Verfassungsentwurf erneut abgelehnt, zumindest hat die Rechte verloren

afiche simbolizando la constitución de 1980 que amarra la gente.
Die aktuelle Verfassung Chiles stammt aus der Diktatur und schreibt den Neoliberalismus fest. Foto: Leonel Yáñez Uribe, 2021

(23. Dezember 2023, nd/poonal) Vier Jahre nach Beginn der breiten Protestbewegung in Chile und der Forderung nach einer neuen Verfassung geht ein Zyklus zu Ende. 2022 hatte die chilenische Bevölkerung einen sozial, feministisch und ökologisch geprägten Verfassungsentwurf abgelehnt. Am 17. Dezember 2023 stimmte die Mehrheit der Chileninnen und Chilenen auch gegen einen zweiten Entwurf, der dieses Mal stramm rechts orientiert war. Lest hier das Interview mit dem Journalisten und Kommunikationswissenschaftler Leonel Yáñez Uribe aus Santiago de Chile.

Bei dem Referendum am vergangenen Sonntag hat die Mehrheit der Chilen*innen zum zweiten Mal einen Entwurf für eine neue Verfassung abgelehnt. Dieses Mal ging es um einen erzkonservativen Vorschlag, den ein Verfassungsrat mit einer rechten Mehrheit ausgearbeitet hatte. Wie waren die Ergebnisse und wie sind die zu interpretieren?

Mit dem neuen Verfassungsvorschlag wollte die Rechte die Ursprünge der Verfassung aus der Zeit der Diktatur Pinochets bekräftigen und nochmals verstärken. Genau dagegen haben nun etwa 56 Prozent gestimmt. 44 Prozent waren dafür. Nur in drei Regionen im Süden Chiles und in den drei reichsten Bezirken Santiagos hat die Mehrheit für den neuen Verfassungsentwurf gestimmt. In allen anderen Kommunen wurde er abgelehnt. Die Wahlbeteiligung lag bei 84 Prozent. Es war eine verpflichtende Abstimmung, so wie auch alle folgenden Wahlen verpflichtend sein werden.

Chile behält nun die alte Verfassung aus der Zeit der Diktatur (1973 bis 1990). Die Protestbewegung von 2019 wollte diese ablösen und durch eine demoktratischere ersetzen. Das ist nicht gelungen. Im Vorfeld des jetzigen Referendums haben Linke und soziale Bewegungen gegen die Annahme der neuen, noch rechteren Verfassung geworben. Ist es für die Linke ein Erfolg, dass der neue Vorschlag nun abgelehnt wurde?

Niemand bezeichnet das Ergebnis als Erfolg. Der Vorsitzende der Kommunistischen Partei (PC) Lautaro Carmona und der Kongress-Abgeordnete des Frente Amplio Gonzalo Winter haben bei einer Diskussion übereinstimmend gesagt: “Wir sehen uns nicht als Gewinner. Sicher ist nur, dass die Rechte verloren hat.” – Denn diese hatte gedacht, sie würde deutlich gewinnen und Chile im Sinne der neoliberalen Doktrin Jaime Guzmáns [Jurist und Politiker, intellektueller Kopf der Verfassung von 1980] und des Pinochetismus neu begründen. Das hatte die Linke befürchtet, aber das ist nicht eingetreten.

Bis heute ist die aktuell gültige, 1980 verabschiedete Verfassung nicht demokratisch legitimiert. Aber sie war ab den 1990er Jahren einige Male reformiert worden. Wieweit gehen diese Reformen und warum wäre eine demokratischere Verfassung dennoch so wichtig?

Zentrale Elemente der von Jaime Guzmán beschriebenen Selbstdefinition Chiles gelten trotz der Reformen bis heute unverändert. Der Staat ist noch immer als “subsidiärer Staat” definiert [red. Anm.: Nachrangige Verantwortlichkeit des Staates und Vorherrschaft des Marktes und gesellschaftlicher Gruppen, die alles regeln sollen]. Jedes Mal wenn ein Gesetz oder eine Bestimmung dieses Prinzip infrage stellt, erklärt das Verfassungsgericht diese für nicht verfassungskonform. Daraus folgt, dass auch die Systeme der Daseinsvorsorge, also die Sozialsysteme, über den Markt geregelt werden. Zum Beispiel gilt immer noch, dass nur wer Geld hat, auch eine gute Gesundheitsversorgung oder andere Dienste in Anspruch nehmen kann. Außerdem sind Dienstleistungen und natürliche Ressourcen, sogar Strom und Wasser, bis heute privatisiert. Dieser Kern der 1980er Verfassung ist trotz einiger Reformen erhalten geblieben. Meiner Meinung nach richtet sich die Ablehnung in dem Referendum genau gegen diese ursprüngliche Vision des pinochetistischen Projekts, für das inzwischen Kast steht.

José Antonio Kast ist der Gründer und Vorsitzende der extrem rechten Republikanischen Partei, die bei den Wahlen zum Verfassungsrat im Mai 2023 ein Drittel der Stimmen erhalten und den Verfassungsentwurf sehr stark geprägt hat. Was gab denn jetzt den Ausschlag, dass die Mehrheit dagegen gestimmt hat?

Demonstrantin hält Plakat mit Forderung nach freiem Zugang zu Abtreibung, 25. November 2021
„Nicht einen Schritt zurück.“ Forderung nach Recht auf Abtreibung am Rande einer Demonstration gegen Gewalt an Frauen, 25.11.2021, Santiago de Chile. Foto: Ute Löhning

Zum einen ging es um eine Art Kulturkampf, besonders um die Rechte von Frauen. Die sind bei Wahlen in Chile immer ein wichtiger Faktor, und da waren die Verfassungsbefürworter kommunikativ nicht gut aufgestellt. Die Frauen haben sich zum wiederholten Mal dafür stark gemacht, dass ihre Rechte, die sie nach harten Kämpfen in Gesetzen verankert haben, nicht zurückgedreht werden.

… der Verfassungsentwurf enthielt eine Formulierung zum Schutz des Lebens von der Zeugung bis zum Tod, die es möglich gemacht hätte, Abtreibungen ohne jede Ausnahmeregelung wieder komplett zu verbieten.

Zum anderen hat die Rechte auch auf das Thema Sicherheit gesetzt. Aber nun sind in den letzten Tagen viele Skandale aufgeflogen. Es ging durch die Medien, dass etwa fünfzig Unternehmer teilweise seit mehr als zehn Jahren Steuern in großem Stil hinterzogen haben. Darunter waren mehrere Mitglieder der Republikanischen Partei. Diejenigen, die viel Geld haben, halten sich nicht an die Regeln, es ist eine Art korrupte Kaste. Außerdem sollte das System der privaten Rentenfonds (AFP) im neuen Verfassungsentwurf verankert werden. In Chile wissen alle Menschen, unabhängig von ihrer politischen Einstellung, was das bedeutet. [Anm. Red.: Die Proteste gegen die privaten Pensionsfonds, die große Renditen und miserablen Renten generieren, gehörten zu den größten der chilenischen Geschichte.] Die Menschen wollen doch ein Mindestmaß an sozialer Absicherung! Das waren die Themen, die in der Öffentlichkeit präsent waren und die zehn bis fünfzehn Prozent der Menschen angesprochen haben, die bis dahin unentschieden waren.

Du sprichst die Kommunikation an. Beim vorigen Referendum, also 2022, war die Medienstrategie der Rechten aufgegangen. Auch dieses Mal hatten sie sehr viel mehr Geld für ihre Kampagne zur Verfügung als die Linken, rund 99 Prozent der Wahlkampfspenden sind an rechte Parteien geflossen. Warum ist deren Kommunikationsstrategie diesmal nicht aufgegangen?

Im Gegensatz zu der Wahlkampagne 2022 sind dieses Mal viele Politiker öffentlich aufgetreten, das macht viele Leute sehr skeptisch. Viele Menschen stimmen gegen die politische Klasse, dieses Mal hat es sich gegen die Rechte gerichtet, vielleicht weil viele rechte Politiker so offensiv in der Öffentlichkeit aufgetreten sind, so hat der Ex-Präsident Sebastián Piñera dazu aufgerufen, für den neuen Verfassungstext zu stimmen. Außerdem war die Kampagne für die neue Verfassung auch sehr aggressiv. In dem Werbespot im Fernsehen hieß es “Que se jodan.” [red. Anm.: “Zur Hölle mit euch”, gerichtet an diejenigen, die zur Wahl gegen die neue rechte Verfassung aufriefen. ]. Das ist bei vielen Leuten nicht gut angekommen.

Und was sagt das über die politischen Konstellationen und Kräfteverhältnisse?

Zunächst mal ist das ein politisches Machtwort der Bevölkerung, woraus klar wird, dass sie sich nicht grundsätzlich nach rechts gewendet hat. Viele Menschen wollen keine Ideologisierung und keine Polarisierung. Chile ist nicht mehr so stark politisiert, die politische Beteiligung ist nicht vergleichbar mit der Zeit der Revolte. Die sozialen Bewegungen sind nicht mehr so stark. Chile steht nicht links, es ist nicht mehr das Land der Unidad Popular [red. Anm.: Linksbündnis mit dem Präsidenten Salvador Allende 1970 bis 1973] . Nur etwa ein Drittel ist links ausgerichtet, ein weiteres Drittel ist rechts und antidemokratisch. Dazwischen sind viele Menschen, die keine klar definierte Position vertreten und auf wirksame politische Reformen hoffen.

Präsident Gabriel Boric hat angekündigt, dass es keinen dritten Anlauf im Verfassungsprozess geben wird. Wie geht es nun weiter? Was bedeutet das Referendum für die zukünftige Politik der Mitte-Links-Regierung?

Das Referendum wurde auch zu einem möglichen Votum gegen die aktuelle Regierung stilisiert. Hätte die neue Verfassung gewonnen, wäre Boric zum Rücktritt aufgefordert worden. Nun ist er etwas stabilisiert und hat angekündigt, sich in den kommenden zwei Jahren seiner Amtszeit verstärkt um soziale Reformen zu kümmern.
Das Gesetz über eine garantierte Grundrente mit Zuzahlungen für diejenigen, die niedrige Renten erhalten, wurde bereits beschlossen. Weitergehende Reformen des Renten- und des Gesundheitssystems sind geplant. Um das zu finanzieren, arbeitet die Regierung an einer Steuerreform, die Spitzensteuersätze sollen erhöht werden.
Das Ergebnis des Referendums zeigt, dass das Land nicht rechts steht und dass die politischen Lager Vereinbarungen treffen und Probleme lösen müssen. Denn die Ursachen für die Revolte ab Oktober 2019, die sind bis heute nicht gelöst.

 

Leonel Yañez Uribe ist Journalist und Kommunikationswissenschaftler. Er lehrt an der Universidad de Santiago de Chile, hat mehrere Jahre für NGOs im Kommunikationsbereich gearbeitet.

Eine kürzere Version dieses Interviews ist zuerst bei nd aktuell erschienen.

Ihr könnt das Interview auch als Audioversion anhören.

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