(Chile, 19. Mai 2023, nd/npla).- Bei der Wahl zum Verfassungsrat in Chile, der an der Ausarbeitung einer neuen Verfassung maßgeblich beteiligt sein wird, hat die politische Rechte am 7. Mai einen überwältigenden Sieg eingefahren. Die Pinochet-treue, extrem rechte Republikanische Partei von José Antonio Kast landete mit 35 Prozent auf Platz eins. Sie wird 23 von 51 Sitzen im Verfassungsrat erhalten. Danach folgt das Parteienbündnis der aktuellen linken Regierung von Gabriel Boric aus Frente Amplio und Kommunistischer Partei mit 29 Prozent, das entspricht 16 Sitzen im Verfassungsrat. Mit 22 Prozent (elf Sitze) als dem drittbesten Ergebnis schloss das – inzwischen schon als gemäßigt eingestufte – rechte Parteienbündnis der UDI, RN, Evópoli ab, das den früheren Präsidenten Sebastián Piñera getragen hatte. Die Christdemokratie und das sozialdemokratische Parteienspektrum rund um die Sozialistische Partei haben keinen einzigen Sitz im Verfassungsrat erzielt.
Die extreme und die gemäßigtere Rechte erreichten zusammen über 56 Prozent der Stimmen. Sie halten 34 von 51 Sitzen im Verfassungsrat und können alle Abstimmungen für sich entscheiden. Die Linke bleibt mit 29 Prozent weit unter dem Drittel der Stimmen, die sie historisch betrachtet meist auf sich vereinen konnte. Allerdings hatten einige Sektoren der radikalen Linken zur Annullierung der Wahl aufgerufen. Mehr als 21 Prozent der Wähler*innen gaben leere oder ungültige Wahlzettel ab. Viele von ihnen sind im linken Spektrum zu verorten, Personen, die aber mit der Politik der Regierung Boric unzufrieden sind und daher nicht für deren Parteienbündnis gestimmt haben.
Die Ergebnisse sind schwer einzuordnen. Nachdem ab Oktober 2019 in Chile ein fortschrittlicher gesellschaftspolitischer Prozess begann, mit dem breite Teile der Bevölkerung dem Neoliberalismus ein Ende setzen und das Erbe der Diktatur überwinden wollten, scheinen die aktuellen Ergebnisse eine komplette Umkehr der Verhältnisse aufzuzeigen.
Bei einem Referendum im Oktober 2020 hatten 78 Prozent für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung gestimmt, die die 1980 während der Pinochet-Diktatur geschriebene aktuell gültige Verfassung ersetzen sollte. Denn die schreibt den „subsidiären Staat“ fest, in dem der Markt alles regelt und der Staat nur eingreifen soll, wenn der Markt komplett versagt. Der erste verfassungsgebende Prozess startete. 2021 wurde ein Verfassungskonvent gewählt, die Mehrheit der Sitze ging an linke und parteiunabhängige Kandidat*innen. Der von diesem Gremium ausgearbeitete Verfassungsvorschlag scheiterte jedoch: Bei einem Referendum mit Wahlpflicht im September 2022 lehnten 62 Prozent der Bevölkerung diesen Vorschlag ab.
Präsident Boric rief zu einem neuen Anlauf auf. Ein zweiter, stark institutionalisierter, von den politischen Parteien getragener verfassungsgebender Prozess startete mit einem Abkommen, in dem zwölf inhaltliche Leitlinien festgeschrieben sind. Im Januar besetzte das Parlament 24 Sitze einer Expert*innenkommission – proportional zum Kräfteverhältnis der im Parlament vertretenen Parteien. Darunter finden sich so illustre Persönlichkeiten wie Hernán Larraín: Der frühere Minister für Justiz und Menschenrechte war ein Freund und Unterstützer der deutschen Sektensiedlung Colonia Dignidad in Chile. Die Expert*innenkommission formuliert derzeit einen neuen Verfassungsvorschlag. Der nun gewählte Verfassungsrat wird die formulierten Paragrafen annehmen oder mit der Expert*innenkommission diskutieren. Im Dezember soll die Bevölkerung erneut in einem Referendum über die Annahme des neuen Verfassungsvorschlag abstimmen.
Paradoxon der Geschichte: Die Republikanische Partei, die nun als Gewinnerin aus der Wahl zum Verfassungsrat hervorgegangen ist, hatte das Abkommen zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung gar nicht unterstützt. Sie hatte auch den zwölf Leitlinien, die als Grundlage für den Entwurf der neuen Grundrechtecharta der Expert*innenkommission gelten sollen, nie zugestimmt. Es ist offen, wie sie sich nun verhalten wird.
Gefühlte Wiederholung der Geschichte
Nach den Erfolgen der Rechten bei dem Referendum am 4. September 2022 und bei der Wahl zum Verfassungsrat am 7. Mai macht sich vor allem in progressiven Sektoren und in der Linken, die heute die Regierung von Präsident Boric unterstützen, das Gefühl breit, in die Vergangenheit zurückzukehren und eine Wiederholung der Geschichte zu erleben.
Wie ist diese Entwicklung zu verstehen? Entscheidenden Anteil daran hat die seit dem Referendum im September 2022 bestehende Wahlpflicht. Sie hatte hohe Wahlbeteiligungswerte von 80 Prozent und mehr zur Folge – im Gegensatz zu 40 bis 57 Prozent bei den vorhergehenden Wahlen. Wie diejenigen abstimmen würden, die zuvor nicht gewählt hatten, war immer unklar. Aktuell hat die Mehrzahl von ihnen extrem rechts gewählt. Würden Wahlen auf freiwilliger Basis abgehalten, sähe das Ergebnis sicherlich anders aus.
Hinzu kommen eine starke Entpolitisierung und Politikverdrossenheit, verstanden als Rückzug der Bevölkerung aus dem demokratischen Leben, eine Überrepräsentanz der Eliten im politischen Handeln, die ihr Programm zudem auf Kriminalität, Drogenhandel sowie auf Migration ausrichten und diese Themen miteinander in Verbindung bringen.
Zwar könnte das Pendel bei kommenden Wahlen auch wieder in eine andere Richtung schwingen.
Möglich ist aber auch, dass die Pinochet-nahe Rechten noch stärker wird und sich in Chile das Sprichwort bewahrheitet, dass die Geschichte zweimal gelebt wird: einmal als Tragödie und einmal als Farce. Selbst wenn sich diese Farce als ein Drama erweist, das uns alle überwältigt.
Übersetzung und Bearbeitung: Ute Löhning
Hier könnt ihr den Originaltext von Leonel Yañez Uribe auf Spanisch lesen
Extreme Rechte siegt bei der Wahl zum Verfassungsrat von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
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