Kampf um die Köpfe und Herzen – Neoliberalismus 50 Jahre nach dem Putsch

Der Sänger Victor Jara auf einem Wandbild in Santiago, 2020
Wandbild mit Victor Jara, Santiago 2020. Foto: Ute Löhning

(Santiago de Chile, Berlin Südlink, 4.9.2023).- Knapp vier Jahre nach dem Beginn der sozialen Revolte und dem daraus folgenden verfassunggebenden Prozess in Chile hat die politische Rechte wieder Oberwasser. Das neoliberale Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell scheint heute gestärkt.

„Chile ist die Wiege des Neoliberalismus und es wird das Grab des Neoliberalismus sein“, war eine starke Parole der sozialen Protestbewegung, mit der Millionen von Menschen ab Oktober 2019 einen solidarischen Umbau der Gesellschaft und eine neue Verfassung für Chile forderten. Denn die aktuell gültige, 1980 in Zeiten der Diktatur (1973 bis 1990) verabschiedete Verfassung schreibt den Neoliberalismus fest. Sie definiert die Rolle des Staates als „subsidiär“, also dass dieser günstige Bedingungen bereitstellen muss, damit private Akteure handeln und Gewinne generieren können. Bis 2022 wurde diese Verfassung durch über sechzig Reformen ergänzt, doch ihr Kern gilt weiterhin. In hoffnungsvoller Aufbruchstimmung startete der Verfassungsprozess und erhielt 78 Prozent Zustimmung bei einem ersten Referendum im Oktober 2020.
Doch inzwischen haben sich die Kräfteverhältnisse verschoben. Nun dominiert die politische Rechte die öffentliche Debatte mit autoritären Diskursen zu innerer Sicherheit und Migration. Im September 2022 lehnte die Mehrheit der Bevölkerung in einem Referendum den sozial, ökologisch und feministisch geprägten Entwurf für eine neue Verfassung ab, der unter starker Beteiligung sozialer Bewegungen erarbeitet worden war. Eine vor finanzieller und medialer Übermacht strotzende Kampagne der Gegner*innen der neuen Verfassung, die mit Fake News und Strategien der Angst arbeitete, trug großen Anteil daran. Aber auch Schwächen in der Kommunikation und der Vermittlung seitens der Befürworter*innen waren wichtige Gründe für das Scheitern.
Präsident Gabriel Boric setzte mit seiner Mitte-Links-Regierung und den meisten Oppositionsparteien Ende 2022 einen neuen verfassunggebenden Prozess auf. Doch diesen dominiert nun die herrschende Klasse. „Nur die politischen Parteien können sich beteiligen. Soziale Bewegungen spielen darin keine Rolle“, kritisiert Elisa Franco Sentis, Sprecherin der feministischen Dachorganisation 8. März (Coordinadora Feminista 8 de Marzo, CF8M). „Wir sehen diesen Verfassungsprozess daher nicht in Kontinuität zum ersten Prozess, der zum ersten Mal die traditionell ausgeschlossenen gesellschaftlichen Gruppen einbezogen hatte. Der neue Prozess ist eine elitäre, antidemokratische und konservative Antwort darauf“, so die Feministin.

Der chilenische Staat hat eine neoliberale DNA

Graffiti mit brennender Verfassung von 1980
Wandbild mit einer brennenden Verfassung aus der Zeit der Diktatur. Santiago, 2020. Foto: Ute Löhning

Bei der Wahl zum Verfassungsrat, dem Gremium, das einen neuen Verfassungsentwurf beschließen wird, ging die extrem rechte Republikanische Partei im Mai 2023 als stärkste Kraft hervor. Die 2019 von dem Anwalt und Pinochet-Bewunderer José Antonio Kast gegründete Partei gewann 23 von 51 Sitzen. Das ist paradox. Denn die Republikanische Partei wollte gar keine neue Verfassung. Dennoch kann sie nun über deren Ausrichtung bestimmen. Zusammen mit dem traditionellen Rechtsbündnis „Chile Vamos“ (UDI, RN, Evópoli) verfügt sie über eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Verfassungsrat.
Ein Expert*innengremium, das nach den Kräfteverhältnissen der im Parlament vertretenen Parteien besetzt ist, hat eine neue Vorlage für einen Verfassungstext formuliert. Änderungsanträge der Republikanischen Partei zielen darauf ab, die wenigen darin beschriebenen sozialen Rechte wieder daraus zu verbannen. Es zeichnet sich ab, dass der neue Verfassungsentwurf vor allem eine Modernisierung der aktuell gültigen, 1980 unter undemokratischen Bedingungen verabschiedeten, Verfassung sein wird.
Die neoliberale Transformation von Staat und Wirtschaft geht auf die als „Chicago Boys“ bekannt gewordenen chilenischen Ökonomen zurück, die bei dem neoliberalen Vordenker Milton Friedman in Chicago studiert hatten. Bereits 1973 forderten sie fiskalpolitische Maßnahmen wie die Öffnung des chilenischen Marktes, Steuersenkungen, die Abschaffung von Preiskontrollen und von staatlichen Unterstützungsleistungen. Diktator Pinochet machte einige dieser Ökonomen zu Ministern und ließ ihnen freie Hand, Chile als erstes Land weltweit zu einem Experimentierfeld neoliberaler Umstrukturierung zu machen.
„In den Jahren 1975 bis 1982 setzten Sergio de Castro als Finanzminister, und andere aus der Schule der ‚Chicago Boys‘ den neoliberalen Umbau der Wirtschaft in Gang“, sagt der mit dem chilenischen Preis für Geisteswissenschaften ausgezeichnete Soziologe Tomás Moulian Emparanza.
Die Sozialpolitik wurde mit „Modernisierungen“ in sieben Bereichen umgebaut. Dazu gehörte entscheidend der Abbau von Arbeitsrechten und die weitgehende Zerschlagung der Gewerkschaften. Hinzu kam eine Umkehr der Landreform und Ausrichtung der Landwirtschaft auf den Export, die weitgehende Privatisierung der Renten-, Gesundheits- und Bildungssysteme, sowie Justiz- und Verwaltungsreformen. In der Folge entstanden private Krankenversicherungen (ISAPRES), private Rentenfonds (AFP) und private Bildungsinstitute. Sie wurden zu einem einträglichen Geschäftsmodell. Bis heute verschulden sich viele Chilen*innen auf Jahrzehnte, um studieren zu können.
Moulian beschreibt den Einfluss der neoliberalen Umstrukturierungen auf die Klassenstruktur in Chile: „Während der Diktatur entstand eine neue Mittelklasse. Aber vor allem entstand eine neue Bourgeoisie, die sich aufgrund der wirtschaftlichen Liberalisierung sehr bereichern konnte.“ Seitdem beherrschen wenige extrem reiche Familienunternehmen, die während der Diktatur große Ländereien, Wasserrechte und andere Ressourcen oder Lizenzen erwarben, den chilenischen Markt.

Die Revolte von 2019 stellte die Verhältnisse in Frage

Graffity: aus Totenkopf wachsen Blumen. Santiago 2020.
Graffity: aus Totenkopf wachsen Blumen. Santiago 2020. Foto: Ute Löhning

Große Teile der Bevölkerung leben hingegen unter prekären und deregulierten Bedingungen. Der informelle Sektor von Straßenverkäufer*innen, Hausangestellten und Reinigungskräften ist groß. Aber auch Uni-Dozent*innen und viele andere arbeiten oft stundenweise auf Honorarbasis und ohne Sozialabsicherung. Das während der Diktatur reformierte Arbeitsrecht hat die Errungenschaft eines Jahrhunderts von gewerkschaftlichen und Arbeitskämpfen zurückgedreht. So gibt es kein Recht auf branchenweite Tarifverhandlungen, diese werden nur auf Ebene der Unternehmen geführt.
Während neoliberale Umstrukturierungen von Wirtschaft und Gesellschaft unter Margaret Thatcher in Großbritannien und vielen anderen demokratisch verfassten Staaten mit großen Widerständen kämpfen mussten, sicherte die Diktatur in Chile diese auch mit ihrer militärischen Macht ab. So war der neoliberale Umbau in Chile bis zum Übergang zur Demokratie 1990 bereits vollzogen. Die Mitte-Links-Regierungen der „Concertación“ (1990 bis 2010) führten diese Politik mit der Privatisierung der Wasser- und Stromversorgung beziehungsweise der Autobahnen und des Mautsystems weitgehend fort, wenn auch mit etwas mehr staatlicher Kontrolle.
„Auch nach vielen Regierungsperioden demokratischer und Mitte-Links-Regierungen bleibt die Kultur kommerzialisiert“, erklärt Tomás Moulian: „Geld wurde zu einem Kult, Konsum zu einer Leidenschaft. Die Menschen zieht es in die ‚Malls‘, die großen Einkaufszentren. Seit der Einführung von Kreditkarten und Ratenzahlung ist es noch leichter geworden zu konsumieren – und sich zu verschulden.“ 57 Prozent der Haushalte in Chile sind verschuldet, die Hälfte davon aufgrund der Nutzung von Kreditkarten.
Ein Wandel der Alltagskultur hat zu Konkurrenz und einer starken Individualisierung geführt: Jede und jeder ist sich selbst am nächsten. Rechte Think Tanks stellen solidarische Systeme allgemeiner Daseinsvorsorge als „Raub an Privateigentum“ dar –n der der neuen was nur vorstellbar ist im neoliberalen Kontext, in dem selbstverständlich davon ausgegangen wird, dass alle Ressourcen privatisiert sind.
Die Revolte ab Oktober 2019 hatte diese Verhältnisse in Frage gestellt und ein Leben in Würde für alle gefordert. Eine Lösung bietet weder die Politik von Borics Mitte-Links-Regierung, die sich gegen die starke Rechte im Parlament nicht durchsetzen kann, noch der zweite verfassunggebende Prozess. Aktuellen Umfragen zufolge glaubt die Hälfte der Bevölkerung ohnehin nicht, dass eine daraus entstehende neue Verfassung die Probleme des Landes lösen kann. Teile der Linken kündigten bereits an, dass sie bei der Abstimmung im Dezember dazu aufrufen werden, gegen die neue Verfassung zu stimmen.
Für die sozialen Bewegungen geht es heute auch darum, nicht den Mut zu verlieren. „Viele Menschen sehen zur Zeit keinen Sinn mehr in politischem Engagement“, sagt Elisa Franco von der feministischen Dachorganisation 8M. „Wir wollen und müssen ihnen zeigen, dass unsere Arbeit einen Sinn hat“. Gruppierungen aus dem feministischen, dem ökologischen und dem sozialen Spektrum haben sich zu einer Koordination der sozialen Bewegungen zusammengeschlossen. Sie halten an dem ersten Verfassungsentwurf als einer Art richtungsweisendem Programm fest und setzen auf langfristige Basisorganisierung. Sie wollen politische Diskussion und Bildung stärken und die Arbeit mit freien und selbstorganisierten Medien ausbauen, so Franco.
Im Kontext des 50. Jahrestages des Militärputsches am 11. September bereiten sie Aktivitäten vor, mit denen sie an den Putsch und dessen Folgen, aber auch an Widerstand erinnern. Es geht um den Kampf um die Köpfe und Herzen der Menschen.

 

Wir übernehmen diesen Artikel mit freundlicher Genehmigung des Südlink, wo er zuerst erschienen ist.

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