Deutsche Ausgabe des wöchentlichen Pressedienstes lateinamerikanischer Agenturen Nr. 406 vom 29. Oktober 1999
Inhalt
PUERTO RICO
MEXIKO
NICARAGUA
URUGUAY
PARAGUAY
ARGENTINIEN
PORTRAIT
CHILE
PERU
ECUADOR
KOLUMBIEN
BOLIVIEN
VENEZUELA
KOLUMNE – „Lula“ da Silva über Hugo Chávez
LATEINAMERIKA -Die Mythen des Tourismus, VII
PUERTO RICO
US-Marine macht weiter Schwierigkeiten
(San Juan, 22. Oktober 1999, pulsar-Poonal).- Die us-amerikanische Kriegsmarine verursacht weiter Probleme auf Puerto Rico. Marines-Sprecher Robert Nelson gab zu, mehr als 100.000 Gallonen Kerosin seien in der Roosevelt-Roads-Kaserne ausgelaufen. Dies habe in den Mangrovenwäldern große Umweltschäden verursacht. Militärs und Experten hätten versucht, das Kerosin einzudämmen, dies aber nur bei 20.000 Gallonen geschafft. Kerosin sei jedoch ein sehr leichter Brennstoff, der zudem keine Farbe habe. Das erschwere sein Auffinden. Der puertoricanische Umweltminister Daniel Pagan kündigte an, er werde den Fall untersuchen lassen. Die Untersuchungen würden wahrscheinlich zur Aufhebung der Erlaubnis für die Marine führen, weiterhin die auf Militärgelände liegende Wasserflächen zu nutzen, sagte er.
MEXIKO
Kampagne gegen manipulierten Mais
(Mexiko-Stadt, 25. Oktober 1999, na-Poonal).- Umweltorganisationen haben eine Kampagne gegen den Import von genmanipuliertem Mais aus den USA begonnen. Ein Großteil des nach Mexiko gelieferten Mais wird im Mittelwesten der USA angebaut. Dort benutzen viele Farmer mit dem Gen Bt manipuliertes Saatgut, das ein „natürliches“ Pestizid produziert. Organisationen wie Greenpeace Mexiko oder die Gruppe der 100 befürchten, der Bt-Mais können sich mit dem mexikanischen Mais über die Pollenbestäubung kreuzen und so die Vielfalt der mehr als 300 Maissorten im Land gefährden.
„Mehrere tausend Jahre habt unsere Leben aufgrund des Saatgutes existiert, das die Natur uns gab“, so Homero Aridjis, Vorsitzender der Gruppe der 100 und derzeit auch Präsident des internationalen PEN-Clubs. „Diese Samen werden jetzt verändern und niemand weiß, was passieren wird.“ Die Umweltgruppen versichern zudem, der Bt-Mais habe einen großen Widerstand gegen die herkömmlichen Herbizide entwickelt. Das werde viele mexikanische Landwirte zwingen, stärkere chemische Mittel anzuwenden, die wiederum die Umwelt schädigen würden. Eine Gefahr wird auch für die Königsschmetterlinge gesehen, die aus Canada und dem Nordern der USA zum Überwintern bis in die mexikanischen Bundesstaaten Michoacan und Mexiko fliegen.
NICARAGUA
Diskussion um Nachfolge von Miguel Obando y Bravo hat schon begonnen
(Managua, 20. Oktober 1999, alc-Poonal).- Der Erzbischof von Managua, Miguel Obando y Bravo, wird erst am 2. Februar 2001 seinen 75sten Geburtstag feieren und nach den Regeln des Vatikan dann aus Altersgründen seinen Rücktritt einreichen müssen. Doch bereits jetzt hat innerhalb der katholischen Kirche die Diskussion und Spekulation um seine Nachfolge begonnen. Drei Namen werden bisher gehandelt. Bei einem der erwähnten Kirchenpersönlichkeiten handelt es sich um den Bischof der Stadt Leon, Bosco Vivas. Er ist 57 Jahre alt und gilt als einer der fundamentalistischten Mitglieder des nicaraguanischen Klerus. Ein weiterer Kandidat ist der 53jährige Bischof Abelardo Matta. Dieser hat einige Streits mit den Funktionären der rechtsliberalen Regierung in seiner Diözese Esteli im Norden der Hauptstadt ausgefochten. Er tritt dafür ein, dass die Kirche keine Parteipolitik machen sollte – Obando y Bravo ist dagegen durchaus eine deutliche Regierungsnähe nachzusagen. Der dritte Name im Gespräch ist der des 50jährigen Bischofs Leopoldo Brenes aus der Stadt und Diözese Matagalpa. Ihm wird große soziale Sensibilität und Solidarität mit den Armen zugestanden. Brenes selbst hält die Nachfolgediskussion allerdings für ein Spiel der Medien „und vielleicht einiger Freunde, die uns gerne in diesem Amt sehen würden“. Er vertraue auf den heiligen Geist und den Papst. Letzterer hat auch die Möglichkeit, an seinem konservativen Erzbischof festzuhalten, in dem er den Rücktritt nicht akzeptiert. Obando y Bravo sagt, er werde „zufrieden und glücklich“ aus dem Amt scheiden, wenn der Papst dies bestimme.
URUGUAY
Linkskandidat Vazquez Favorit bei Präsidentschaftswahl
Von Eduardo Curuchet
(Montevideo, 27. Oktober 1999, comcosur-Poonal).- Am kommenden Sonntag (31.10.) entscheidet Uruguay an den Urnen, ob der Linkstrend in der Region nach dem Wahlsieg Fernando de la Ruas in Argentinien auch in dem kleinen Nachbarstaat auf der anderen Seite des Rio de La Plata fortgesetzt wird. Erstmals ist auch hier ein sozialdemokratischer Kandidat Favorit für das Amt des Präsidenten. Die liberal-konservative Mehrheit ist bei den gleichzeitigen Parlamentswahlen jedoch nicht gefährdet.
Tabare Vazquez, Kandidat des „Breiten Bündnisses“ Encuentro Progresista-Frente Amplio (EP-FA), das von Sozialdemokraten bis hin zu Mitgliedern der ehemaligen Stadtguerilla Tupamaros reicht, hat nach aktuellen Umfragen gute Aussichten, als erster Sozialist in der Geschichte Uruguays in den Präsidentenpalast einzuziehen. Nach neun Jahren Amtszeit als Bürgermeister der Hauptstadt Montevideo, in der knapp der Hälfte der Einwohner des Dreimillionen-Landes leben, schickt er sich an, die Auseinandersetzungen mit dem Kandidaten der konservativen Regierungspartei Partido Colorado (PC) für sich zu entscheiden.
Für die „Colorados“, die mit Julio Maria Sanguinetti seit fünf Jahren den Staatschef stellen, tritt Jorge Batlle an. Die an der Regierung beteiligten „Blancos“ (Partido Nacional – PN) sowie die kleine Mitte-Links-Partei Nuevo Espacio (NE) liegen deutlich hinter dem „Breiten Bündnis“, dem 36 Prozent der Stimmen zugetraut werden.
Zentrales Wahlkampfthema war der neoliberale Kurs, den sowohl der PC-Kandidat Jorge Batlle mit dem Wahlslogan „Für Uruguay und seine Menschen“, als auch PN- Kandidat Luis Alberto Lacalle („Mit den Blancos leben wir besser“), verkörpern. Lacalle, der bereits von 1990 bis 1994 das Präsidentenamt bekleidete, zeichnet gemeinsam mit der jetzigen Regierung für eine Reihe von Privatisierungen, die Erschütterung des staatlichen Gesundheitssystems sowie eine fragwürdige Bildungsreform verantwortlich. Das Rezept der beiden konservativen Kandidaten gegen die nach wie vor steigende Inflation und Arbeitslosigkeit heißt Liberalisierung des Marktes und Fixierung der Arbeitspolitik auf den Dienstleistungssektor.
Für eine Förderung von Industrie und Landwirtschaft hingegen steht das Konzept von EP-FA. Auch die Aufarbeitung der Militärdiktatur bis 1985, die von Regierungsseite eher blockiert als gefördert wurde, ist Teil der Forderungen des linken Bündnisses unter Vazquez. Demokratisierung und Entfilzung der staatlichen Verwaltung sind weitere Punkte ihres Wahlprogramms unter dem Motto „Veränderungen auf die uruguayische Art“.
Neu ist auch der Wahlmodus, der den vier im Parlament vertretenen Parteien interne Abstimmungen zur Kandidatenkür vorschrieb. Erstmals ist ein zweiter Wahlgang vorgesehen, sollte der Sieger die absolute Mehrheit verfehlen oder auf weniger als 10 Prozent Abstand zum Zweitplazierten kommen. Kontrahent von Tabare Vazquez wird Umfragen zufolge Colorado-Kandidat Jorge Batlle mit 28 Prozent im ersten Durchgang. Die Wählerschaft der Drittplazierten wird somit den Ausschlag geben. Dies erhöht die Chancen von Batlle, der mit einem großen Teil der 22 Prozent Stimmen rechnen kann, die für die Partido Nacional als drittstärkster Partei erwartet werden. Wie die Wählerschaft von Nuevo Espacio mit ihrem Kandidaten Rafäl Michelini („Für ein gerechteres Uruguay“) reagiert, ist schwer auszumachen. Diese Partei trug einerseits die Regierungspolitik mit, versuchte andererseits jedoch, sich mit der Forderung nach Menschenrechten und einer Demokratisierung der Politik zu profilieren. Ihr erwarteter Stimmanteil liegt bei 4 Prozent.
Als einziger der Gratulanten aus Uruguay begab sich Tabare Vazquez am Montag persönlich nach Buenos Aires, um den neu gewählten Präsidenten Argentiniens, Fernando de la Rua, zu umarmen. Sollten die Umfragen recht behalten, kann Vazquez demnächst mit einem Gegenbesuch rechnen und Glückwünsche entgegennehmen.
„Ein bedauernswertes Schweigen“ – Präsident Sanguinetti in Nöten
(Montevideo, Oktober 1999, comcosur-Poonal).- Wenn er ein Gewissen hat, so wird es ihn in seinen letzten Amtstagen möglicherweise plagen. Uruguays Präsident Julio Maria Sanguinetti ist durch einen Brief des argentinischen Dichters Juan Gelman und die darauffolgenden Solidaritätsadressen weltbekannter Kollegen in Bedrängnis geraten. Gelman erinnerte Sanguinetti Anfang dieses Monats in einem offenen Brief an ein vor knapp sechs Monaten gegebenes Versprechen, über das Schicksal seines Enkelkindes nachzuforschen.
Der Sohn und die hochschwangere Schwiegertochter des Dichters verschwanden 1976 unter der Militärdiktatur. Sie waren in Buenos Aires von Militärs entführt worden. Der Sohn wurde später mit einem Genickschuss ermordet aufgefunden. Die Schwiegertochter Claudia, irrtümlich als Uruguayerin angesehen, verschleppten die Militärs nach Montevideo. Dort wurde sie vom uruguayischen Geheimdienst festgehalten und gebar im Dezember 1976 im Militärhospital ein Kind, dessen Geschlecht unbekannt ist. Das Hospital verließ sie samt Kind unter der Begleitung des Oberst Juan Rodríguez Buratti und des Kapitäns José Arab. Danach verlor sich ihre Spur.
Gelman überreichte diese und weitere von ihm recherchierter Informationen über in den Fall verwickelte uruguayische Militärs im Mai dem amtierenden Präsidenten Sanguinetti. Dessen Sekretär Elías Bluth berichtete dem Dichter, der Staatschef habe sich „tief bewegt gefühlt“ und versprochen „alles menschenmögliche zu unternehmen, um dieser Sache nachzugehen“. Was folgte, war ein monatelanges vergebliches Warten auf eine Antwort des Präsidenten.
Gelman entschied sich, an die Öffentlichkeit zu gehen. Sein zuerst in der Tageszeitung „La República“ veröffentlichter Brief erregt seitdem Aufsehen. Der Gewerkschaftsverband PIT-CNT, Menschenrechtsorganisationen und viele Persönlichkeiten solidarisieren sich mit dem Dichter. Zu den bekanntesten gehören die uruguayischen Schriftsteller Eduardo Galeano und Mario Benedetti sowie der portugiesische Literaturnobelpreisträger José Saramago und Friedensnobelpreisträger Adolfo Perez Esquivel.
Mario Benedetti, in Uruguay eine moralische Autorität, schreibt: „Die Schwierigkeiten und Widerstände, die Sanguinetti in Militärkasernen und sogar einigen zivilen Kreisen gefunden haben wird, um zur Wahrheit zu gelangen, sind vorstellbar. Aber es ist menschlich und politisch bedauerlich, dass er trotz aller der damit verbundenen Risiken, die Gelegenheit versäumt, in die Geschichte als der Regierungschef einzugehen, der den Mut hatte, einem so verabscheuungswürdigem Thema wie der Kindeserfahrung auf den Grund zu gehen.“
Unterstützung erhält Gelman auch von Teilen der uruguayischen Kirche. „Kein Gesetz noch eine Amnestie können das Vergessen dieser Verbrechen anordnen“, so Bischof Pablo Galimberti gegenüber „La República“. Der offene Brief des Dichters sei „ein Tropfen mehr, vielleicht (besonders) bedeutend wegen der Stimme und der Persönlichkeit dessen, der ihn schreibt“, meint der Bischof. „Doch ich glaube, es ist derselbe Schmerz so vieler Uruguayer und so vieler Familien, die dieselbe Gewalt erlitten haben“. Vom Präsidenten fordert Galimberti „etwas mehr als eine schweigende Antwort“.
Während im spanischsprachigen Ausland inzwischen viele wichtige Zeitungen ausführlich über die Debatte berichten und die nicht enden wollenden Solidaritätsadressen mit Gelman veröffentlichen, halten sich die meisten uruguayischen Medien weitgehend bedeckt. Mitten im Wahlkampf vermeiden sie das Thema, wo sie nur können. Der Präsident hat bisher sein Schweigen beibehalten. Schon in der Vergangenheit reagierte er ausweichend oder abweisend, wenn seine Regierung aufgefordert wurde, das Schicksal der unter der uruguayischen Militärdiktatur (1976 – 1983) verschwundenen Personen aufzuklären. Stattdessen bereitete er in seiner ersten Amtszeit direkt nach der Diktatur einem Amnestiegesetz den Boden, das den Militärs Straffreiheit für ihre Verbrechen garantierte. Viele verwundert es darum nicht, dass Sanguinetti sein Gelman gegebenes Versprechen nicht einhält. Für sie ist das anhaltende Schweigen des Präsidenten „kein Schweigen eines Unschuldslamms“.
PARAGUAY
Oviedo und Cubas für schuldig befunden
(Asuncion, 25. Oktober 1999, na-Poonal).- Die Kongress-Kommission, die den Mord an Vizepräsident Luis María Argaña im März dieses Jahres untersucht, hält Ex- General Lino Oviedo und Ex-Präsident Raúl Cubas Grau sowie dessen damaligen Innenminister Rubén Arias für die Verantwortlichen des Verbrechens. Diese Schlussfolgerung ist in einem tausendseitigen Bericht niedergelegt, der dem amtierenden Präsidenten Luis González Macchi, dem Kongressvorsitzenden Juan Carlos Galaverna und dem Generalstaatsanwalt Estado Aníbal Cabrera überreicht wurde. Als Komplizen des Mordes sind in dem Dokument auch sechs Senatoren und elf Abgeordnete erwähnt, die als Oviedo-Anhänger gelten.
Regierungssenator Luis Alberto Mauro, der die Kommission leitete, sieht den Bericht durch Urteilselemente „von zweifelsfreier Kraft und Gültigkeit“ gestützt. Dagegen tat der Verteidiger von Oviedo und Cubas das Dokument als unglaubwürdig ab. Er sei ein einfaches Instrument politischer Verfolgung. Während Cubas sich in seinem brasilianischen Asyl derzeit relativ sicher fühlen kann, muss Lino Oviedo nach dem Wahlsieg der argentinischen Opposition am vergangenen Sonntag seine Auslieferung befürchten. Bisher hatte ihn die Menem- Regierung geschützt.
ARGENTINIEN
Daimler-Chrysler unter Beschuß – Neue Indizien für Beteiligung des Konzerns an
Menschenrechtsverletzungen während argentinischer Militärdiktatur
Von Stefanie Kron
(Berlin, 26. Oktober 1999, npl).- „Wir haben einen Stein ins Rollen gebracht“, erklärt der Berliner Rechtsanwalt Wolfgang Kaleck, vor wenigen Tagen aus Argentinien zurückgekehrt. „Der Verdacht, daß leitende Angestellte der argentinischen Mercedes Benz Niederlassung in Menschenrechtsverletzungen während der Militärdiktatur (1976 – 1983) verstrickt waren, hat sich durch die Recherchen während unserer Reise erhärtet.“
Wegen Entführung und Ermordung von mindestens 13 aktiven Gewerkschaftern des Mercedes-Benz Werkes in der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires zwischen 1976 und 1977, hatte Kaleck Ende September (27.09.) bei der Berliner Staatsanwaltschaft Strafanzeige u.a. gegen den deutsch-argentinischen Mercedes- Benz Manager Juan Tasselkraut sowie gegen Emilio Massera und Jorge Videla, zwei der berüchtigsten Diktaturschergen, eingereicht. Da sowohl Tasselkraut als auch einer der Ermordeten, Esteban Reimer, deutsche Staatsbürger sind, ist die deutsche Justiz zuständig.
In den vergangenen zwei Wochen stellte Kaleck in Buenos Aires und Umgebung weitere Recherchen an. Hauptzeuge Hector Ratto, der zu den aktiven Gewerkschaftern innerhalb des Mercedes Benz Werkes zählte und als einer der wenigen seine Entführung, Inhaftierung und Folterung überlebte, bekräftigte und präzisierte seine Aussagen. Ratto wurde am 12. August 1977 auf dem Werkgelände des Automobilunternehmens in Buenos Aires vom Militär verhaftet und in das berüchtigte Folterzentrum „Campo de Mayo“ verschleppt. Seinen Schilderungen zufolge war die Werksleitung, allen voran Juan Tasselkraut, an der Verhaftung maßgeblich beteiligt.
Am 15. Oktober wiederholte Ratto seine Aussage im ARD-Morgenmagazin. Er beauftragte, ebenso wie weitere Familienangehörige von verschwundenen bzw. ermordeten Mercedes-Benz Arbeitern, Rechtsanwalt Kaleck mit der Wahrnehmung seiner Interessen und ist bereit im Falle eines Prozesses als Nebenkläger aufzutreten. Juan Tasselkraut, der bisher immer noch als Manager bei Daimler- Chrysler in Argentinien tätig war, war hingegen unauffindbar, berichtet Kaleck. Laut Aussagen verschiedener Arbeiter des Werkes wurde er Anfang Oktober auf unbestimmte Zeit beurlaubt. In seinem Haus melden sich Sicherheitskräfte und behaupten, er sei kürzlich verzogen.
Argentinische Menschenrechtsorganisationen, wie SERPAJ (Dienst für Frieden und Gerechtigkeit), die schon seit längerer Zeit in ähnlichen Fällen gegen die amerikanische Automobilfirma Ford ermitteln, waren auch die Vorwürfe gegen Mercedes Benz bekannt. Die Anwälte der Organisationen zeigten laut Kaleck großes Interesse an der Anzeige gegen das Unternehmen und wollen sich an weiteren Recherchen vor Ort beteiligen.
Reaktion auf Kalecks Anzeige zeigte auch der Dachverband der kritischen Aktionär*innen Daimler-Chrysler (KADC) in Stuttgart. In einer Presseerklärung vom 30. September forderte der KADC den Vorstand des Konzerns auf, die Staatsanwaltschaft bei der „lückenlosen Aufklärung der zum Himmel schreienden Vorgänge in der argentinischen Niederlassung zu unterstützen, um so Schaden vom Konzern abzuwenden“. KADC-Rechtserxperte Holger Rothbauer hofft, daß „der Fall Tasselkraut ein schlimmer Einzelfall bei Daimler-Chrysler ist und nicht die Spitze des Eisbergs“. Er verlangt vom Konzern „Garantien dafür, daß nicht noch weitere Leichen im Keller liegen.“
Nahezu 30.000 Menschen fielen dem argentinischen Militärregime zum Opfer. Die Unterdrückung richtete sich nicht nur gegen die bewaffnete Opposition, sondern auch gegen die erstarkte Gewerkschaftsbewegung. Die Chefetagen vieler Firmen kollaborierten mit dem Regime, um unbequeme Gewerkschafter loszuwerden. Doch nicht nur im Fall von Argentinien sind deutsche Konzerne wie Mercedes Benz unter Beschuß von Menschenrechtsorganisationen und engagierten Rechtsanwälten geraten. Am 5. Oktober erschien in der Berliner Tageszeitung Neues Deutschland ein Artikel, der die Kooperation von Mercedes Benz und VW auch mit den Repressionsorganen der brasilianischen Diktatur (1964 – 1985) bei der Verfolgung von politisch aktiven Arbeitern belegt.
Die Pressestelle von Daimler-Chrysler in Stuttgart bezeichnete auf Anfrage von npl die Vorwürfe gegen den Konzern als „wirr und unhaltbar“, räumte jedoch ein: „Falls ein behördlicher Vorgang aus den Vorwürfen resultieren sollte, der das rechtmäßige Verhalten des Unternehmens in Frage stellt, unterstützen wir natürlich die Behörden.“
Wolfgang Kaleck wird seine neuen Erkenntnisse in den nächsten Tagen der Staatsanwaltschaft mitteilen. Derzeit prüft der Bundesgerichtshof die Anzeige und bestimmt daraufhin die zuständige Staatsanwaltschaft. Kaleck hofft auf eine baldige Entscheidung: „Wir werden den Fall zwar verschärft weiterverfolgen, da die Reaktionen auf die Anzeige politisch und juristisch ein unerwartet schneller Erfolg für uns sind, aber jetzt muß vor allem die Staatsanwaltschaft aktiv werden“.
Sozialdemokrat wird neuer Präsident Argentiniens
(Buenos Aires, 25. Oktober 1999, npl).- Die Argentinier haben einen neuen Präsidenten gewählt und den Peronisten eine bittere Niederlage beschert. Oppositionskandidat Fernando de la Rua erhielt am Sonntag über 48 Prozent der Stimmen, sein peronistischer Konkurrent und bisheriger Gouverneur der Provinz Buenos Aires, Eduardo Duhalde, rund 10 Prozent weniger. Als Dritter kam der frühere Wirtschaftsminister Domingo Cavallo auf respektable 11 Prozent. Ein zweiter Wahlgang ist nicht mehr nötig, da laut Wahlgesetz ein Kandidat mit über 45 Prozent der Stimmen definitiv gewonnen hat.
Erstmals seit Ende der Militärdiktatur 1983 wird das südamerikanische Land von einer Koalition, dem Mitte-Links Bündnis „Alianza“, regiert. De la Rua gehört der sozialdemokratischen „Radikalen Union“ an, die bereits in den 80er Jahren mit Raul Alfonsin den Präsidenten stellte. Kleinerer Partner der Allianz ist das linke Sammelbecken „Solidarische Front“ (Frepaso), die mit Carlos Alvarez den Vizepräsidenten stellen wird.
Der triumphale Wahlsieg der Opposition wird allerdings von dem peronistischen Sieg bei der Gouverneurswahl in der Provinz Buenos Aires, in der über ein Drittel der Wahlberechtigten leben, geschmälert. Alianza-Kandidatin Graciela Fernandez Meijide, die bereits gegen De la Rua in der internen Vorwahl für die Präsidentschaftskandidatur unterlag, mußte dem Peronisten Carlos Ruckauf den Vortritt lassen. Somit werden erstmals in der argentinischen Geschichte das Land und die wichtigste Provinz von verschiedenen Parteien regiert. Dies wird, da sind sich die Beobachter einig, den neuen Präsidenten zwingen, in allen wichtigen Fragen den Konsens zu suchen.
Trotz dieses Wermutstropfens ist der Sieg der Opposition ein Meilenstein in der Geschichte am Rio de la Plata. Nicht nur Duhalde, auch Amtsinhaber Carlos Menem, dem eine dritte Kandidatur gerichtlich verweigert wurde, zählen zu den Verlierern. Offenbar hatten die Argentinier genug von seinem populistischen Regierungsstil, dem frivolen Auftreten und dem lässigen Umgang mit Gesetzen und Anstand. Korruption und Großmannssucht wurden zum Synonym seiner Regierungszeit. Insofern war der Urnengang vor allem eine Personenwahl: Der 62-jährige Rechtsanwalt De la Rua hat nichts mit dem Amtsvorgänger gemein. Sein Auftreten ist leise und seriös, geradezu schüchtern ließ er die bissigen Fragen in Wahlsendungen und Talkshows über sich ergehen. Die Bescheidenheit des bisherigen Bürgermeisters der Hauptstadt ist überzeugend und entspricht dem Wunsch des Landes, die Zeit der Skandale hinter sich zu lassen.
Politisch hingegen ist kaum eine Änderung zu erwarten. Alianza wie Peronisten vertreten die Fortsetzung der liberalen Wirtschaftspolitik, die dem Land zwar eine harte Währung, aber auch Rekordarbeitslosigkeit und eine zunehmende Verarmung der Bevölkerung bescherte. Die Hoffnung der Linken auf mehr Sozialstaat wird sich kaum erfüllen, zumal der Diskurs des Wahlsiegers dem einer modernen Sozialdemokratie in der Art des Briten Tony Blair entspricht. Höchstens die Opfer der Diktatur, die die amnestierten Generäle vor Gericht bringen wollen, können von der Alianza mehr Unterstützung als von Menem erwarten, der sich stets für einen Schlussstrich unter die Vergangenheit aussprach.
Die Auswirkungen dieses Wahltages gehen weit über die Person des zukünftigen Staatschefs hinaus. Die Alianza konnte ihre starke Position im Parlament ausbauen und drei der sechs Gouverneurswahlen für sich entscheiden. Die Peronisten, die weiterhin die Mehrheit der Bundesstaaten kontrollieren, dominieren nach wie vor den Senat. Parteiintern bedeutet der Sieg De la Ruas und die Niederlage von Meijide in Buenos Aires, dass die „Solidarische Front“ innerhalb des Bündnisses an Einfluss verliert.
Bei den Peronisten steht der Kandidat und Ex-Gouverneur Eduardo Duhalde nun ohne Amt im politischen Abseits. Sein persönlicher Feind Carlos Menem hingegen erklärte bereits am Wahlabend, im Jahr 2003 erneut das höchste Staatsamt anstreben zu wollen. Doch dazu wird er sich erst einmal gegen die erfolgreichen Provinzfürsten durchsetzen müssen: Carlos Ruckauf in der Provinz Buenos Aires und Jose De la Sota in Cordoba werden darauf pochen, dass sie noch Wahlen gewinnen können, während die Peronisten auf Bundesebene überall verloren und das schlechteste Ergebnis ihrer Geschichte einfuhren.
PORTRAIT
Fernando de la Rua – Bescheidenheit und leise Töne setzen der Menem-Ära ein Ende
Von Roberto Roa
(Berlin/Buenos Aires, 25. Oktober 1999, npl).- „Man sagt, ich sei langweilig“, gab Fernando de la Rua freimütig zu. Der Ausspruch wurde zu seinem Markenzeichen im argentinischen Wahlkampf, doch tat er seiner Popularität keinen Abbruch. Im Gegenteil: Das Image des seriösen, moderaten Politikers machte ihn zum idealen Widerpart des amtierenden Präsidenten Carlos Menem, dem Inbegriff eines frivolen, skandalfreudigen Regenten. Der flotten Sprüche müde, wählten die Argentinier am Sonntag den unscheinbaren Herausforderer mit fast 50 Prozent zu Ihrem neuen Präsidenten.
Mit Fernando De la Rua übernimmt die Sozialdemokratie die Macht in dem zweitgrößten Land Südamerikas. Als Kandidat der „Allianz“ seiner „Radikalen Partei“ (UCR) und dem linken Bündnis „Frepaso“ wird er am 10. Dezember den Peronisten Carlos Menem ablösen, dessen Partei die schwerste Niederlage ihrer Geschichte einstecken musste. Schon in der internen Vorwahl konnte sich der 62- jährige gegen die Frepaso-Kandidatin, die bekannte Menschenrechtsaktivistin Graciela Meijide, durchsetzen.
In seinen politischen Aussagen ist der Rechtsanwalt allerdings ähnlich konturlos wie bei seinen Auftritten im Fernsehen, die jegliches – in Lateinamerika so beliebtes – Charisma vermissen lassen: Fortsetzung der liberalen Wirtschaftspolitik, Kampf gegen Arbeitslosigkeit und Armut, Wohlstand für alle. Von konkreten Konzepten, die den proklamierten Wandel umsetzen könnten, existieren nur Andeutungen. Sein politisches Kapital ist das Image des Saubermanns, der verspricht, die Korruption und Vetternswirtschaft der konservativen Peronisten zu beenden.
Bisher ließ sich De la Rua von der Macht nicht korrumpieren. Erfolgreich regierte er seit 1996 als Bürgermeister die Hauptstadt Buenos Aires. „Das Fest ist vorbei,“ sagte er zum Ende des Wahlkampfes und meinte damit, dass jetzt auch endlich in die Staatsgeschäfte Ordnung einziehen werde. Seit den 60er Jahren ist der Sozialdemokrat in seiner Partei aktiv und gelangte mit kontinuirlicher Arbeit nun an deren Spitze.
Das gemächliche Temperament des zukünftigen Staatschefs ist Balsam für die Argentinier. Sie sind eines Präsidenten überdrüssig, der schnelle Autos liebt, Flugzeuge steuert und am liebsten in Modezeitschriften abgebildet wird. Fernando De la Rua hingegen ist streng gläubig, tritt immergleich im dunklen Anzug mit Krawatte auf und gibt sich bescheiden. Sogar das Golfspielen gab er nach 30 Jahren auf, um den Kontrast zu seinem Vorgänger zu unterstreichen, der sich eigens einen Golfplatz bauen ließ.
„Ich liebe die Natur und die Ruhe,“ sagt De la Rua über sich selbst. Folgerichtig sammelt er in seiner Freizeit Vögel und zieht Bonsais groß . Um den Medien zu entgehen, verbringt der Vater von drei Kindern viel Zeit mit seiner Familie in seinem Landhaus fernab der Metropole.
Seine Mutter sagte immer: Fernando, du bist ein guter Junge, aber dein Bruder ist intelligenter.“ Nicht einmal dieser Auspsruch konnte die stolzen Argentinier davon abhalten, für den Herausforderer zu stimmen. Umsonst lästerten die Peronisten, De la Rua werde Land und Leute langweilen. Gern nahm er die Zuschreibungen an und wußte, dass sie ihm eher helfen als schaden werden. Nach zehn Jahren Luxus und Protzerei im Präsidentenpalast wußte der praktizierende Katholik, dass heute nur mehr ein ernstes Auftreten gefragt ist, das Hoffnung auf eine stabile und international anerkannte Entwicklung des Landes weckt. So ist Fernando de la Rua in gewissem Sinn das „ungewollte Kind“ der Menem-Ära, die sich mit ihren Eskapaden selbst überlebt hat.
CHILE
Rechtschreibreform bei den Mapuche-Indianern
(Santiago de Chile, 20. Oktober 1999, sepch-Poonal).- Nach jahrzehntelanger Diskussion haben sich Wissenschaftler und Ureinwohner-Organisationen jetzt auf ein einheitliches Alphabet des Mapudungun geeinigt. Damit wird die Schreibweise dieser im Süden Chiles und Argentiniens beheimateten Sprache vereinheitlicht. Sie wurde ursprünglich nur mündlich tradiert und wird noch von rund 200.000 der eine Million Mapuches gesprochen. Das neue Alphabet, das 6 Vokale und 22 Konsonanten kennt, erleichtert den Druck von Schulbüchern für den Unterricht und die Verbreitung von Literatur. Die Gemeinde mit der höchsten Zahl an Mapuches liegt nicht im Stammland der Ureinwohner, sondern im reichen Nordosten der Hauptstadt Santiago. Dort wohnen und arbeiten zahlreiche Mapuchefrauen als Vollzeit-Hausangestellte. Die nach Santiago und andere großen Städten zugewanderten Indígenas verlieren in der Regel bereits nach einer Generation die eigene Sprache.
PERU
Folter tägliche Praxis
(Lima, 22. Oktober 1999, comcosur-Poonal).- Menschenrechtsorganisationen zufolge haben peruanische Militärs im vergangenen Jahrzehnt Tausende von angeblichen Guerilleros gefoltert. Aus einer nun vorgestellten Studie geht hervor, dass die Misshandlungen von sexueller Vergewaltigung bis zur Anwendung von Elektroschocks reichen. Die bis 1988 zurückreichende Untersuchung erfasst 4.600 Fälle. „Folter ist üblich in Peru,“ so die Leiterin der Menschenrechtsorganisationen, Sofia Macher bei der Vorstellung der Studie. „Und hier ist wahrscheinlich nur die Spitze des Eisbergs zu sehen,“ fügte sie hinzu.
Peruanische Staatsbürger, die wegen gewöhnlicher Vergehen verhaftet werden, unter ihnen mutmaßliche Mitglieder von Straßenbanden und Diebe, sind ebenfalls Opfer von Übergriffen. Hier reicht die Bandbreite von Zusammenschlagen bis zu sexueller Vergewaltigung einschließlich Jugendlicher beiderlei Geschlechts. Unter den vorgestellten Fällen ist die Vergewaltigung einer schwangeren 15- jährigen Frau durch einen Polizisten erwähnt. Das Mädchen wurde dabei mit dem AIDS-Virus infiziert.
Neuer Scheidungsgrund erlaubt einseitige Auflösung der Ehe
(Lima, 22. Oktober 1999, pulsar-Poonal).- Die Justizkommission des peruanischen Kongresses hat einen Gesetzesvorschlag angenommen, dem zufolge eine mehr als dreijährige Trennung künftig als alleiniger Scheidungsgrund ausreichend ist. Damit kann in Zukunft die sogenannte einseitige Scheidung durchgeführt werden, da der Wille einer der beiden Parteien genügt, um die Ehe aufzulösen.
In der dem Gesetzesvorschlag vorausgegangen Debatte hatte sich die römisch- katholische Kirche vehement gegen das Gesetz ausgesprochen. Die Gruppe zur Förderung der einseitigen Scheidung hingegen hatte aktiv politischen Druck für die Annahme des Gesetzes ausgeübt. Wenn die Kongressmehrheit zustimmt und das Gesetz in Kraft tritt, wird in Zukunft auch der Partner geschützt, der die Scheidung nicht eingereicht hat. Darauf hatten die Mitglieder der Frauenkommission des Kongresses gedrängt, damit Frauen und Kinder nicht schutzlos dastünden.
ECUADOR
Umschuldung scheint möglich
(Quito, 23. Oktober 1999, pulsar-Poonal).- „Wir sind glücklich mit den Fortschritten, die wir bei den Umschuldungsverhandlungen errungen haben,“ sagt der ecuadorianische Präsident Jamil Mahuad. „Bis heute hat es keine rechtlichen Schritte gegen uns gegeben. Allerdings kann es immer noch dazu kommen, obwohl die große Mehrheit der Schuldner den Vergleich mit unserem Land sucht.“ Der Plan, die in Brady-Bonds berechneten Auslandschulden neu zu verhandeln, komme voran, informierte der Präsident. Ecuador kämpfe um einen kräftigen Erlass.
Das Land hat sein partielles Moratorium inzwischen auf Eurobonds, Teile der Binnenschuld, die Verpflichtungen gegenüber dem Pariser Club und die Brady-Bonds ausgedehnt. Am Freitag (22.10.) hätte die ecuadorianische Regierung 27 Millionen US-Dollar Zinsen zahlen müssen, um den Schuldendienst der 1997 auf 500 Millionen Dollar emitierten Eurobonds zu leisten. Am 28. November müsste sie weitere 33 Millionen zahlen, um die Zinsen für die Schulden in Brady-Bonds zu leisten. Diese Zahlungen sind nun suspendiert worden.
„Ecuador kann die Schulden zur Zeit nicht bezahlen,“ erläuterte Präsident Mahuad in einer Radiosendung am Samstag. „Das ist kein Problem des Wollens, sondern des Könnens.“ Kommende Woche werde eine Verhandlungsgruppe nach New York reisen, um mit den Haltern der Brady-Bonds einen Vergleich auszuhandeln. Eurobonds und Brady-Bonds sind im Privatbesitz befindliche Papiere der ecuadorianischen Auslandsschulden. Ecuadors Auslandschulden belaufen sich insgesamt auf 16 Milliarden Dollar. Allein die Zinszahlungen stellten in den vergangenen zwei Jahren 42 Prozent des Staatshaushalts dar.
KOLUMBIEN
Frieden am Horizont?
Von Laura Barros
(Bogota, 28. Oktober 1999, npl).- Alles deutete auf eine Eskalation des ältesten bewaffneten Konfliktes in Lateinamerika hin. Kolumbianische Armee, Paramilitärs und Guerillaorganisationen lieferten sich die heftigsten Gefechte seit Jahren. Die gesamte Region befürchtete eine militärische Intervention der USA. Doch seit ein paar Tagen scheint der Frieden etwas näher zu rücken. Nach ersten Vorgesprächen zwischen kolumbianischer Regierung und ELN-Guerilla auf Kuba in der vergangenen Woche und der feierlichen Wiederaufnahme offizieller Friedensverhandlungen mit den FARC, größter Rebellen-Organisation des Andenstaates, am Sonntag (24.10.), ist der 2. November als nächster Verhandlungstermin bereits festgelegt.
Kurz nach dem Treffen zwischen ELN und kolumbianischer Regierung in Kuba kündigte Präsident Andres Pastrana überraschend an, offizielle Friedensverhandlungen mit der guevaristischen Guerilla könnten noch dieses Jahr beginnen. Bedingung seitens der Regierung an die ELN ist die Freilassung von 58 Menschen, die der ELN an die Regierung die Schaffung einer entmilitarisierten Zone für den Dialog.
Auch der „Plan Kolumbien“, ein Vorschlag Pastranas zur politischen Lösung des seit 35 Jahren andauernden bewaffneten Konflikts, wurde in den vergangenen Tagen wieder zum Leben erweckt. Daß die Ankündigung seitens der Regierung und FARC- Sprechern, die Verhandlungen nach drei Monaten Stillstand wieder aufzunehmen, tatsächlich umgesetzt wurde, ist vor allem der wachsenden Unterstützung der kolumbianischen Bevölkerung zu verdanken, die sich entschied, aktiv Druck auf die Verhandlungsseiten für eine effektive Fortsetzung des Friedensprozesses auszuüben.
12 Millionen Kolumbianer, ein Drittel der Gesamtbevölkerung, gingen am Sonntag (24.10.) auf die Straße. Unter der Parole „Nunca Mas“ (Nie wieder) demonstrierten sie landesweit für einen entgültigen Waffenstillstand und die Beendigung bewaffneter Aktionen gegen die Zivilbevölkerung. Die Demonstrationen seien ein „beeindruckende Erfolg für den Frieden“, erklärte Francisco Santos, Organisator der ersten Massenmobilisierung dieser Dimension in der Geschichte des kolumbianischen Bürgerkrieges, der allein in den letzten 10 Jahren 35.000 Tote kostete.
„Wir werden uns nicht vom Verhandlungstisch erheben, bis wir einen Friedensvertrag unterschrieben haben und sehen einem baldigen Waffenstillstand entgegen“, versicherte Victor Ricardo, Friedensbeauftragter der Regierung, anläßlich der Eröffnung der Verhandlungen in Uribe, einem Ort in dem 42.000 Quadratkilometer großen Gebiet im Süden des Landes, das vergangenen November eigens für den Dialog mit der Guerilla von der Regierung entmilitarisiert worden war, seitdem jedoch für permanenten Zwist unter den Verhandlungspartnern gesorgt hatte. Die Rebellen weigerten sich, einer internationalen Beobachterkommission unter Beteiligung der USA in dem von ihnen kontrollierten Gebiet zuzustimmen, eine Forderung auf die die Regierung seit Juli instistierte. Inzwischen hat die Regierung ihre Position, angesichts der Drohung der FARC, die Verhandlungen entgültig abzubrechen, geändert.
Weiterer Streitpunkt war die Entsendung eines Spezial-Batallons von 1.400 Soldaten und 18 Hubschraubern aus den USA nach Kolumbien im September. Die FARC vermuten, daß diese us-amerikanische Einheit Teil eines Interventionsplans der USA seien, für den Fall, daß die Friedensgespräche scheitern sollten. Trotz aller Kritik an der Kolumbien-Politik der USA, bewilligte der us-Kongress Präsident Pastrana 1,5 Milliarden Dollar für die nächsten drei Jahre, um den „Plan Kolumbien“ zu finanzieren. Der 12-Punkte Plan beinhaltet zwar Vorschläge für den Antidrogenkampf, die soziale Entwicklung, Reformen im Wirtschafts- und Justizsektor und die Einhaltung der Menschenrechte. Der größte Anteil der Mittel ist jedoch für eine Modernisierung der kolumbiansichen Armee gedacht.
Während die kolumbianische Öffentlichkeit euphorisch die Möglichkeit eines baldigen Waffenstillstandes diskutiert, äußern sich Journalisten sowie Politologen zurückhaltender. Sie prognostizieren, daß die Verhandlungen in jedem Fall Jahre dauern werden. Die FARC-Führung ihrerseits ist nur dann zu einem Waffenstillstnad bereit, wenn mindestens 80 Prozent ihrer eigenen Vorschläge umgesetzt werden. Dazu gehört vor allem die Forderung an die Regierung nach der effektiven Bekämpfung des Paramilitarismus. Und genau diese Frage könnte den Dialog wieder zum Erliegen bringen. Raul Reyes, Verhandlungsführer der FARC, kündigte zur Eröffnung der Gespräche an, seine Organisation werde den Verhandlungstisch wieder verlassen, „wenn die Regierung nicht ernsthaft gegen die paramilitärischen Verbände kämpft, die Söhne des Establishments“ seien und von „diesem unterstützt und finanziert werden“.
Noch gibt es keine Antwort Pastranas auf die Forderung von „Reyes“, die im Januar für den einseitigen Abbruch des Dialogs geführt hatte. Die Regierung versprach zwar schon mehrmals, die rechtsgerichteten „Vereinigten Selbstverteidigungseinheiten Kolumbiens“ (AUC) zu bekämpfen, dementiert aber auch immer wieder jede Verbindung zu den rechtsgerichteten Todesschwadronen.
Die FARC haben ihre Bedingungen für kontinuierliche Friedensgespräche genannt. Trotzdem bleibt ein großes Fragezeichen: Riskiert die älteste marxistische Befreiungsbewegung Lateinamerikas sich vom Verhandlungstisch zu erheben, während Millionen Menschen das Ende des bewaffneten Konfliktes fordern, der in fast jeder kolumbianischen Familie ein Opfer forderte?
Regierung und ELN trafen sich zu Gesprächen auf Kuba
(Bogota, 22. Oktober 1999, pulsar-Poonal).- Vertreter der kolumbianischen Regierung und der Armee zur Nationalen Befreiung (ELN) haben am Dienstag und Mittwoch Annäherungsgespräche auf Kuba geführt. Damit solle der Weg für Friedensverhandlungen geebnet werden, teilte am Donnerstag der kolumbianische Außenminister Guillermo Fernández de Soto mit. Die formelle Aufnahme der Gespräche mit der ELN sei ein Erfolg, sagte Fernandez de Soto. An dem Treffen auf der Karibikinsel hätten der Abgeordnete Juan Gabriel Uribe, der kolumbianische Botschafter Julio Londoño sowie mehrere ELN-Vertreter teilgenommen. Letztere identifizierte Fernandez de Soto jedoch nicht. Die kubanische Regierung habe die Gespräche gefördert, aber nicht selbst daran teilgenommen.
Präsident Pastrana hatte bisher festgelegt, die Gespräche mit der ELN könnten erst nach der Freilassung von 50 Zivilpersonen erfolgen, die die Guerrilla als Geiseln hält. Außerdem müsse sich die ELN verpflichten, keine weiteren Angriffe auf die Öl-Infrastruktur mehr durchzuführen. Die ELN besteht jedoch darauf, die Geiseln als Druckmittel zu behalten, um von der Regierung genauso behandelt zu werden, wie die Bewaffneten Revolutionären Kräfte Kolumbiens FARC. Mit 6.000 Mann unter Waffen ist die ELN nach den FARC die zweitstärkste Guerillagruppe in Kolumbien. Sie verlangt von der Regierung eine entmilitarisierte Zone im Norden des Landes, um dort eine Nationalversammlung mit der Zivigesellschaft des Landes abzuhalten.
BOLIVIEN
Ratsmitglieder auf Diät
(La Paz, 21. Oktober 1999, pulsar-Poonal).- Nach dem neuen Gesetz für Gemeinderäte werden die Ratsmitglieder künftig nicht mehr für jede Sitzung Diäten erhalten. Senatorin Erica Brockman teilte mit, die Ratsmitglieder erhielten künftig eine festgelegte Entschädigung, die ihre Funktion und die ökonomischen Möglichkeiten der Gemeinde berücksichtige. Ab jetzt seien den Ausgaben der Gemeinden damit Grenzen gesetzt. Die Höhe der Entschädigungen für die Gemeinderäte müsse künftig veröffentlicht werden. Das Gesetz beendet damit die Bereicherung der Gemeinderäte, die in der Vergangenheit häufig unnötige Sitzungen anberaumt hatten, um mehr Geld zu kassieren.
VENEZUELA
Neue Verfassung erkennt indigene Sprachen an
(Marcacaibo, 20. Oktober 1999, pulsar-Poonal).- Am 19. Oktober hat die definitive Runde zur Formulierung der neuen venezolanischen Verfassung begonnen, die danach per Volksentscheid beschlossen werden soll. Einer der umstrittensten Artikel war die Nummer Acht, in dem die Amtssprache festgelegt wird. Eine Mehrheit war der Meinung, Spanisch solle die offizielle Sprache sein, doch eine vom Jiwi-Vertreter Guillermo Guevara in seiner Sprache gehaltene Rede erhielt viel Applaus. Die Formulierung wird nun lauten: Kastilisch ist offizielle Sprache, aber die indigenen Sprachen sind für die indigenen Völker Amtssprache und werden im gesamten Staatsgebiet respektiert, da sie sowohl ein nationales Erbe als auch eines der Menschheit darstellen. In den kommenden Tagen werden die regionale Aufteilung Venezuelas und die demokratische Verankerung der venezolanischen Regierung diskutiert. Nach Meinung einiger Mitglieder der verfassungsgebenden Versammlung ist die neue Konstitution noch zu umfangreich und reguliert zu viele Bereiche.
KOLUMNE – „Lula“ da Silva über Hugo Chávez
Der brasilianische Oppositionsführer über das „schlechte Beispiel“ in Venezuela
(Brasilia, 20. Oktober 1999, alai-Poonal).- Im Jahr 1992, als der Oberst Hugo Chávez eine Revolte gegen die Regierung von Carlos Andrés Pérez anführte, verurteilten meine Partei (die brasilianische Arbeiterpartei PT; die Red.) diese Bewegung. Uns war jedoch klar, dass Chávez nicht zu jener Sorte Gorilla-Militärs gehörte, die Lateinamerika in den sechziger und siebziger Jahren verseuchten.
Er versuchte auf falschem Weg, die Wünsche der Bevölkerung zu interpretieren. Die ihm von der Gesellschaft entgegen gebrachte Sympathie zeigte, wie schwer die venezolanische Krise war und wie wenig sensibel die Eliten waren, sich ihr entgegen zu stellen.
Das politische System Venezuelas, seit Jahrzehnten als ein demokratisches Modell für Lateinamerika präsentiert, befand sich im Niedergang. Das Land geriet in eine tiefe wirtschaftliche Krise mit dramatischen sozialen Konsequenzen. Ich erinnere mich daran, dass ich mich 1989 vor den brasilianischen Wahlen in Rom befand, als ich die Nachricht vom „Caracazo“ hörte, dem Volksaufstand gegen die vom Internationalen Währungsfonds Carlos Andrés (Pérez) vorgeschriebenen Preise.
Bei den Auseinandersetzungen starben etwa Tausend Menschen. Die Krise des venezolanischen politischen Systems ging weiter. Später votierte der Kongress für den politischen Prozess gegen Pérez. Sein Nachfolger Rafael Caldera, ein ehrenhafter Mann, mit dem ich das Vergnügen hatte, 1994 zu sprechen, trennte sich von seiner Christdemokratischen Partei, um zum Präsidenten gewählt zu werden. Es gelang ihm aber nicht, Venezuela aus dem tiefen Loch zu holen, in das es gefallen war.
Diese Vorgeschichten erklären den außerordentlichen Sieg von Hugo Chávez bei den Wahlen vom vergangenen Dezember mit fast 60 Prozent der Stimmen. Chávez betrog seine Wähler*innen nicht. Er äußerte während des Wahlkampfes die Überzeugung, dass die nationalen Institutionen degeneriert seien und es notwendig sei, die Republik neu zu gründen. Er gab seinen Vorschlag bekannt, zu einer Verfassungsversammlung mit vollständigen Befugnissen aufzurufen. Er trat für einen demokratischen Bruch ein, fähig, dem Land moderne und solide Institutionen zu geben, um die großen sozialen Herausforderungen anzugehen. Er organisierte eine Volksabstimmung über diesen Vorschlag und gewann. Seine Anhänger gewannen in den anschließenden Wahlen. Das Ausmaß dieses Sieges war so groß, dass der Kongress sich eine Sitzungspause für die Zeit verordnete, in der die Verfassungsversammlung beratschlagen würde.
Das sind die Tatsachen. Es ist möglich, dass ein Teil der brasilianischen Linken in seiner Geschichte Putschgelüste verspürt hat. Weder ich noch die PT sind Erben dieser Tradition. In unserer fast 20-jährigen politischen Geschichte haben wir ständig unsere Verpflichtung gegenüber der Demokratie, den Respekt vor den Menschenrechten und dem Rechtsstaat wiederholt. Der Staatsstreich „als Versuchung und als Praxis“ war in Brasilien immer das Vorrecht der Eliten.
Wenn ich über die Nervosität nachdenke, die der Präsident Chávez bei Teilen der brasilianischen Politiker und bei einigen Meinungsführern hervorgerufen hat, frage ich mich, ob dieses Gefühl nicht mit dem „schlechten Beispiel“ zu tun hat, das die aktuelle Situation Venezuelas unserem Land gibt. Die politische Entwicklung Brasiliens ist nicht durch Brüche gekennzeichnet. Im Gegenteil: Wir wachsen wirtschaftlich wie wenige andere Länder in der Welt und konzentrieren Einkommen wie kein anderes, ohne Revolutionen noch strukturelle Reformen. Unsere Elite hasst die Brüche. Sie ist nicht bereit, auch nur „die Ringe zu verlieren, um nicht die ganzen Finger zu verlieren“. Sie will die Finger und die Ringe.
Der Oberst Chávez ist ein schlechtes Beispiel. Er verteidigt einige „Antiquitäten“ wie die nationale Eigenständigkeit, das Wohlergehen der Bevölkerung, die wirksame Bekämpfung der Korruption. Er schlägt neue Beziehungen zwischen Markt und Staat vor. Er will demokratische Brüche. Ich kann nicht feststellen, dass er (wie in Brasilien; die Red.) Abgeordnete gekauft hat, damit sie für einen Artikel stimmen, der seine Wiederwahl erlaubt. Ich kann nicht feststellen, dass er durch provisorische Maßnahmen regiert oder zu regieren versucht oder das er billig (für die Käufer) und mit öffentlichen Krediten das staatliche Vermögen preisgibt.
Bei den zwei Treffen, die ich mit Chávez hatte, habe ich von ihm ohne mein Verlangen klare Bekenntnisse zum demokratischen Rechtsstaat gehört. Ich unterstütze diese Bereitschaft und widersetze mich all jenen, die ihn in die gegenteilige Richtung drängen wollen, um danach sagen zu können „ich hatte Recht“. Ich habe beim venezolanischen Präsidenten den politischen Willen gespürt, für die Mehrheit seines Volkes zu regieren. Und obwohl dieses Adjektiv einige überraschen oder ihnen missfallen mag, halte ich diese Absicht für „phantastisch“.
LATEINAMERIKA -Die Mythen des Tourismus, VII
„Informierte Konsument*innen“ in Mittelamerika
Von Paul Jeffrey
(La Ceiba, 13. September 1999, na-Poonal).- Bevor sie ihr Zimmer im Parthenon Beach Hotel im honduranischen Städtchen La Ceiba verlassen, werfen die beiden Männer aus Illinois schnell noch einmal einen Blick auf die Informationen, die sie sich gerade aus dem Internet heruntergeladen haben. Dann gehen sie zwei Straßenecken Richtung Osten zu dem Nachtclub, der Nackttänzerinnen im Angebot hat. „Wir sind informierte Verbraucher“, sagt der eine von ihnen. Über das Internet weiß er schon, mit welcher der Frauen er welche sexuellen Kontakte haben kann und wieviel das kostet.
Von Thailand bis Kuba leidet die Sextourismus-Industrie unter dem internationalen Druck. Die Regierungen vor Ort haben meist die Schrauben angezogen, vor allem, wenn es um den Schutz Minderjähriger geht. In Mittelamerika zieht die wachsende politische Stabilität immer mehr Ausländer an. Meist wollen diese tropische Wälder, schöne Strände und Mayaruinen sehen. Manche kommen aber auch nur, um billigen Sex zu haben. Vor allem in Costa Rica und Honduras haben Armut und eine nachlässige Justiz einen fruchtbaren Nährboden für die Umsetzung der schmutzigen Ausländerphantasien zu günstigen Preisen geschaffen. Mittelamerika ist zum Mekka der Sextouristen geworden.
In Costa Rica stellt der Tourismus die wichtigste Deviseneinnahmequelle dar. Der Leiter der örtlichen Kriminalpolizei schätzt den Anteil der Sextouristen auf ein halbes Prozent. Das wären von der einen Million Besucher jährlich immerhin 5.000 Personen. Der Sextourismus ist im Wesentlichen legal. In Costa Rica können sich Menschen über 18 Jahren prostituieren. Doch das Geschäft schließt auch Sex mit Kindern und Frauenhandel mit ein. Die Aktivisten auf dem Gebiet fördern von den Regierungen härtere Maßnahmen, aber es ist ein zäher Kampf. „Die Behörden scheinen mehr am guten Ruf ihrer Länder und am Tourismus interessiert zu sein, als öffentlich anerkennen zu wollen, dass diese für pädophile Erstweltler immer interessanter werden,“ sagt Bruce Harris. Er ist regionaler Leiter der Kinderschutzorganisation Casa Alianza. Doch die Lage ändert sich. „Wir sind glücklich, dass immer mehr Menschen sich trauen, nun endlich zur Anzeige zu bringen, was bislang nur hinter vorgehaltener Hand weiter gegeben wurde,“ fügt er hinzu.
In den vergangenen zwei Jahren haben die Regierungen begonnen, energischer durchzugreifen. Daniel Rounds, ein Lehrer aus Pennsylvania, USA, sitzt zur Zeit eine zehnjährige Haftstarfe in Honduras ab. Er wurde für schuldig befunden, zwei zwölfjährige Straßenkinder sexuell missbraucht zu haben. In einem Tagebuch hatte Rounds seine sexuellen Erlebnisse in Mexiko, der Dominikanischen Republik, Honduras, Brasilien und Costa Rica minutiös niedergelegt. Das jüngste von ihm missbrauchte Kinder war danach sieben Jahre alt. Im Januar wurden in Costa Rica zwei US-Bürger festgenommen. Der Arzt Arthur Kanev aus Boston und der Hundetrainer Joe Baker aus Oklahoma hatten Zeugenaussagen zufolge mehreren Straßenkindern wiederholt 40 US-Dollar angeboten, wenn sie an „Feiern“ mit Ausländern im Strandhaus von Kanev teilnähmen. Dort wurden die Kinder dann unter Drogen gesetzt, vergewaltigt und fotografiert.
Die Strafverfolger in Mittelamerika finden zunehmend auch Unterstützung im Ausland. Im März wurde mit dem Mathematiklehrer Marvin Hersh erstmals jemand nach dem US-Gesetz von 1996 verurteilt, das Sex mit Minderjährigen auf Reisen ins Ausland unter Strafe stellt. Hersh wurde wegen zehn Vergehen an honduranischen Kindern verurteilt. Einmal versuchte er, mit einem 15-jährigen Jungen in die USA einzureisen, indem er ihn als seinen Sohn ausgab.
Trotz aller Fortschritte bleibt die weitgehende Straffreiheit ein großes Problem. Nachdem Kanev und Baker gegen die Zahlung einer Kaution auf freien Fuß gesetzt wurden, berichteten Nachbarn, dass die beiden weiterhin ihren Aktivitäten nachgehen. Dies führte letztlich zu einem neuen Gesetz. Im Juni beschloss das costaricanische Parlament ein härteres Vorgehen gegen die sexuelle Ausbeutung Minderjähriger. „Mit diesem Gesetz sagen wir den Ausländern, die hierher kommen, um unsere Kinder zu missbrauchen, dass sie das Gefängnis erwartet,“ erklärte Präsident Miguel Ángel Rodríguez bei der Vorlage im Abgeordnetenhaus.
Nicht nur die Sexarbeiter*innen selbst profitieren vom Sextourismus. Ein ganzes Netz von Taxifahrern, Hotelangestellten und Polizisten verdient mit. Gerade arme Familien erliegen öfter der Versuchung gestellt, ihre Töchter als „Reisebegleiterinnen“ zu verdingen. Diesen Ausdruck benutzte der Costaricaner Ervin Castillo, der mit seiner us-amerikanischen Frau 1997 festgenommen wurde, weil er Ausländern 14-jährige Mädchen angeboten hatte. Sexhändler wie Castillo, der seine Angebote auf zwei Webseiten im Internet feilbot, profitieren vom technologischen Vorsprung vor dem Gesetz. Als die mit Sexualdelikten befasste Abteilung der costaricanischen Staatsanwaltschaft den Pädophilen den Kampf ansagte, hatte sie noch keinen Computer mit Internet-Zugang zur Verfügung.
Mittelamerika „wird zur Zeit von intelligenten sexuellen Ausbeutern heimgesucht, die besser mit dem Internet umgehen können, um ihre schäbigen Ziele zu erreichen, als die Polizei der betroffenen Länder,“ erläutert Harris. Die Sextouristen müssen sich auch nicht mehr in dunklen Straßen herumtreiben oder Taxifahrer fragen. Ganz gemütlich können sie zu Hause die Webseiten aufrufen, auf denen sie detailliert erfahren, welche Sexualpartner sie im Ausland finden, wo sie absteigen können und wieviel sie zahlen müssen. Nachtclubs, Massagesalons und Begleitagenturen haben ihre eigenen Webseiten. Auch zurückkehrende Reisende veröffentlichen ihre Erfahrungen, in denen sie ihre Kollegen nicht nur über Neuigkeiten informieren, sondern auch vor schärferen Maßnahmen warnen, wie sie zum Beispiel seit Jahresanfang in Kuba gelten. Die „informierten Verbraucher“ sollen schließlich keine Probleme erleiden.
Doch auch die Aktivisten nutzen das Internet. Webseiten mit Informationen über Missbrauch sind inzwischen gang und gebe. Auch dem Verbund der Strafverfolgungsbehörden in der Region wird geholfen, Misshandler zu identifizieren und gefangen zu nehmen. „Das Internet ist ein wundervolles Informationsmedium und wir, die wir das Leben und die Rechte von Kindern schützen, müssen es einfach nutzen,“ sagt Ana Salvado von Casa Alianza.
Poonal Nr. 406 von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
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