(Berlin, 18. Januar 2020).- Dokumentation eines Vortrags der Historikerin Evelyn Hevia über die Proteste in Chile.
„Zwei von ihnen nahmen mich an der Taille und zogen mir Hose und Unterwäsche runter. Dann hat ein anderer seinen Schlagstock benutzt, um ihn in meinen Anus einzuführen.“ [1]
„Ich hörte, wie diese Leute lachten. Dann fing ein Mann an, mir kleine Schläge mit seinem Penis auf meinen Körper zu geben, er fragte mich, welche Größe ich mag; ein anderer Mann schrieb mit einem Kugelschreiber Dinge auf meinen Körper.“ [2]
Kann mir jemand sagen, welcher Zeugenbericht der Diktatur und welcher den Demütigungen der letzten drei Monate entspricht? Wahrscheinlich nicht.
Dies ist einer der Gründe, warum es dringend notwendig ist, über Menschenrechte zu sprechen – damals und heute. Es ist dringend notwendig, dass wir im Ausland darüber sprechen, hier in Deutschland, wo nach dem Holocaust dieses Thema zum „unantastbaren Exportprodukt“ gemacht wurde. Es ist dringend notwendig, dass wir über Menschenrechtsverletzungen und die Schuld des chilenischen Staats sprechen, da dieser sich verpflichtet hat, die Menschenrechte zu schützen, zu respektieren, zu fördern und zu vermitteln.
Zuerst möchte ich über die Diktatur in Chile sprechen – sie bildet den Hintergrund für den Slogan „Es sind keine 30 Pesos, es sind 30 Jahre“, an dem sich der soziale Ausbruch entzündete. Dann werde ich auf die Menschenrechtssituation des Mapuche-Volks zu sprechen kommen, die Teil der über 500-jährigen Kolonisierungsgeschichte ist und die wir seit dem Ende der Diktatur als große unbeglichene Schuld und ungelösten Konflikt mit uns tragen. Wobei es hier in Berlin sicher Mapuche-Kamerad*innen gibt, die tiefer in dieses Thema einsteigen können als ich.
Drittens möchte ich aus einer erweiterten Perspektive das Thema Menschenrechte ansprechen, das in Chile eng mit der Geschichte der Diktatur verbunden ist. Für viele, insbesondere für den politisch rechten Flügel, gelten die Achtung von und die Beschäftigung mit Menschenrechten und verwandten Themen als „kommunistische“ Aktivität. So erklärt sich beispielsweise der Widerstand, den bereits der Versuch hervorruft, einen institutionellen Rahmen für diese Themenbereiche einzuführen (z.B. das Nationale Institut für Menschenrechte (INDH), das Museum für Erinnerung und Menschenrechte oder das Unterstaatssekretariat für Menschenrechte), was sich in zahlreichen Debatten niederschlägt. Anschließend werde ich mich auf die seit dem 18. Oktober 2019 begangenen Menschenrechtsverletzungen und die wesentlichen Forderungen der sozialen Bewegung Chiles beziehen.
1.Menschenrechtsverletzungen:
In Chile herrschte zwischen dem 11. September 1973 und dem 11. März 1990 eine zivil-militärische Diktatur. In diesen Jahren waren die Menschenrechtsverletzungen systematisch, weit verbreitet und institutionalisiert. Der gesamte Staatsapparat und die staatliche Bürokratie wurden dafür eingesetzt, Verbrechen zu begehen und diese anschließend geheim zu halten. Die offiziellen Zahlen der Opfer laut den Berichten Rettig (1991) und Valech (2004 und 2011):
3227 (2.125 Ermordete und 1.102 Verschwundene)
38.254 Überlebende der politischen Gefangenschaft und Folter (28.459 registriert in der Valech-Kommission I und 9.795 in Valech II)
Es gab im gesamten Land insgesamt 1.132 Haft- und Foltereinrichtungen.
Inoffizielle Zahlen belegen, dass ca. 200.000 Menschen ins Exil gegangen sind, davon ungefähr 7.000 nach Deutschland (3.000 in die DDR und 4.000 in die BRD).[3]
Dies sind nur einige Zahlen, die in keiner Weise den Umfang und die systemische Natur der Menschenrechtsverletzungen aufzeigen können, die während fast 17 Jahren Diktatur stattgefunden haben. Das Drastischste von allem ist vielleicht, dass es mehr als 45 Jahre nach dem Putsch im Jahr 1973 und mehr als 30 Jahre nach der sogenannten „Rückkehr zur Demokratie“ immer noch Behörden und Personen des öffentlichen Lebens gibt, die zum rechten Flügel der chilenischen Regierung gehören und die während der Diktatur begangenen Verbrechen gegen die Menschheit relativieren. Deswegen ist die Bestrafung der Leugnung eine der Forderungen, die sich in letzter Zeit stark herauskristallisiert hat. Aber reicht es aus, die Leugnung der Verbechen unter Strafe zu stellen? Der Anstieg der extremen Rechten in Deutschland scheint uns ein negatives Beispiel dafür zu geben. Ein langes Thema zum Debattieren und Nachdenken.
2. Wahrheit, Gerechtigkeit, Wiedergutmachung
Wir wissen, dass die Justiz nachlässig agiert oder bewusst die Vertuschung dieser Verbrechen forciert hat. Sie hat nicht im Sinne der Opfer gehandelt. [4] Dies zeigt sich besonders anschaulich in dem gescheiterten Versuch, den Diktator Augusto Pinochet für seine Verbrechen büßen zu lassen. Im Jahr 1998 wurde er auf Anordnung des spanischen Richters Baltazar Garzón in der Londoner Klinik verhaftet. Der Fall endete mit einer Reihe von Verhandlungen der verschiedenen politischen Sektoren, bei denen es darum ging, den Diktator aus „gesundheitlichen“ Gründen nach Chile zurückzubringen. Doch Pinochet machte sich über alle Welt lustig, als er in sehr gutem gesundheitlichem Zustand in Chile landete und sich aus seinem Rollstuhl erhob, um die Menschen zu begrüßen. Er starb im Dezember 2006, ohne einen Tag im Gefängnis zu verbracht zu haben. Vor seiner Totenwache in der Militärschule versammelten sich lange Schlangen von Unterstützer*innen, die darauf warteten, ihn zu verabschieden.
Was die Menschen angeht, die während der Diktatur ihr Leben riskierten, um die Verbrechen anzuprangern oder tatsächlich ermordet wurden, wie José Manuel Parada vom Vicariado de Solidaridad oder der Priester André Jarlán, so ist es nicht die Justiz, sondern es sind die Familien der verschwundenen Gefangenen, Organisationen, Fachleute und Aktivist*innen in Chile und der Welt, die die Geschichte weiterschreiben und Gerechtigkeit fordern.
Bis heute wurden nur zehn Prozent der Vermissten identifiziert, was es nur einigen wenigen Familien ermöglicht, mit der ewigen Ungewissheit und Sorge abzuschließen. Auch hier hat Deutschland eine offene Schuld, da die „Colonia Dignidad“ – eine im Süden Chiles errichtete deutsche Enklave – eine Schlüsselrolle bei der Kooperation im Kontext der Repression und der Vertuschung der Verbrechen während der Diktatur spielte. [5]
Mit der Politik nach der Diktatur wurden Wahrheit, Gerechtigkeit, Wiedergutmachung und Erinnerung, wie der christdemokratische Präsident Patricio Aylwin sagte, „im Rahmen des Möglichen“ angegangen. Praktisch heißt das, dass das Land immer noch eine enorme Schuld gegenüber vielen Familien trägt, die ihre Mütter, Schwestern, Compañeras und Großmütter gehen sahen, ohne je das Schicksal ihrer vermissten Verwandten zu kennen.
3. Internationale Solidarität
Weltweit wurden Kampagnen zur Solidarität mit den Opfern in Chile durchgeführt. Die Aktionen reichten vom Kauf von Kunsthandwerk, das von politischen Gefangenen oder ihren Familien hergestellt und im Ausland angeboten wurde, bis hin zu zahlreichen Aktionen mit Empanadas, Folklore und Rotwein, um Spenden für Chile zu sammeln (wie die heutige Aktion). Viele dieser Erfahrungen bleiben im kollektiven Gedächtnis der Menschen, die heute anwesend sind.
Ich möchte zwei Aktionen der internationalen Solidarität hervorheben, die ich als sehr kreativ erachte: den Boykott der Sexarbeiterinnen aus San Francisco, die 1974 den Matrosen auf der Emerald Ship sexuelle Dienste verweigerten, und die Geschichte der schottischen Arbeiter, die sich aus Protest gegen den Militärputsch von 1973 weigerten, die Motoren der chilenischen Hawker Hunters zu reparieren. In dem Dokumentarfilm „Nae pasarán“, wird Geschichte dieser Aktion erzählt. Diese und auch die vielen anderen Formen der internationalen Solidarität jener Zeit, die uns unbekannt geblieben sind, waren sehr wertvoll, um die Moral der Opfer zu erhalten und diverse Widerstandsaktionen gegen die Diktatur zu unterstützen.
4. Straflosigkeit und Luxusgefängnisse
Was die Straflosigkeit betrifft, so haben wir den emblematischen Fall des Diktators, der keinen Tag im Gefängnis verbracht hat; auch heute noch werden die Putschisten und aktive Zivilisten, die mit der Diktatur zusammengearbeitet haben von ihren Anhängern verehrt. Jaime Guzmán ist das beste Beispiel dafür. Zu seinem Gedenken gibt es in Santiago eine Allee mit seinem Namen und ein gewaltiges Denkmal vor der Päpstlichen Katholischen Universität (PUC).
So haben wir eine „rechtlich-kriminelle“ und eine „soziale“ Straffreiheit. Seit dem Ausbruch der aktuellen Revolte am 18. Oktober wurde eine Reihe von Symbolen dieser sozialen Straflosigkeit angegriffen, siehe die Enthauptung der Statue von Pedro de Valdivia (spanischer Eroberer) oder die Zerstörung des „Präsident-Pinochet-Platzes“ in Linares. Die Straffreiheit spiegelt sich in den Urteilen, in der Flucht von Verurteilten.[6] Wir haben aber auch Kriminelle, die ihre Strafen in „Luxusgefängnissen“ absitzen und als pensionierte Militärangehörige weiterhin ihre Rente erhalten, die übrigens um ein Vielfaches höher ist als die Altersversorgung jedes Rentners und jeder Rentnerin in Chile.
Um die Gesellschaft der Straflosigkeit öffentlich anzuprangern, gibt es seit etwa 20 Jahren eine „comisión FUNA“ („Kommission der Anklage“), die die Kriminellen, die friedlich leben und arbeiten, durch Demonstrationen in ihren Wohnbezirken oder Arbeitsplätzen outet. „Hier lebt ein Menschenrechtsverletzer“ ist ein häufig verwendeter Slogan.
5. Staatliche Menschenrechtsarbeit
So gab es in diesen 30 Jahren nach der Diktatur einige Fortschritte „im Rahmen des Möglichen“ – offensichtlich haben wir jedoch keine politische Handhabe im Hinblick auf Wahrheit, Gerechtigkeit, Erinnerung und Aufarbeitung, sondern nur „Initiativen“, die abhängig von der politischen Orientierung der Regierung und der „Sensibilität“ der zuständigen Autorität für das Thema gewachsen sind oder eingeschränkt wurden.
1.Menschenrechtsverletzungen
Ich werde mich in diesem Punkt kurz fassen, da ich davon ausgehe, dass es Menschen gibt, die die spezifische Situation der Mapuche viel besser kennen als ich.
Chile verstößt gegen die Menschenrechte der Mapuche, was offiziell durch Instanzen wie das Hochkommissariat für Menschenrechte der UN und Human Rights Watch bestätigt wurde. Ich zitiere einen Auszug aus einem dem UN vorgelegten Bericht, der einen Teil des Problems zusammenfasst:
„Das Gebiet der Mapuche unterliegt heute zum Großteil einem extraktivistischen System der Forstwirtschaft – gestützt und subventioniert durch den chilenischen Staat –, das in drei wesentlichen Aspekten gegen die Rechte der Mapuche verstößt:
– Reproduktion der strukturellen Ungerechtigkeit
– Unkenntnis und Ignoranz gegenüber politischen und bürgerlichen Rechten
– ethnisch-nationalistisch motivierte Unterdrückung
Die chilenische Regierung beantwortete den Kampf der Mapuche mit einer Strategie der Kriminalisierung. Zum Beispiel wird die autonome Mapuche-Organisation CAM (Coordinadora Arauco Malleco) […] seit zwei Jahrzehnten durch die Forstwirtschaft verfolgt und vom chilenischen Staat kriminalisiert.
Bei dieser Kriminalisierungsstrategie wenden die Sicherheitsbehörden des chilenischen Staats Praktiken aus Diktaturzeiten an, wie z.B. die Doktrin der inneren Sicherheit des Staates. Das Volk der Mapuche ist nun der innere Feind, der mit Sicherheitsstrategien niedriger Intensität in Schach gehalten werden sollen.
- Die Strategie wird durch die Anwendung des Antiterror-Gesetzes ergänzt, um exponierte Mapuche zu inhaftieren, eine Gesetzgebung, gegen die UN-Organe sowie nationale und internationale Menschenrechtsorganisationen Einspruch erhoben haben. So hat die chilenische Regierung – unter dem Schutz des Sicherheits- und Nachrichtengesetzes – geheimdienstliche Aktionen mit Agenten des Staates und dem nationalen Geheimdienst durchgeführt. Die „Operación Paciencia“ (2002 und 2004) und die „Operación Huracán“ (2017) zeigen unwiderlegbar auf, wie gegen die Zivilrechte eines Rechtsstaates verstoßen wurde.
- Am 23. September 2017 wurde ein Prozess gegen acht Mapuche-Leiter*innen unter Geltendmachung des Sicherheits- und Nachrichtengesetzes und des Antiterrorismusgesetzes durchgeführt. Der Vorgang hatte zum Ziel, falsche Beweise einzuführen, eine Information, die sich aus Gutachten der Staatsanwaltschaft und externer Instanzen entnehmen ließ. Aktuell hat die Generalstaatsanwaltschaft, die die Anklage vertritt, die Beendigung des Falls „Huracán“ – ohne Anklageerhebung – angekündigt. Parallel initiierte sie eine Untersuchung aufgrund des Verdachts der Konstruktion einer Beweiskette durch Beamte der Carabineros, insbesondere aus dem Geheimdienst.“ [7]
2. Unterdrückung
Nach dem Bericht des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) von 2018[8] sind die Mapuche weiterhin die Ärmsten unter allen Armen, und auch wenn Chile soziale Programme zur Überwindung der Armut eingeführt hat, ist das nur Symptombekämpfung.
Die Gewalt gegen die Mapuche hat eine lange Tradition. Seit 30 Jahren nun verteidigt eine ganze Generation ihre Recht auf Autonomie, auf eigene Territorien sowie das Recht auf gesellschaftliche Anerkennung angesichts der historischen Diskriminierung und Negation ihrer Identität. So schreiben auch die Mapuche ihre eigene Geschichte, ein Beispiel hierfür ist die „Comunidad de Historia Mapuche“ („Gemeinschaft der Mapuche-Geschichte“)[9].
3. Kampf
Seit Generationen kämpft das Volk der Mapuche um das Recht auf Autonomie und Selbstbestimmung und die Rückgewinnung und Verteidigung der traditionellen Territorien.
4. Internationale Solidarität
Beispiele der Verbundenheit mit dem Kampf der Mapuche sind die Solidarität mit den politischen Gefangenen und die Unterstützung der Gemeinschaften. Unter anderem: Veranstaltungen mit Aktivist*innen und Unterstützung der Hungerstreiks und internationalen Kampagnen, Demonstrationen vor den Botschaften und anderen strategischen Orten und die Begleitung bei Aktionen gegen internationale Institutionen. Die Compañeras Llanquiray und Tamara der Gruppe „Solidaridad con el pueblo Mapuche en Berlín“ („Solidarität mit dem Mapuche-Volk in Berlin“) können viel genauer über diese Kämpfe und internationale Solidarität erzählen.
Nun ist die Frage, die mich seit dem 18. Oktober umtreibt: Im Territorium der Mapuche (Wallmapu) gibt es Verstöße gegen die Menschenrechte, Militarisierung des Territoriums, verletzte Kinder und Jugendliche, Mütter, die sich gezwungen sehen, mit Hand- und Fußschellen zu gebären, eingesperrte Aktivist*innen, die für ihre Gebiete kämpfen, Berichte sowohl in Chile als auch im Ausland, die diese Verstöße offenlegen und Empfehlungen an den chilenischen Staat geben, die nicht eingehalten werden ‑ warum regt sich die Solidaritätsbewegung erst jetzt mit soviel Kraft? Hat es etwa nicht schon seit Jahrzehnten Ermordungen, Montagen, Razzien, Verletzte durch Schrotkugeln, –zusammengefasst – Verstöße gegen die Menschenrechte in Wallmapu gegeben, von denen die gesamte Mapuche-Bevölkerung betroffen war? Das war eine der mit Empörung vorgetragenen Beschwerden vor genau zehn Jahren bei der Einweihung des Gedenk- und Menschenrechtsmuseums „Museo de la Memoria y los DDHH“ in Santiago de Chile, mit denen die Schwester von Matías Catrileo die Präsidentin Michelle Bachelet kritisierte.
Es ist der erweiterte Blick auf die Menschenrechte, der das Bewusstsein Tausender erreicht und die Forderung nach einem menschenwürdigen Leben hervorgebracht hat.
1. Wasser:
Im September des vergangenen Jahres erhielt Rodrigo Mundaca die Auszeichnung der Menschenrechte in Nürnberg: Rodrigo und seine Compañeros und Compañeras aus Petorca stellten eine Forderung, die unmöglich scheint: das Recht auf Wasser.
Könnt ihr euch vorstellen, jeden Tag in eine Plastiktüte zu kacken? Oder nicht jeden Morgen duschen zu können und euch mit einem Lappen waschen zu müssen? Oder beim Aufdrehen des Wasserhahns das Geschirr nicht spülen zu können? Das ist die Lage der Einwohner*innen der Region Petorca, die durch die „Bewegung für die Verteidigung des Wassers, des Landes und des Umweltschutzes“[10] international Aufmerksamkeit erhielt. Diese hat die Macht der Unternehmer*innen herausgefordert, die das Wasser der Flüsse ausbeuten, ein Gut, das allen gehören und allen ermöglichen sollte, sich zu waschen. Doch es wird verwendet, um große Avocadoplantagen zu gießen. Die Avocado, die wir essen und in den Berliner Supermärkten einkaufen, stiehlt den Einwohner*innen in Petorca das Wasser, also schauen Sie auf den Herkunftsort der Avocados, die Sie kaufen.[11]
2. Bildung
Bildung hat sich in ein Konsumgut verwandelt. Dies war der Motor für den Kampf der Schüler*innen im letzten Jahrzehnt und hat Chile im Ranking der Top Ten der Ungerechtigkeit den siebten Platz eingebracht.[12] So wird die sogenannte „Oase Lateinamerikas“ zu einem Bild, das zunehmend noch künstlicher erscheint als das eigentliche Phänomen der Oase.
3. Gesundheitssystem
Es gibt ein Konzept namens Nekropolitik[13], über das ich letztens gelesen habe. Es beschreibt, wie soziale und politische Macht dazu benutzt wird zu bestimmen, wie in einem neoliberalen System einige Menschen leben können und wie andere sterben müssen. Es ist eine Theorie der lebenden Toten, die bis zur Perfektion auf die Privatisierung des Gesundheitssystems in Chile zutrifft. (Dies gilt auch für alle anderen Rechte, die in privatisierte Güter umgewandelt wurden).
In Chile gibt es keine Mittelschicht
Ein gutes Mittel, um das soziale Gefüge zu erhalten: In Chile gibt keine Mittelschicht, sondern nur Reiche und Arme. Wir Armen haben aufgrund unserer produktiven Fähigkeiten und Kräfte (einschließlich unserer Fähigkeit zu konsumieren und uns zu verschulden) den Wunsch, der Mittelschicht anzugehören. Jedoch überschreiten wir, falls wir erkranken, sofort die Grenze zur Armut und können nicht mehr produzieren. Ein Reicher hingegen besitzt Produktionsmittel und kann den durch eine Krankheit verursachten Schlag überleben, muss also nicht auf die eigene Produktivkraft setzen und verliert im Krankheitsfall weder Unterkunft noch Essen noch die Möglichkeit, die eigenen Kinder zu erziehen.
Wer krank ist, muss ums Überleben kämpfen
Ich glaube, dass alle aus der sogenannten „Mittelschicht“ von dem Fall einer Verwandten, eines Freundes oder einer Bekannten erzählen können, die seit Monaten darauf wartet, Zugang zu medizinischer Versorgung zu bekommen und aufgrund einer akuten oder chronischen Krankheit, anstatt zu leben, um das reine Überleben kämpfen muss. Der Verstoß gegen das Recht auf Gesundheit lässt uns die Parole „Es war keine Depression, es war Kapitalismus“ verstehen, die darauf Bezug nimmt, dass die chilenische Gesellschaft den höchsten Anteil psychisch Kranker und den stärksten Konsum von Psychopharmaka aufweist. In Chile wurde laut Angaben der WHO bei 5% der Bevölkerung eine Depression diagnostiziert.[14]
4. Wohnungen
Ist erst einmal eine Sozialwohnung gefunden, so scheint sich der Traum vom eigenen Zuhause, den jede Chilenin und jeder Chilene in sich trägt, verwirklicht zu haben. Doch viele dieser Sozialbauten haben marginale Wohnbezirke der Städte in „Ghettos“ verwandelt, in denen menschenunwürdige Zustände herrschen. Trotzdem sind Familien, die sich nicht für die nächsten 40 Jahre mit einem Hauskauf verschulden können, gezwungen, in diesen sogenannten „Unterkunftslösungen“ zu leben, wo der Alltag von Platzmangel, körperlicher Gewalt gegen Kinder und Frauen, sexuelle Gewalt, Drogenhandel und -konsum, Banden und urbaner Gewalt geprägt ist. Es sind Stadtteile, in denen sich kein öffentlicher Platz, kein Firmensitz, keine Arztpraxis und keine Schule finden lassen. Viele Familien, die Sozialunterkünfte erhielten, entschlossen sich dazu, doch wieder zu besetzen, da ihnen schnell klar wurde, dass in diesen „prekären Lagern“ immer noch bessere Bedingungen herrschen als in ihren Sozialunterkünften. Somit ist es nicht nur die Forderung des Rechts auf Wohnsitz, sondern auf eine menschenwürdige Unterkunft.
5. Frauen*rechte
Und was gibt es zu den Sexual- und Reproduktionsrechten zu sagen in einem Land, in dem der Staat angeblich säkular ist, jedoch weiterhin nach den Werten der Kirche regiert und diese im Land durchsetzt? Einer Kirche, die zunehmend durch Skandale, Missbrauchsfälle und Korruption in Frage gestellt wird. Erst im letzten Jahr (2019) wurden Gesetze zur Abtreibung erlassen, jedoch nur in drei Fällen: bei Lebensunfähigkeit des Fötus, bei Lebensgefahr der Mutter und bei Vergewaltigung. Jedoch existiert immer noch kein Recht für Frauen, frei über ihren Körper zu entscheiden. Das ist ein Grund, warum man davon ausgeht, dass die feministische Bewegung weiterhin so stark bleibt. Das Recht von Frauen auf ein Leben in Würde und Gewaltfreiheit zu garantieren ist eine Pflicht eines demokratischen Staates, genauso wie das Recht, unter gleichen Bedingungen am öffentlichen Leben teilnehmen zu können, ohne bestraft zu werden – durch hohe Sätze an die Krankenkassen, bei der Jobauswahl… Wir könnten hier lange über die multiplen Diskriminierungen sprechen, die wir als Frauen nur aufgrund der Tatsache, dass wir Frauen sind, erfahren.
Kinderrechte
Ich möchte nicht das Recht von Kindern und Jugendlichen unerwähnt lassen. Chile unterzeichnete 1989 das Abkommen zu Kinderrechten, doch in den Jahren nach der Diktatur starben mehr Kinder durch SENAME („Servicio Nacional de Menores“), die staatliche Institution, die die Integrität von Minderjährigen wahren und ihre Rechte sicherstellen sollte, als in der gesamten Diktatur: 1.313 Kinder und Jugendliche sind in den letzten zwölf Jahren durch die Hand des SENAME gestorben. [15]
Von den zehn Grundsätzen der Internationalen Konvention über die Rechte des Kindes werde ich nur zwei zitieren:
Artikel 7
Das Kind hat Anspruch auf unentgeltlichen Pflichtunterricht, zumindest in der Elementarstufe. Ihm wird eine Erziehung zuteil, die seine allgemeine Bildung fördert und es auf der Grundlage der Chancengleichheit in die Lage versetzt, seine Fähigkeiten, sein persönliches Urteilsvermögen, seinen Sinn für moralische und soziale Verantwortung zu entwickeln und ein nützliches Glied der Gesellschaft zu werden.
Die Interessen des Kindes sind die Richtschnur für alle, die für seine Erziehung und Anleitung verantwortlich sind; diese Verantwortung liegt in erster Linie bei den Eltern.
Das Kind hat volle Gelegenheit zu Spiel und Erholung, die den gleichen Zielen wie die Erziehung dienen sollen; die Gesellschaft und die öffentlichen Stellen bemühen sich, die Durchsetzung dieses Rechts zu fördern.
Artikel 8
Das Bedürfnis von Kindern nach Schutz und Hilfe ist in jeder Situation als vorrangig zu betrachten.“ [16]
Bleibt uns noch die Frage: Wie hat der chilenische Staat diese Kinder- und Jugendrechte geschützt? Und die Gefangenen (oder Personen, denen die Freiheit entzogen wurde), die von der Gesellschaft vergessen zu sein scheinen, insbesondere im Hinblick auf die Menschenrechte? Dass jemand eine Strafe verbüßt, bedeutet nicht die Aufhebung seiner menschlichen Natur oder der Achtung seiner Grundrechte. Der vielleicht skandalöseste Fall der letzten Jahre war der Tod von 81 Insassen im Gefängnis von San Miguel[17], die wegen unterschiedlichster Verbrechen verurteilt worden waren und nun mit Überbelegung, Wassermangel und extremer Gewalt fertig werden mussten. Ein Beispiel dieser Menschenrechtsverletzungen nennt der Bericht des Nationalen Institutes für Menschrechte (INDH) für den Zeitraum 2016-2017:
„51,3% der Männer und 35,7% der Frauen, die eine Freiheitsstrafe verbüßen, haben keinen eigenen Schlafplatz.“ [18]
1. Menschenrechtsverletzungen
Dies sind die Hintergründe des am 18. Oktober ausgebrochenen sogenannten sozialen Aufruhrs. So ist es nicht verwunderlich, dass unter der aktuellen Regierung von Sebastián Piñera gegen die Menschenrechte verstoßen wird. Denn wie wir gesehen haben, hatten wir während der Diktatur einen kriminellen und nach ihr einen mitschuldigen und nachlässigen Staat. In einigen Momenten und Fällen hat der Staat aktiv gegen Menschenrechte verstoßen, beispielsweise zu Zeiten der Diktatur oder während der letzten Jahrzehnte auf dem Territorium der Mapuche, in anderen war er nachlässig in Bezug auf Schutz und Förderung.
Hier die aktuellen Zahlen der begangenen Verstöße [19]
– 27 Tote
– 3583 Verletzte
– 1615 Verletzte durch Schrotkugeln
– 359 Augenschäden (2 Totalverluste des Sehvermögens)
– 230 Verletzungen durch Tränengas
2. Forderungen
„Es sind keine 30 Pesos, es sind 30 Jahre“. Alles begann mit dem Anstieg der Kosten für den öffentlichen Transport um 30 Pesos (4 Cent). Die Forderungen der sozialen Bewegung sind vielfältig, und auch diesbezüglich gibt es Diskussionen, sie alle richten sich jedoch auf das Grundbedürfnis nach einem „würdevollen Leben“. Die Menschenrechtsverletzungen, die ich kurz angerissen habe, sind struktureller Natur, nach dem unter der Diktatur eingeführten neoliberalen Modell; sie sind verankert in der politischen Verfassung, die unter der Diktatur von Pinochet geschrieben wurde und bis heute noch gültig ist.
Dieser soziale Ausbruch hat auch gezeigt, dass die folgenden Menschenrechte nicht garantiert werden:
– Jedes Individuum hat das Recht auf freie Meinungsäußerung.
– Jede Person hat das Recht auf Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit.
– Jeder Mensch hat das Recht, direkt oder indirekt an der Regierung ihres oder seines Landes mitzuwirken.
So werden seit dem 18. Oktober Menschen, die gegen die Ungerechtigkeiten des Lebens im Labor des Neoliberalismus in Chile demonstrieren, unterdrückt, kriminalisiert und eingesperrt.
Die Hauptforderung ist demnach eine neue Verfassung, die nicht hinter verschlossenen Türen geschrieben wird und nicht der symptomatischen Denkweise entspricht, die das im November unterzeichnete sogenannte „Friedensabkommen“ abbildet. Viele von uns sehen das Abkommen als rechtswidrig an, da nach seiner Unterzeichnung und dem geschaffenem Bild von „Frieden“ weiterhin gegen die Rechte der demonstrierenden Bevölkerung verstoßen wird und es Menschen gibt, die durch das repressive Vorgehen der Polizei ihr Leben verloren haben.
3. Solidarität
Wie wir in der jüngsten Vergangenheit gesehen haben, gibt es verschiedene Wege, internationale Solidarität auszudrücken. Einige Ideen werden begleitet vom Geschmack nach Empanada und Rotwein, genau so, wie sich Allende den chilenischen Weg zum Sozialismus ausmalte. Ich lasse die Debatte offen. Vielen Dank an die Compañeras und Compañeros aus Acciones Cabildo Berlín für die Übersetzung und die Einladung.
Übersetzung:
Luisa Rau und Melissa Skármeta Moraga
[1] Bericht von José Maureira, junger Medizinstudent der PUC (Pontificia Universidad Católica de Chile), 2019.
[2] Zeugenbericht einer Überlebenden der Folter während der Militärdiktatur.
[3] http://expedition-heimat.dw.com/templates/es/chi/detailPage_inGermany.php
[4] Mehr als 5000 Verfassungsbeschwerden wurden abgelehnt. Daher gestand das Oberste Gericht im Jahr 2013, 40 Jahre nach dem Putsch, seine Fehler während der Diktatur: https://www.nacion.com/el-mundo/conflictos/corte-
suprema-de-chile-admite-errores-durante-dictadura/ZZQB6SW64JEGDNVPRVTYTDZRQY/story/
[5] https://rosalux.org.br/wp-content/uploads/2016/07/Standpunkt_15-2016-Colonia-Dignidad.pdf
[6] Wie im Fall vom kürzlich vor Gericht gebrachten Ricardo Lawrence, der (neben anderen Verbrechen gegen die Menschheit) für das Verschwindenlassen von Alfonso Chanfreau, aktives Mitglied der „Bewegung der Revolutionären Linken“ (MIR – Movimiento de Izquierda Revolucionaria) und Großvater eines der aktuellen jungen Anführer der Schüler*innen der Oberschule Victor Chanfreau, der in den letzten Tagen im Zentrum der Polemik stand, verurteilt wurde.
[7] Dokumente auf Englisch, Spanisch und Französisch verfügbar: https://documents-dds-
ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/G18/266/45/PDF/G1826645.pdf?OpenElement
[8] https://www.cl.undp.org/content/dam/chile/docs/pobreza/undp_cl_pobreza-sintesis-DESIGUALES-
final.pdf
[9] https://www.comunidadhistoriamapuche.cl/areas-de-trabajo/
[10] „Movimiento de Defensa del Agua, la Tierra y la Protección del Medioambiente“ – MODATIMA: http://modatima.cl
[11] Weltspiegel-Reportage: Avocado – Umweltkiller Superfood
https://www.daserste.de/information/politik-weltgeschehen/weltspiegel/sendung/umweltkiller-superfood-
100.html
[12] Laut Angaben der Weltbank 2018: http://documentos.bancomundial.org/curated/es/242251476706821424/pdf/109215-REVISED-PUB-
PUBLIC.pdf
[13] Mbembe, A. (2019). Necropolitics. Durham: Duke University Press.
[14] https://apps.who.int/iris/bitstream/handle/10665/254610/WHO-MSD-MER-2017.2-eng.pdf?sequence=1
[15] https://ciperchile.cl/wp-content/uploads/informe-emilfork4.pdf
[16] https://www.un.org/es/events/childrenday/pdf/derechos.pdf
[17] Tamayo Grez, T. (2016) Incendio en la Torre 5. Las 81 muertes que Gendarmería quiere olvidar. Santiago:
Ediciones B.
[18] https://www.elmostrador.cl/media/2019/04/estudio-general-2016-2017.pdf
[19] Informe Grupo Jurídico DDHH 18.10, Chile Despertó Internacional, enero 2020
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