächlich gab es Regierungen wie die von Evo Morales, die die Entkolonialisierung Boliviens auf die Agenda gesetzt und einige interessant Schritte unternommen hat, ob man diese nun teilt oder nicht. Evo hat die Zahl der indigenen Frauen und Männer in staatlichen Positionen erhöht. Irgendwann hat er sogar davon gesprochen, das Justizsystem umzugestalten und eine Mischform aus staatlicher Gerichtsbarkeit und Rechtsinstanzen der indigenen Gemeinden aufzubauen. Im Endeffekt waren die Errungenschaften dieser Regierung jedoch sehr begrenzt, weil sie die sozialen indigenen Organisationen massiv unterdrückt hat, damit hat sie in dieser Hinsicht kein gutes Vorbild abgegeben. Tatsache ist, dass die Entkolonialisierung des Staates nicht vom Staat aus erfolgen kann, weil der Staat selbst eine koloniale Institution ist. In Lateinamerika ist der Staat ein Überbleibsel der Kolonien, der Kreolen, die aus der Kolonisierung hervorgingen und die kolonialen Beziehungen beibehalten haben. Es ist der innere Kolonialismus, die von Aníbal Quijano erwähnte Kolonialität der Macht. Was immerhin passiert ist: Indirekt wurden innerhalb der indigenen Bevölkerung Selbstachtung und Stärke gefördert.
Welche sozialen Bewegungen oder Kämpfe haben es Ihrer Meinung nach in den letzten 20 Jahren geschafft, den Widerstand gegen das hegemoniale Modell fortzusetzen, im Gegensatz zu jenen, die, wie Sie es in Ihren Büchern ausdrücken, „kein Risiko mehr darstellen, weil die politischen Systeme gelernt haben, sie in ihre Praxis einzubeziehen“?
Also, im Cauca in Kolumbien gibt es diese zwei Dynamiken: Da ist der CRIC (Regionaler Indigener Rat von Cauca) mit einem gewissen Grad an Bürokratisierung und Institutionalisierung, und dann gibt es auch die Initiative „Liberación de la Madre Tierra“ (Befreiung der Mutter Erde) oder die regionalen Stützpunkte des CRIC, denn die Arbeit des CRIC ist nicht gleichzusetzen mit dem, was die Indigene Garde macht, oder nimm zum Beispiel das Volk der Coconuko und andere Gemeinschaften: Sie kümmern sich um ihre Territorium, sie machen Tauschmessen. Ich denke, wenn man sich die „Institution soziale Bewegung“ anschaut, erhält man einen bestimmten Eindruck, und wenn man sieht, was die Menschen in ihren Territorien tun, erkennt man, dass auf lokaler Ebene noch ganz andere Dinge passieren: Die Menschen kämpfen gegen Kapitalismus, gegen Patriarchat und Kolonialismus. Mit der brasilianischen Landlosenbewegung (MST) ist es dasselbe wie beim CRIC: Wenn du dir anschaust, was in den MST-Siedlungen passiert, dann findest du da Frauengruppen, LGTBI-Kollektive, und man kann einige sehr interessante Projekte zur Ausweitung der eigenen Nahrungsmittelproduktion beobachten usw.
Wir haben es mit einigen emanzipatorischen, antikapitalistischen, antikolonialen Praktiken zu tun, die keineswegs marginal sind. Vielleicht ist die zapatistische Bewegung nach wie vor diejenige, wo die diese Praktiken am weitesten verbreitet sind und am konsequentesten umgesetzt werden, aber es gibt sie auch unter den Mapuche (auch wenn es ebenfalls Mapuches gibt, die sehr stark in die institutionalisierte Struktur eingebunden leben). Man findet sie in der Autonomie der Wampis im Norden Perus, wo es eine autonome Regierung gibt, man findet sie unter den kolumbianischen Bauernbewegungen, die im Zuge der Pandemie ihre eigenen Gärten angelegt haben. Außerdem gibt es die Struktur der Regionalversammlungen, wie wir sie aus Santiago de Chile oder Valparaiso oder auch aus einigen Favelas kennen.
Ich denke, wir können nicht mehr sagen, die „Bewegung soundso“ kämpft für die Emanzipation. Das funktioniert nicht. Man muss besser hinsehen. Zwar ist die Bürokratisierung generell eine Praxis, die das Patriarchat, den Kapitalismus usw. reproduziert, in den Bewegungen selbst gibt es aber durchaus andere Praktiken, die dieses Prinzip umkehren, so dass es sehr schwierig ist zu verallgemeinern – ausgenommen der Zapatismus, den betrachte ich als eine ziemlich homogene Bewegung.
Sie haben mehrmals erklärt, dass die zweistufige Strategie „Erst die Macht übernehmen und dann die Welt verändern“ nicht mehr funktioniert. Was wären die wichtigsten aktuellen Strategien der heutigen territorialen Kämpfe gegen den so genannten „Krieg gegen das Volk“, den Extraktivismus, das neoliberale Modell?
Ich glaube, eine grundlegende Strategie, sowohl in der Stadt wie auf dem Land, lautet: Wiedergewinnung des Territoriums. Das Territorium ist ein Basisaspekt, deshalb sind die Einheimischen, die Bauern und einige städtische Randgebiete, die über ein bestimmtes Gebiet verfügen, in einer besseren Position. Und das Interessante ist: Selbst in Städten kann man beobachten, wie Sektoren der feministischen Bewegung beginnen, sich ihren Raum zu nehmen: In Santiago finden Sie ein Netzwerk verschiedener feministischer Gruppierungen. Diese Raumnahme ist eine langfristige Strategie, man sieht sie bei den Zapatist*innen, bei den Kurd*innen, bei den Landlosen, und sie betrifft einen fundamentalen Aspekt.
Ein zweites Element ist für mich das Streben nach Autonomie. Autonomie der Nahrungsmittel- und Trinkwasserversorgung und der Gerichtsbarkeit. Frauen brauchen ihre eigenen autonomen Räume: Die Zapatistinnen zum Beispiel haben in jeder Gemeinde ihre eigenen Gemüsegärten, ihre Kaffeeplantagen, ihre Hühnerställe, damit sie nicht hingehen und irgendeinen Mann, den Ehemann oder eine Machtinstanz um etwas bitten müssen. Es ist von grundlegender Bedeutung, dass kein Staat im Staat aufgebaut wird, dass man so wenig wie möglich oder gar nicht vom Staat abhängig ist und dass die neugeschaffenen Institutionen zur Konfliktlösung oder zur eigenen Weiterentwicklung keine Nachbildungen des Staates sind, deshalb spreche ich vom Aufbau nichtstaatlicher Mächte. Die Räte der Guten Regierung in Chiapas und anfangs auch die Cabildos in Kolumbien folgten nicht der Logik des Staates, aber im Falle Kolumbiens kam die Verfassung von 1991 mit ihren satten Förderungen, und damit wurde in den Cabildos dieselbe vertikale Logik des Staates reproduziert, und eins ihrer Schlüsselelemente ist die Bürokratie. In den Landgemeinden ist es leichter, mit einem Rotationsprinzip zu arbeiten, um die hierarchische Logik auszuhebeln. In Lateinamerika ist Hierarchie immer kolonialistisch und patriarchal und ebnet den Weg für die Reproduktion des Kapitalismus, anstatt ihn zu transformieren. Hierarchische Praktiken ebenso wie das Konzept Staat sind die wichtigsten Einstiegspforten für den Kapitalismus. Um es auf den Punkt zu bringen: Raumnahme, Autonomie und Gemeinschaftspraktiken, die der Herausbildung von Hierarchien vorbeugen, sind die wichtigsten Bestandteile einer effektiven Strategie.
Also wären Mobilisierungen, die sich auf Forderungen an den Staat beziehen, nicht sinnvoll?
Die Demonstration begann als eine Parade der Arbeiterklasse, die sich ihrem Erscheinungsbild nach an der kirchlichen Liturgie oder an Militärparaden orientierte, um bestimmte Forderungen an den Staat oder an den Arbeitgeber zu richten. Aber es gibt noch eine andere Art von Demonstration: Die Minga [indigener Protest von Kleinbäuer*innen und sozialen Bewegungen], die in Kolumbien entstand, ist keine klassische Demonstration, sie besteht sozusagen aus zwei Teilen: zum einen die Minga, die die Arbeiter*innen der Zuckerfabriken im Cauca, die Student*innen und andere Sektoren der Gesellschaft mit einbezog. Die Allianz von unten zog unter dem Schutz der Guardia Indígena nach Bogotá, um den Präsidenten herauszufordern. Das war eine Vorgehensweise. Zum anderen die Minga, die sich auf Verhandlungen und Bündnisse mit dem Staat einlässt, um einen weiteren Sitz im Parlament oder eine bestimmte finanzielle Unterstützung zu bekommen. Die Mobilisierung hatte also zwei Stoßrichtungen, und ich bleibe bei der Minga, die mit der Bildung des Kongresses der Völker endete.
Sie schreiben in Ihrem Buch, dass „die in Armut lebenden Menschen Lateinamerikas einen Völkermord erleiden“. Inwieweit tragen die Menschen in den europäischen Ländern, die weiße Mittelschicht, Verantwortung bei diesem Völkermord, und was sollten sie tun? Wie könnte echte internationale Solidarität oder globale Gerechtigkeit aussehen?
Sie können nur zwei Dinge tun. Erstens: Solidarisch sein, das heißt, fragen: „Was braucht ihr?“, das wurde in Chiapas viel gemacht. Über die Frage, wie Hilfe aussehen kann, gab es einige starke Konflikte. García Márquez hat das folgendermaßen auf den Punkt gebracht: „Sie schicken uns einen einzelnen rosafarbenen Absatzschuh in den Dschungel“ und sich damit ein wenig ironisch auf die Politik der NGOs bezogen, die immer sagen: „Hier, nehmt dies und nehmt das“. Aber die wirkliche Solidarität besteht darin zu fragen: „Was braucht euer Volk?“, und wenn dann die Antwort kommt: „Wir müssen einen Gemeinschaftsradiosender einrichten“ oder „Wir müssen ein Forschungszentrum ausbauen“, dann geht es eben darum, genau dafür die Mittel zu organisieren.
Die andere Möglichkeit zu helfen bestünde darin, eine Revolution in Europa zu machen, aber das liegt noch in weiter Ferne. Einige Veränderungen hat es ja seit der Krise von 2008 schon gegeben. Zum Beispiel sage ich den Katalan*innen immer, schön und gut, dass es Can Masdeu und Can Batlló (selbstverwaltete Sozialzentren in Katalonien) gibt, davon bräuchte es allerdings 200, dann hätte Unabhängigkeit wirklich etwas mit Autonomie, mit Revolution, mit sozialem Wandel zu tun. Aber mit einem Can Masdeu und einer Genossenschaft dort drüben funktioniert das nicht. Wenn es tausend wären, dann sähe die Sache anders aus. Ich glaube, dass wir in der Lage sind, die Zeiten der Solidarität Europas mit Lateinamerika hinter uns zu lassen, denn Solidarität ist immer eine Subjekt-Objekt-Beziehung, und uns als Gleiche zu begegnen, und beide Seiten leisten ihren Beitrag. Ich glaube, dass das unser Weg ist, und das ist sehr wichtig, denn indem immer mehr Can Batllós, Can Masdeus und kommunale Räume geschaffen, immer mehr Erfahrungen mit Raumnahme gemacht werden, bewegen wir uns Stück für Stück nach vorne. Ich wünsche mir, dass wir in diese Richtung gehen.
Sie sagen auch, dass „wir uns im Anfangsstadium eines tiefgreifenden Bruchs mit dem eurozentrischen Denken befinden“. Die jüngsten Massenmobilisierungen in Chile und Kolumbien gingen teils in diese Richtung, aber zum Beispiel in Bolivien geschah das genaue Gegenteil. Was die Massen angeht, die tummeln sich in den Einkaufszentren, und die meisten Leute haben ein Smartphone. Wo soll der Bruch denn nun herkommen?
Ich denke, er kommt von mehreren Seiten. Erstens, durch die Fortführung nichtkapitalistischer Praktiken wie die Tauschbörsen der Coconukos im Cauca, der Austausch von Produkten zwischen dem Hochland und dem Flachland; und dabei geht es nicht um den Tausch von Äquivalenten, von Gleichwertigkeit im Sinne von ein Kilo gegen ein Kilo, es geht um Bedürfnisse, um Gebrauchswerte. Wenn im Volk der Misak die Entscheidung getroffen wird, den Blick nach innen zu richten, gehen viele Gemeinschaften an die Seen, steigen auf Berge und entwickeln eine Spiritualität, die auf einer gemeinsamen Weltsicht basiert. Antikoloniales oder dekoloniales Denken ist kein Intellektueller, der über Antikolonialismus schreibt, es ist kein Buch über Dekolonisierung, das die gleiche koloniale Logik der Zentralität des geschriebenen Worts aufrechterhält. Die Tulpa – der heilige Raum einiger Indigener aus dem Cauca-, das Lagerfeuer, das Ritual in der Lagune usw. und im Falle der Afro-Nachkommen die Trommel oder der Tanz sind dekoloniale Praktiken, die den Körper einbeziehen. Die dekoloniale Praxis ist vielfältig. Diskurs ist schön und gut, aber was ist mit dem Körper, den Ritualen, der Heiligkeit? Und der Tanz und die Liebe oder die Beziehung zu Mutter Erde, wo sind sie?
Zweitens: Es gibt keine Dekolonisierung ohne Konflikt, ohne Kulturclash. Manche meinen, das Patriarchat verschwindet von selbst, wenn man immer schön „*innen“ anhängt, den Diskurs ändert, ihn depatriarchalisiert. Dabei geht es um viel mehr. Es geht um eine komplette Neubewertung ausgehend vom individuellen Körper, von der Gemeinschaft und von der Umwelt.
Zwischen 2000 und 2015 gab es in Lateinamerika eine stärkere Tendenz zu linken Regierungen. Im Anschluss daran erhielten (ultra)konservative populistische Regierungen (Bolsonaro, Piñera, Macri, Duque, Moreno…) verstärkten Zulauf, aber sowohl in Argentinien als auch in Mexiko hat sich diese Tendenz bereits umgekehrt: Was denken Sie, welche Dynamik wird in den kommenden Jahren die Situation in Lateinamerika bestimmen?
Um es kurz zu machen, die Dynamik besteht für mich darin, dass es überhaupt keine Stabilität mehr gibt, weder eine stabile rechte Regierungsform noch eine stabile linke Regierung. Was derzeit vorherrscht, ist das Phänomen der Unregierbarkeit. Rechte Regierungen werden auf linke folgen und umgekehrt, alles mit einem sehr hohen Grad an Instabilität, wie wir es bei Bolsonaro in Brasilien oder Ivan Duque in Kolumbien erleben, die mit massiven innenpolitischen Problemen zu kämpfen haben. Es geht heute nicht mehr um progressive oder konservative Regierungen sondern um die aktuelle Regierbarkeitskrise.
Auf die 68er -Bewegung, die Sie als Weltrevolution bezeichnen, folgten in Lateinamerika blutige Diktaturen, Stichwort Plan Condor. Wie werden Ihrer Meinung nach die gegenwärtigen Aufstände, von „Vem para rua“ in Brasilien 2013 bis zu den Mobilisierungen 2019 in Chile oder Kolumbien, von nachfolgenden Generationen rezipiert werden?
Die brasilianische Revolte vom Juni 2013 ist zweifellos die wichtigste, einfach weil Brasilien das bevölkerungsreichste Land in der Region ist. ist Einen Monat lang gingen 20 Millionen Menschen in 353 Städten auf die Straße, und die Linke, der Partido dos Trabalhadores (PT), verstand nicht, was vor sich ging. Sie dachte, der Aufstand richte sich gegen sie, und er richtete sich tatsächlich gegen sie, aber nicht nur, es war ein Aufstand gegen die Ungleichheit. Weder der PT noch die Arbeiter*innenpartei CUT oder die Landlosenbewegung MST verstanden, was los war und reagierten defensiv, nahmen nicht teil an den Märschen und überließen den Rechten das Feld. Erinnern wir uns, dass dies mit dem Movimento do Passe-Livre für den kostenlosen Nahverkehr begann.
Mit einem Anstieg der Preise für öffentliche Verkehrsmittel, wie kürzlich in Chile.
Genau, es begann als Bewegung von unten, und da der Rechten das Feld überlassen worden war, klinkte sie sich ein und nutzte die Bewegung zu ihrem Vorteil. Nicht die Rechte ist das große Problem, die Verantwortung liegt bei der Linken, die sich, statt sich an die Spitze dieser Mobilisierungen zu stellen, abschrecken lässt, und wenn die Unruhen breite gesellschaftliche Ausmaße annehmen, und dazu ist es in Chile und in Kolumbien gekommen, spielt die Linke keine Rolle mehr, sie wird einfach nicht mehr wahrgenommen. Wir haben es mit einer Linken zu tun, die Angst vor sozialer Mobilisierung hat, weil sie sie nicht kontrollieren kann und stattdessen von ihr beiseitegeschoben wird. Die Antwort ist also mehrschichtig: Krise bei der Linken, Vormarsch der Rechten und vor allem eine immer stärkere Repression.
Um die Gegenwart nicht völlig außer Acht zu lassen: Was sind die Lehren, die aus der COVID-19-Pandemie in Lateinamerika gezogen wurden, und was glauben Sie, was auf uns zukommt?
Ich denke, dass wir auf eine wachsende soziale Polarisierung zusteuern, eine Gesellschaft, die eindeutig in zwei Richtungen geht. Während die Bewegungen beziehungsweise die Kämpfe an Stärke gewinnen, wird auch der rechte Flügel stärker. Die Polarisierung besteht darin, dass die Rechten den Extraktivismus und die Militarisierung fördern werden – wichtig ist dabei die gesellschaftliche Legitimation, für die sie sich derzeit sehr ins Zeug legen – aber die linken Bewegungen sind auch stark. Wir bewegen uns also auf einen Zusammenprall von zunehmend gefährlichem Ausmaß zu. Deshalb denke ich, dass die Bewegungen nicht nur Land zurückgewinnen müssen, wie es jetzt im Cauca passiert , sondern sie müssen sich auch bewusst sein, dass uns eine heftige Erschütterung bevorsteht, mehr Unterdrückung und mehr Gewalt. Ich glaube, das ist es, was wir in den nächsten Jahren zu erwarten haben.
Das Positive an der Pandemie ist, dass sie gezeigt hat, wie nutzlos der Nationalstaat ist, dass er die Emanzipation und die Bewegungen behindert und dass wir staatlichen Institutionen nicht vertrauen können. Darüber hinaus könnte die Pandemie endgültig den Untergang der parlamentarischen Linken bedeuten (wobei dies mehr ein Wunsch ist als eine Realität), und ich beziehe mich hier auf die PSOE und den PODEMOS.
Aber das könnte zur Stärkung der extremen Rechten führen.
Ja, auf Regierungsebene würde die extreme Rechte gestärkt, keine Frage. Aber sie hätte es dann mit organisierten Massen zu tun.
Übersetzung: Lui Lüdicke
Die schlimmste Krise ist das Problem der Unregierbarkeit von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
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