(Santiago, 3. September 2022, taz/poonal).- Mit täuschend echt daherkommenden Flyern, die Farben und Symbole des Verfassungsentwurfs verwenden, mit exzellent produzierten Videos auf Youtube und mit Bots, die dieses Material auf Social Media millionenfach multiplizieren: die Desinformationskampagne des „Rechazo“, der Gegner*innen der neuen Verfassung in Chile, ist in voller Fahrt.
So flimmern Bilder des Verfassungskonvents und des linken Präsidenten Gabriel Boric bei Gruselmusik und flackerndem Licht über den Bildschirm, es erscheinen leuchtende Buchstaben vor einem dunklen Hintergrund: „Wie die politische Elite unseren Verstand kontrolliert“. Die neue Verfassung wolle die Bürger*innen um ihre in Rentenfonds eingezahlte Ersparnisse bringen, sie mit vom Staat abhängig machen, eine „totale Kontrolle“ über die Gesundheit der Bevölkerung ausüben und das Bewusstsein der Menschen durch ein staatliches Bildungssystem manipulieren – eine Verschwörungstheorie. Das Video mit dem Titel: „Plan der politischen Kontrolle aufgedeckt“ wurde seit dem 1. August mehr als 130.000 Mal auf YouTube aufgerufen.
Die Stimme aus dem Off stammt von der rechtsextremen Politikerin Teresa Marinovic. Die 49-jährige Mutter von neun Kindern ist Abtreibungsgegnerin und Präsidentin der libertär-konservativen Stiftung Nueva Mente. Auf Twitter folgen ihr mehr als 260.000 Menschen. Sie war mit den zweitmeisten Stimmen im ganzen Land zum Mitglied des Verfassungskonvents gewählt worden und bezeichnet andere Mitglieder als „Parasiten“.
Dieser Konvent, deren 155 Mitglieder im Mai 2021 mit Geschlechterparität und reservierten Sitzen für Indigene gewählt wurden, war mehrheitlich von linken und progressiven Kräften geprägt. Ein Jahr lang erarbeiteten sie einen Verfassungsentwurf, über den am 4. September bei einem Referendum abgestimmt wird. Der Ruf nach einem neuen Grundgesetz wurde während der sozialen Revolte im Oktober 2019 lauter und durch durch ein Referendum im Oktober 2020 bestätigt. Knapp 80 Prozent stimmten damals für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung.
Im aktuellen Grundgesetz ist das neoliberale Modell verankert
Das aktuell in Chile gültige Grundgesetz stammt aus der Pinochet-Diktatur und in ihm ist das neoliberale Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell verankert, das mit Hilfe der sogenannten Chicago Boys – einer Gruppe von chilenischen Ökonomen, die an der University of Chicago die neoliberalen Lehren von Milton Friedman studierten – unter Militärgewalt und Staatsterror in Chile implementiert wurde. Die Verfassung von 1980 reduziert die soziale Verantwortung des Staats auf ein Minimum und misst der ökonomischen Freiheit mehr Gewicht zu als den Grundrechten der Bürger*innen.
Netzwerk neoliberaler Thinktanks
Es ist die Freiheit des Kapitals, nicht die der arbeitenden Bevölkerung, die rechte und unternehmernahe Gruppen verteidigen, die die Verabschiedung einer neuen Verfassung verhindern wollen, weil sie mehr Sozialstaat und weniger Marktfundamentalismus vorsieht. In den über 1.600 Videos des Kanals der Stiftung Nueva Mente, die Teresa Marinovic gegründet hat, wird der Staat als schlecht dargestellt und dazu aufgerufen, eine vermeintlich bedrohte Freiheit zu verteidigen.
Die von Teresa Marinovic gegründete Stiftung Nueva Mente gehört zu einem Netzwerk neoliberaler Thinktanks in Chile, die Falschinformationen über die neue Verfassung verbreiten und dazu aufrufen, beim Referendum am 4. September „Rechazo“ zu wählen, also die neue Verfassung abzulehnen.
„Das Ziel ist es, negative Emotionen hervorzurufen“
Eine der am häufigsten verbreiteten Falschmeldungen zufolge würde die neue Verfassung alle Häuser und Wohnungen enteignen und das Privateigentum verbieten. Dabei sichert der neue Verfassungsentwurf das Recht auf Eigentum ab und garantiert aber auch das Recht auf angemessenen Wohnraum, zu dessen Umsetzung der Staat verpflichtet wird – dafür hatten sich soziale Bewegungen und Organisationen eingesetzt.
„Fast alle Falschmeldungen über Mitglieder des Verfassungskonvents und über Artikel des Verfassungsentwurfs, die wir gesammelt haben, sind der ‚Rechazo‘-Kampagne zuzuordnen“, sagt der Kommunikationswissenschaftler Marcelo Santos von der Universidad Diego Portales in Chiles Hauptstadt Santiago. „Das Ziel ist es, negative Emotionen hervorzurufen, Verwirrung und Angst zu schaffen. Es werden gesellschaftliche Traumata herangezogen, um Assoziationen herzustellen“, sagt er. Die Angst vor dem Verbot des Privateigentums solle eine Verbindung zur antikommunistischen Propaganda des Kalten Kriegs herstellen. Santos untersucht die Desinformation im Rahmen des verfassungsgebenden Prozesses. Er beschäftigt sich zum Beispiel mit Twitterbots, WhatsApp- und Telegram-Gruppen und nennt sein Forschungsgebiet die „schmutzige Politik im digitalen Raum“.
Angriffe und Morddrohungen gegen Mitglieder des Verfassungskonvents
Zum anderen schüre die Kampagne nationalistische Gefühle, indem die Indigenen als Gefahr für die nationale Identität dargestellt werden, sagt Santos. Ein Video der Stiftung Nueva Mente zeigt manipulativ montierte Aufnahmen von brennenden Barrikaden und einer vermummten Person im Poncho mit einem Gewehr vor dem Regierungspalast La Moneda. Der linken Regierung von Gabriel Boric wird damit eine Nähe zu Terrorismus unterstellt. In der aktuell gültigen Verfassung werden die zehn Indigenen Völker Chiles noch nicht einmal erwähnt. Das neue Grundgesetz soll Chile als plurinationalen Staat definieren und die Rechte der Indigenen auf Land, Sprache und Selbstbestimmung garantieren.
Santos beobachtet bereits seit 2020 eine „hartnäckige und aggressive Kampagne“ gegen den verfassungsgebenden Prozess. Anfangs hätten sich die Attacken direkt gegen Personen gerichtet, wie zum Beispiel die Indigene Präsidentin des Verfassungskonvents Elisa Loncon. Über sie wurden besonders viele Falschnachrichten verbreitet und Rechte griffen sie direkt an, wie zum Beispiel Teresa Marinovic, die sie eine „Diktatorin“ nannte und ihre traditionelle Kleidung als „Kostüm“ bezeichnete. Auch viele andere Mitglieder des Verfassungskonvents wurden beleidigt, manche erhielten sogar Morddrohungen.
Chilenische Unternehmer*innen spenden großzügig für die Desinformationskampagne
Diejenigen Unternehmer*innen, die sich mit Hilfe der Diktatur bereichert haben, investieren jetzt große Geldmengen in die Kampagne des „Rechazo“, also für die Ablehnung des Verfassungsentwurfs, der die Grundpfeiler eines Sozialstaats schaffen, Umweltschutz, Rechte von Indigenen, Frauen und LGBTIQ+ beschützen soll.
An der Spitze der Spenderliste finden sich Nachnamen der reichsten Familien Chiles wie Cúneo, den Eigentümern des Unternehmenskonsortiums Falabella, oder die Millionärsfamilie Ossandón Larraín, die in Verbindung zu der rechten Partei Renovación Nacional steht. Ein Großteil des Geldes fließt in bezahlte Anzeigen auf sozialen Netzwerken. Und dort werden besonders viele Falschinformationen verbreitet.
Im Zentrum der Attacken der Desinformationskampagne gegen die neue Verfassung stehen die Ideen einer solidarischen Umgestaltung der Systeme allgemeiner Daseinsvorsorge, die während der Diktatur weitgehend privatisiert wurden. Dabei werden die Forderungen nach Zugang zu guter und bezahlbarer Bildung, Gesundheitsversorgung, Wohnraum, Renten und auch Wasser von weiten Teilen der Bevölkerung getragen und waren zentral für die breite Protestbewegung, die Chile ab Oktober 2019 erfasste und den Anstoß für den Verfassungsprozess gab.
Deutsche Steuergelder fließen in neoliberale Stiftungen in Chile
Chilenische Thinktanks wie die von der CSU-nahen Hanns Seidel-Stiftung geförderten Instituto Res Publica und Fundación IdeaPaís warnen vor einer Übertragung von Aufgaben allgemeiner Daseinsvorsorge an den Staat. Steigende öffentliche Ausgaben für die Rentenversorgung brächten eine „unverantwortliche Verschuldung“ mit sich. Bei Annahme des Verfassungsentwurfs werde die Wirtschaft durch stärkere Mitspracherechte indigener Gemeinschaften und durch das Recht auf Streik bedroht, heißt es in einem Bericht des Instituto Res Publica.
Die der FDP nahestehende Friedrich-Naumann-Stiftung unterstützt die Fundación para el Progreso, die Thinktanks Horizontal und Libertad y Desarrollo. Da die parteinahen Stiftungen in Deutschland aus staatlichen Mitteln finanziert werden, fließen somit auch deutsche Steuergelder in die neoliberalen Stiftungen in Chile.
Viele der neoliberalen Stiftungen, Institute und Thinktanks in Chile sind Teil des in den USA angesiedelten, international aktiven Atlas Network, das über 500 Stiftungen weltweit vereint. Das Atlas Network hat neben ExxonMobile auch Spenden von Charles Koch erhalten. Der unterstützt in den USA rechte Republikaner, ist einer der reichsten Menschen der Welt, leitete das Öl- und Chemiekonsortium Koch Industries und ist Mitglied der Mont Pelerin Sociecty: eines 1947 von dem österreichischen Ökonom Friedrich Hayek gegründeten, weltweit aktiven neoliberalen Netzwerks, das sich gegen Wohlfahrtstaat und Gewerkschaften einsetzt. Hayek traf sich mehrmals mit Pinochet und unterstützte die Diktatur. In einem Interview mit der rechtskonservativen chilenischen Zeitung El Mercurio sagte er 1981: „Ich persönlich ziehe eine liberale Diktatur einer demokratischen Regierung vor, in der es keinen Liberalismus gibt.“ Die aktuell in Chile gültige Verfassung basiert auf den Lehren von Hayek.
Abtreibung im Zentrum der Desinformationskampagne
Die Ideologie des Atlas Network sei „liberal im Ökonomischen und konservativ bei den Werten“, sagt Kommunikationswissenschaftler Santos. Das spiegele sich auch in der Desinformationskampagne gegen das Recht auf Schwangerschaftsabbruch in der neuen Verfassung wider. „Wir wären das einzige Land, das Abtreibung bis zum neunten Monat erlaubt“, sagte Felipe Kast, Gründer des Thinktanks Horizontal, der für die rechtsgerichtete Parte Evópoli im Senat sitzt, im Radio. Das entspricht keinesfalls der Realität, da die neue Verfassung zwar das Recht auf freiwilligen Schwangerschaftsabbruch garantieren würde, Fristen aber durch Gesetze festgelegt werden würden.
Der Onkel von Felipe Kast, José Antonio Kast, trat bei der Stichwahl um das Präsidentenamt gegen Gabriel Boric im Dezember 2021 an. Der Rechtsanwalt ist Sohn eines früheren NSDAP-Mitglieds und Anhänger der katholischen Schönstattbewegung. Sein älterer Bruder Miguel Kast war Arbeitsminister unter Pinochet und zählt zu den Chicago Boys. Bis 2016 war José Antonio Kast Mitglied der rechtskonservativen Partei UDI. 2019 gründete er die noch weiter rechtsstehende Republikanische Partei und den Thinktank Republikanische Ideen.
Verbindungen zu internationalen Netzwerken
José Antonio Kast und die Republikanische Partei vernetzen sich international mit Abtreibungsgegner*innen und Verfechter*innen wirtschaftlicher Freiheit, wie zum Beispiel dem Political Network for Values. Seit März 2022 ist Kast der Vorsitzende dieser Organisation, in der sich seit 2014 hochrangige Persönlichkeiten und Regierungsangehörige aus dem konservativ-christlichen Umfeld weltweit vernetzen. Kast tritt damit die Nachfolge der Präsidentin von Ungarn, Katalin Novák, an.
Ende Mai kamen in Budapest etwa 100 mit dem Netzwerk verbundene Politiker*innen, darunter Regierungsangehörige, Parteifunktionäre und Diplomat*innen aus Ungarn, Spanien und anderen europäischen Staaten, sowie aus den USA, Lateinamerika und Afrika zu einem Transnationalen Gipfel zusammen. Das Ziel: Vernetzung und Ausbildung einer politischen Elite. „Das Leben, die Familie und die Freiheit, diese drei Pfeiler sind das Motiv, uns hier zu treffen, unser Wissen zu vertiefen und uns miteinander zu vernetzen“, erklärte Kast in seiner Begrüßungsrede.
„Zentrale Anliegen der Veranstaltung waren die Beförderung von Politiken, die das Recht auf Abtreibung abschaffen und eine auf die Förderung der traditionellen Ehe zwischen Mann und Frau und der klassischen Kernfamilie ausgerichtete Politik verankern sollen“, erklärt Andrea Dip, Investigativjournalistin und Leiterin der brasilianischen Portals agencia pública. „Weiterhin wird die Forderung nach ‚Freiheit‘ formuliert, deren Stellenwert in der Bewertung des Netzwerks aktuell stark gestiegen ist“, ergänzt sie. Dabei gehe es um ökonomische Freiheit, Stärkung der Rolle der christlichen Religion und eine anti-kommunistische oder allgemein anti-linke politische Positionierung.
Sven von Storch berät José Antonio Kast
Nach Angaben der brasilianischen Zeitung O Globo und des chilenischen Nachrichtenportals Interferencia lässt sich José Antonio Kast in internationalen Fragen von dem deutsch-chilenischen Ökonomen Sven von Storch beraten. Von Storch ist im Süden Chiles geboren, wo er politisch aktiv war und nach wie vor gut vernetzt ist. Er selbst tritt wenig in der Öffentlichkeit auf, steht aber nach eigenen Angaben in regelmäßigem Austausch mit dem ultrarechten US-Ideologen Steve Bannon und orientiert sich an extrem rechten Bewegungen in Lateinamerika und Europa.
Er ist Betreiber des rechten Nachrichtenportals Freie Welt und der Petitionsseiten Civil Petition und Abgeordnetencheck, die über den Trägerverein Zivile Allianz e.V., mit Sitz in Berlin, mit weiteren Initiativen verbunden sind.
Rechte Spur nach Deutschland
Sven von Storch ist der Ehemann der stellvertretenden Vorsitzenden der AfD-Fraktion im Bundestag, Beatrix von Storch. Sie engagiert sich gegen Abtreibung und gleichgeschlechtliche Lebensweisen und vertritt die AfD in der deutsch-brasilianischen Parlamentariergruppe des Bundestags. Das Ehepaar von Storch steht im Kontakt zu Brasiliens Präsident Jaír Bolsonaro.
José Antonio Kast ist nicht der einzige Politiker, der die Verabschiedung der neuen Verfassung in Chile verhindern will und Verbindungen nach Europa pflegt. Eine Gruppe rechter Mitglieder des Verfassungskonvents, darunter Teresa Marinovic, reisten im November 2021 nach Spanien, um sich dort mit Führungspersonen der rechtsextremen Partei Vox zu treffen.
Chilenische Rechte kopieren Strategien der spanischen Vox-Partei
Diese Partei bildet wegen ihrer sprachlichen Nähe eine Brücke nach Lateinamerika. „Vox lernt vom lateinamerikanischen ultrarechten Populismus und aus Lateinamerika wird auch stark nach Europa geschaut, speziell nach Spanien, was die spanische extreme Rechte so macht“, erklärt der spanische Journalist Miquel Ramos. Vox habe auch sehr gute Beziehungen zur extremen Rechten in Nordamerika, sagt Ramos, der eine Art „Dreieck aus Europa, den USA und Lateinamerika“ sieht.
Kommunikationswissenschaftler Marcelo Santos beobachtet einen „modus operandi“, der bei den Wahlen von Donald Trump in den USA und Jair Bolsonaro in Brasilien erfolgreich gewesen sei, und auch beim Brexit in Großbritannien und beim Wahlerfolg der Vox-Partei in Spanien. „Die Strategie von Steve Bannon und Cambridge Analytica, mit der Trump erfolgreich war, heißt Mikrosegmentation, also die gezielte emotionale Manipulation von Personen anhand ihrer Schwächen. Das ist keine Straftat, sondern eine legale Grauzone“, sagt er.
Die Kampagne des „Rechazo“ setze auf Desinformation anstatt auf Argumente. Die Kampagne des „Apruebo“, also für die neue Verfassung, müsse deshalb auf Information setzen, so Santos. Seit einigen Monaten beobachtet er, dass in Chile Nachrichten auf WhatsApp verbreitet werden, die einen Wahlbetrug zu Gunsten des „Apruebo“ voraussagen. Auch dies ist eine bekannte Strategie – von Donald Trump bis Jair Bolsonaro.
Dieser Text ist die erweiterte Fassung eines Artikels, der zuerst in der taz erschienen ist.
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