Deutsche Ausgabe des wöchentlichen Pressedienstes lateinamerikanischer Agenturen Nr. 403 vom 8. Oktober 1999
Inhalt
CHILE
MEXIKO
MITTELAMERIKA
GUATEMALA
DOMINIKANISCHE REPUBLIK
KUBA
URUGUAY
ARGENTINIEN
KOLUMBIEN
PERU
LATEINAMERIKA – Die Mythen des Tourismus, IV
CHILE
Auslieferung Pinochets nach Spanien ist rechtens
Von Leonel Yanez
(Santiago de Chile, 8. Oktober 1999, npl).- Ex-Diktator Augusto Pinochet hat in London erneut eine juristische Niederlage einstecken müssen. Gestern Mittag entschied ein britisches Magistratsgericht, dass dem Auslieferungsersuchen des spanischen Untersuchungsrichters Baltazar Garzon entsprochen werde. Die Begründung: Der chilenische General im Ruhestand müsse sich dem Vorwurf der Folterung in 35 Fällen stellen, die nach 1988 begangen wurden. Da es sich dabei um ein universelles Verbrechen handele, könne dies auch international verfolgt werden.
Kurz vor 6 Uhr 30 Ortszeit sahen die Chilenen in Fernseher, wie sehr ihr Land auch heute noch gespalten ist. Jubel und Freudenschreie brach bei den Angehörigen der Diktaturopfer aus, als der Richterspruch bekannt gegeben wurde. Erste Reaktionen drückten Genugtuung über die Anerkennung des erfahrenen Leids aus und die Hoffnung, dass das Verschwindenlassen von Menschen nicht ungesühnt bleibt. Betroffene, teils fassungslose Gesichter zeigten die Pinochet-Treuen, die nicht begreifen können, dass ihr Idol im Ausland derart ungerecht behandelt wird. „Jetzt wird es eng für Pinochet,“ fasste Jorge Prado, einst Minister unter der Diktatur, die Stimmung zusammen. Das Urteil sei ein wiederholter Schlag gegen die nationale Souveränität, die Regierung müsse jetzt alles erdenkliche tun, diese Schande zu bereinigen.
Pinochets Anwälte bleiben zwei Wochen, um gegen den Richterspruch beim Obersten Gerichtshof Berufung einzulegen. Letzte Instanz wäre danach das Lordgericht, das bereits im Frühjahr entschieden hatte, dass Pinochet in Großbritannien keine Immunität genießt. Ein Verzicht auf den mehrmonatigen Instanzenweg würde bedeuten, dass der britische Innenminister Jack Straw am Zug wäre. Innerhalb derselben Frist kann er die Auslieferung bewilligen oder Pinochet aus humanitären Gründen in seine Heimat zurückschicken. Der greise Patriarch, der am 25. November 84 Jahre alt wird, ist nach Angaben seiner Vertrauten schwer krank, er soll bereits zwei leichte Schlaganfälle erlitten haben.
Der Mann, der Chile von 1973 bis 1990 mit harter Hand regierte und für den Tod oder das Verschwinden Tausender Regimekritiker verantwortlich gemacht wird, bleibt vorerst unter Hausarrest in einem Londonor Vorort. Am 16. Oktober 1998 war er nach einem Klinikaufenthalt auf Ersuchen der spanischen Justiz festgenommen worden. Die chilenische Regierung, die Pinochet im eigenen Land vor Gericht bringen will, geht davon aus, dass eine baldige „humanitäre“ Entscheidung von Straw die letzte Hoffnung für Pinochet ist. Dies deutete sich bereits Mitte dieser Woche an, nachdem der spanische Außenminister Abel Matutes überraschend erklärte, gegen eine Ablehnung der Auslieferung sofort Berufung einzulegen.
In der chilenischen Hauptstadt Santiago herrscht seit der Nacht auf Freitag Alarmbereitschaft. Die Polizei verstärkte den Schutz der Botschaften Spaniens und Großbritanniens, um Ausschreitungen wie in der Vergangenheit zu vermeiden. Auch Anhänger wie Gegner des umstrittendsten Chilenen bereiteten sich auf den Urteilsspruch vor: Erstere versammelten sich in der Pinochet-Stiftung, während Menschenrechtler und linke Politiker am Sitz der Organisation der Familienangehörige der Opfer (AFDD) zu einer Mahnwache zusammenkamen.
„Das Urteil ist schlimmer ausgefallen, als wir erwartet haben,“ erklärte Luis Cortes Villa, Direktor der Pinochet-Stiftung, nach der Urteilsverkündung. Nachdem Richter Bartle beschieden hatte, dass Pinochet aus Gesundheitsgründen nicht vor Gericht erscheinen müsse, sei die Hoffnung auf eine mildere Entscheidung gewachsen. Cortes Villa betonte, dass nun versucht werden müsse, dem Ex- General aus gesundheitlichen Gründen die Rückreise nach Chile zu ermöglichen. Weitere Prozeßmonate könne Pinochet nicht durchstehen. Gleichzeitig kündigten die Anwälte des 83-Jährigen an, in die Berufung zu gehen.
MEXIKO
Dauerregen zerstört Teile Mexikos – 100.000 Menschen betroffen
(Mexiko-Stadt, 7. Oktober 1999, Poonal).- Nachdem pausenlose Regenfälle in der vergangenen Woche vor allem in den mittelamerikanischen Ländern schwere Schäden angerichtet hatten, ist nun Mexiko besonders betroffen. Weite Landesteile stehen unter Wasser. Die Zahl der Toten ist in den letzten Tagen sprunghaft angestiegen. Inzwischen wird die Zahl der Opfer mit über 300 angegeben. Weit über Hundert Personen sind als vermisst gemeldet. Zudem sind schätzungsweise 100.000 Menschen durch die Regengüsse aus ihren Behausungen vertrieben worden. Da viele Regionen von der Außenwelt so gut wie abgeschnitten sind, können sich die Schadensmeldungen noch erheblich erhöhen.
Neben den fast jährlich von Überschwemmungen betroffenen südlichen Regionen Mexikos können dieses Mal auch mehrere zentral und nördlich gelegene Bundesstaaten den Regen nicht mehr aufnehmen. So werden die meisten Toten aus dem Bundesstaat Puebla gemeldet. Sie kamen überwiegend bei Hauseinstürzen und Erdrutschen ums Leben. Fünf über die Ufer getretene größere Flüsse haben in Puebla die Böden vielfach unterspült. Veracruz, Oaxaca, Tabasco, Jalisco, Michoacán und Hidalgo sind die weiteren Bundesstaaten, in denen das Wasser Zerstörungen hervorgerufen hat. Ein Problem sind mehrere übervolle Stauseen. In Hidalgo hat dies zu Überflutungen geführt. Für die kommenden Tage besteht die Hoffnung, dass der Regen in einigen der betroffenen Regionen etwas nachlässt oder sogar aufhört.
Die Schuldnerbewegung El Barzón ist verschuldet
Von Gerold Schmidt
(Mexiko-Stadt, Oktober 1999, Poonal).- „Mir ist das Joch (el barzón*) zersprungen und das Ochsengespann zieht weiter“, heißt der doppeldeutige Refrain in einem Lied über die Situation der armen Campesinos aus der Zeit der mexikanischen Revolution zu Anfang dieses Jahrhunderts. Am Ende der Liedzeilen wird der Regierung der Tod gewünscht und ein Hochruf auf den Umsturz ausgestoßen. Gut achtzig Jahre später wurde der Text zur Hymne einer Gruppe von mittelständischen Bauern und kleinen Gewerbetreibenden aus dem Norden Mexikos. Sie wollten ihr Schuldenjoch nicht länger ertragen und schlossen sich 1993 zu der Organisation „El Barzón“ zusammen.
Zins und Zinseszins belasteten die Mitglieder so sehr, dass die Rückzahlung ihrer Kredite unmöglich geworden war. In relativ geordneten Verhältnissen lebend, drohte ihnen plötzlich der Absturz in den Kreis der Ausgeschlossenen. Regierung und Banken sollten zu Verhandlungen gezwungen werden, um eine Teilstreichung der Schulden zu erreichen. „Ich schulde, ich leugne es nicht, aber ich zahle (nur) das, was gerecht ist“ war und ist das Motto des Barzón. Von Anfang an wuchs die Organisation, die sich gleichzeitig als Bewegung versteht, ohne jedoch in der Öffentlichkeit größeres Aufsehen zu erregen. Das änderte sich grundlegend in den Jahren 1994 und 1995.
Der Aufstand der Zapastisten im Bundesstaat Chiapas politisierte viele Menschen. Die Wirtschaftskrise Ende 1994 mit der drastischen Abwertung des mexikanischen Peso sowie einem rasanten Zinsanstieg auf über 100 Prozent trieb viele Menschen über Nacht in den Ruin. Innerhalb weniger Monate wurde El Barzón zu einem Massenphänomen. Die Organisation breitete sich über das ganze Land aus, fast täglich entstanden neue lokale Gruppen. Schnell die Bauern nicht mehr in der Mehrheit, die die Kredite für Traktoren und andere landwirtschaftliche Geräte nicht mehr zahlen konnten. Hauseigentümer, denen die Banken ihr Eigentum verpfändeten, Unternehmer, deren monatliche Zinszahlungen sich auf einmal vervierfachten, sie alle sahen sich von den Versprechungen der Regierung betrogen und erblickten im Barzón eine Möglichkeit, eine gerechte Behandlung ihrer wirtschaftlichen Notsituation durchzusetzen.
Ende 1996 gaben einige Barzón-Funktionäre die Mitgliederzahl mit knapp einer Million an. Selbst wenn die Zahl 500.000 wohl wesentlich realistischer sein dürfte, so war dies immer noch etwas nie zuvor Dagewesenes. Große Teile des mexikanischen Mittelstandes hatten sich trotz aller Unterschiede gegen die seit 1928 ununterbrochen regierende PRI und die Banken zusammengetan. Keine andere Bürgerbewegung hatte bis dahin solch eine Kraft entwickelt.
Die kreativen Aktionen des Barzón füllten die Spalten der Zeitungen. Zahlungsboykotte, demonstrative Entkleidungen vor dem Senat, Sitzblockaden vor der Börse, Überraschungsbesuche und – Besetzungen in Banken und Protestmärsche im ganzen Land sorgten dafür, dass die Organisation im Gespräch blieb. Zudem konnte sie kleine Erfolge erzielen, in dem sie in vielen Fällen Gerichtsvollzieher stoppte und einzelne Gerichte in erster Instanz die Wucherzinsen der Banken für unzulässig erklärten.
Die Regierung reagierte auf die ungewohnte Protestbewegung wie in vielen anderen Fällen von organisierter Oppositon: Einerseits erklärte sie sich zu Verhandlungen bereit, anderseits setzte sie auf Repression. Ende 1995 ließ sie die Hauptfigur des Barzón in der Hauptstadt, Alfonso Ramírez Cuellar, und einen weiteren Barzonisten in einer spektakulären Aktion wie Schwerverbrecher festnehmen. Doch das erhöhte die Popularität der Organisation nur und wenige Wochen später waren die beiden Verhafteten wieder frei.
Trotz der beeindruckenden Entwicklung in den ersten Jahren ist es in letzter Zeit viel stiller um den Barzón geworden. Das hat mehrere Gründe. Zum einen sind die internen Widersprüche offenbar zu groß. Während eine Gruppe um Ramírez Cuellar von Anfang an für eine starke Politisierung eintritt, das neoliberale Projekt der PRI-Regierung insgesamt angreift und beispielsweise eine Allianz mit den aufständischen Zapatisten vereinbart hat, geht es vielen Mitgliedern vorrangig um eine konkrete Verbesserung ihrer persönlichen Schuldensituation.
Auf diesem Gebiet konnte der Barzón bis heute keinen grundlegenden Wandel schaffen, was seine Anziehungskraft verminderte. Mit von Regierung und Banken angebotenen Umschuldungsprogrammen und einer derzeit an der Oberfläche stabilisierten wirtschaftlichen Gesamtsituation ist der Schuldenproblematik zudem vorübergehend etwas von ihrer Explosivkraft genommen – aus Regierungssicht könnte die Situation als halbwegs befriedet eingeschätzt werden.
Wenig geholfen hat es dem Barzón auch, sich parteipolitisch vor den Karren spannen zu lassen. Ramírez Cuellar sitzt seit Mitte 1997 für die linksgemäßigte Oppositionspartei PRD im Bundesparlament. In mehreren Bundesstaaten machte die Schuldnerbewegung ganz offen Wahlkampf für die PRD. Das stößt vielen Mitgliedern übel auf. Vor Ort gehen sie deswegen lieber eigene Wege, als sich landesweiten parteipolitisch gefärbten Aktionen anzuschließen, von deren Nutzen sie nicht überzeugt sind. Von Region zu Region tritt diese Abgrenzung unterschiedlich deutlich zutage, kommt aber häufig einer Spaltung des Barzón gleich.
Insgesamt haben die Aktivitäten der Organisation deutlich abgenommen. Ob sich die Mitglieder durch solche Ideen neu begeistern lassen, wie beispielsweise den Papst bei seinem Januarbesuch in Mexiko zum Barzón-Mitglied zu erklären, bleibt offen. Aber der Barzón ist durchaus ein schlafender Riese, der durch äußere Einflüsse rasch wieder aktiviert werden könnte. Das nach wie vor marode mexikanische Bankensystem, das immer wieder durch Regierungssubventionen vor dem Bankrott gerettet werden muss, die spätestens für das kommende Jahr im Zuge der Präsidentschaftswahlen erwartete erneute starke Abwertung des Peso, die starke Abhängigkeit von der US-Wirtschaft und die auf schwachen Füßen stehenden Staatsfinanzen sind Faktoren, die sehr schnell die Situation des Mittelstandes so verschärfen können, dass ihm nichts anderes übrig bleibt, als das Joch erneut zerspringen zu lassen.
* Ganz wortgetreu müsste „el barzón“ mit „Deichselring“ übersetzt worden. Doch seine heutige Bedeutung und Verwendung bezieht sich ebenfalls auf das „Joch“.
MITTELAMERIKA
Polizei vernetzt sich
(San Salvador, 5. Oktober 1999, pulsar-Poonal).- Die Polizeichefs der mittelamerikanischen Ländern kamen in San Salvador zusammen. Sie vereinbarten die Gründung eines gemeinsamen Institutes, das die Ausbildung der Polizei und den Kampf gegen die grenzüberschreitende Kriminalität koordinieren soll. Das neue Institut soll die Polizisten speziell für das Vorgehen gegen den Drogenhandel und die daraus resultierende Geldwäsche trainieren, aber auch auf Aufgaben im Touristen- und Umweltbereich vorbereiten.
GUATEMALA
Leichensuche auf dem Gelände der Militärpolizei
(Guatemala-Stadt, 4. Oktober 1999, cerigua-Poonal).- Mehrere Gerichtsmediziner und Angehörige der Bundesstaatsanwaltschaft haben mit Ausgrabungen am früheren Sitz der Militärpolizei begonnen. Dort wurden Verhaftete gefoltert und es besteht der Verdacht, dass verschiedene Oppositionelle in den 70er und 80er Jahren auf dem Areal umgebracht und verscharrt wurden. Staatsanwalt Fernando Mendizábal de la Riva hat angekündigt, eventuell aufgefundene Skelette sofort einem genetischen Test zu unterziehen, um festzustellen, ob es sich um die Überreste ehemaliger Regimegegner handelt. Aura Elena Farfán von der Koordination der Familienangehörigen Verhafteter-Verschwundeter geht davon aus, dass während des bewaffneten internen Konfliktes in Guatemala unzählige Personen in die Kaserne der Militärpolizei verschleppt wurden. Sie erklärte, dieses Schicksal habe im Juni 1980 auch die 27 Gewerkschaftsführer des Dachverbandes CNT getroffen, die nach ihrer Entführung aus der Gewerkschaftszentrale nie wieder auftauchten.
DOMINIKANISCHE REPUBLIK
Polizisten – Freunde und Helfer?
(Santo Domingo, 6. Oktober 1999, pulsar-Poonal).- Rund 800 dominikanische Polizisten wird von offizieller Seite vorgeworfen, an Verbrechen teilgenommen zu haben sollen. Nach Angaben eines Polizeisprechers wird gegen diese Männer und Frauen jetzt ermittelt. Die Untersuchungen wurden aufgenommen, nachdem zwei Polizisten den Raubmord an einer Dozentin zugaben und sich gleichzeitig für weitere 300 Delikte in der dominikanischen Hauptstadt Santo Domingo verantwortlich erklärten. Die Beschwerden über das kriminelle Gebaren der Polizei kommen aber aus dem ganzen Land und haben sich in den vergangenen Wochen verstärkt.
Alle 800 unter Verdacht stehenden Mitglieder der Polizeikräfte gehören der Einheit zur Aufstandsbekämpfung an. Gegen sie besteht vielfach der Vorwurf, gemordet zu haben. Aus den Armenvierteln der dominikanischen Hauptstadt wird häufig berichtet, dass die Polizei jugendliche Delinquenten umbringt, statt sie vor der Justiz zu präsentieren. Auch völlig unbescholtene Bürger sind schon Opfer der Polizeibrutalität geworden. Auf der Liste der Anklagen stehen der Mord an einem Mönch und an einem Pförtner eines Kinderkrankenhauses.
KUBA
Generalsekretär des Weltkirchenrates besucht erstmals Kuba
(Havanna, 1. Oktober 1999, alc-Poonal).- Mit dem deutschen Pastor Konrad Raiser wird zum ersten Mal ein Generalsekretär des Weltkirchenrates (CMI) dem sozialistischen Kuba einen Besuch abstatten. Im vor 51 Jahren gegründeten Weltkirchenrat sind 337 evangelische, protestantische und orthodoxe Kirchen aus mehr als hundert verschiedenen Ländern Mitglied. Während seines Aufenthaltes vom 9. bis 13. Oktober hält Raiser in einem der größten Theater der Hauptstadt Havanna eine Messe ab, zu der mehrere Tausend Gläubige erwartet werden.
Reise und Veranstaltung sind ein weiterer Beleg für die derzeitige Annäherung zwischen der Regierung Fidel Castros und den beiden großen Kirchen. Erst im Juni hatten sich die evangelischen und protestantischen Kirchen Kubas mit mehreren öffentlichen Großveranstaltungen in verschiedenen Städten präsentiert. Die Abschlussmesse konnten sie am 20. Juni auf dem Platz der Revolution in Havanna abhalten. Dies wäre vor Jahren noch undenkbar gewesen.
URUGUAY
Jede zweite Frau wird misshandelt, jeder zehnte Fall vor Gericht
(Montevideo, 28. September 1999, comcosur-Poonal).- Nach Angaben der Frauenkommission der Stadtverwaltung von Uruguays Hauptstadt Montevideo wandten sich in den ersten acht Monaten fast 4.000 misshandelte Frauen an das komunale Nottelefon. Im gesamten Vorjahr waren es 4.785 Anrufe. Der 1992 eingerichtete Dienst ist 24 Stunden lang besetzt und bietet außer moralischer Unterstützung konkrete Beratung für die Frauen an. Die Frauenkommission hat jüngst eine Studie durchgeführt, nach der es in 47 Prozent der uruguayischen Haushalte zu Gewalttätigkeiten kommt. Aber nur 10 Prozent aller Fälle kommen vor die Justiz.
Oppositionelle essen mit US-Botschafter
(Montevideo, 25. September 1999, comcosur-Poonal).- Mehrere Mitglieder der uruguayischen Oppositionspartei Encuentro Progresista waren jüngst auf Einladung mit dem Botschafter der USA zu Tisch. Dieser an und für sich wenig erschütternde Vorgang wurde jedoch von politischen Beobachtern als Zeichen gedeutet: Offenbar sind die USA bereit, eine mögliche linksgemäßigte Regierung Uruguays stillschweigend zu dulden. Dem Opposositionsbündnis werden bei den Wahlen Ende dieses Jahres Chancen eingeräumt, die konservative Koalition aus der Partido Colorado und der Partido Nacional abzulösen. Zu den Teilnehmern gehörten einige Abgeordnete, Berater des Präsidentschaftskandidaten Tabaré Vázquez und Mitglieder der Kommunalregierung von Montevideo, die seit 10 Jahren in den Händen der moderaten Linken ist.
ARGENTINIEN
Paraguays Putschgeneral Oviedo wird immer unbequemer
(Buenos Aires, 6. Oktober 1999, pulsar-Poonal).- „Ich wünschte, ihn nicht hier zu haben, dass er in der Luft verschwindet, aber das ist nicht so einfach“. So drückte der argentinische Außenminister Guido Di Tella das wachsende Unbehagen seiner Regierung über die Präsenz von Paraguays Putschgeneral Lino Oviedo am Rio de la Plata aus. Dessen Erklärungen über seine weiter bestehenden Ambitionen auf die Präsidentschaft Paraguays belasten Argentiniens Beziehungen zum Nachbarland. Nachdem Oviedo in der vergangenen Woche bereits ein Zwangsumzug von Buenos Aires in die entlegene südliche Provinz Feuerland verordnet wurde, sucht der Außenminister jetzt offenbar andere Länder, die bereit sind, den Ex-General aufzunehmen. Neben Venezuela soll auch die Bundesrepublik Deutschland im Gespräch sein. Da Argentinien Oviedo aber Asyl gewährt hat, wird die Regierung ihre Schwierigkeiten haben, ihn wieder los zu werden.
Menems Vermächtnis
Von Andres Gaudin
(Buenos Aires, 4. Oktober 1999, na-Poonal).- Nach zehn Jahren der Regierung durch Carlos Menem liegt Argentinien am Boden. Das Land am Rio de la Plata erlebt 1999 – das letzte Amtsjahr des Präsidenten – wirtschaftlich zerstört, politisch gedemütigt und sozial krank. Wer auch immer am 24. Oktober als Sieger aus den Präsidentschaftswahlen hervorgehen wird, kann den Wiederaufbau Argentiniens kaum in den kommenden vier Jahren schaffen – falls das überhaupt sein Interesse ist.
Im Moment sieht es so aus, als ob der Oppositionsanwärter Fernando de la Rua den Regierungskandidaten Eduardo Duhalde deutlich besiegen könnte. Inwiefern das in weiten Bereichen der Politik einen Unterschied machen würde, ist fraglich. In ihren Äußerungen zum Wirtschaftprogramm unterscheiden sich die beiden kaum. Hoch wird da die geringe Inflation gerühmt, die 1990 bei 1.350 Prozent lag und heute in eine Deflation von minus 1,2 Prozent umgewandelt ist. Diese Inflationsbremse kommt allerdings teuer zu stehen. Argentinien ist produktiv gesehen praktisch auf Null, hat kaum noch eine eigene Industrie, ist über beide Ohren verschuldet, im ständigen Kniefall vor den internationalen Finanzistitutionen begriffen und erlebt vor allem eine nie dagewesene soziale Misere.
Menems Erbe sieht folgendermaßen aus: Ein Handelsbilanzdefizit von mehr als fünf Milliarden US-Dollar pro Jahr, eine Binnenschuld des Staates von 120 Milliarden Dollar sowie eine Auslandschuld von 110 Milliarden, die jährlich um zehn Prozent steigt. Allein für die Rückzahlung der Zinsen wendet Argentinien 10 Milliarden Dollar jährlich auf. Das ist die Hälfte aller Exporterlöse. Menem hat ausländischen Kapitaleignern sämtliche ehemals staatseigenen Betriebe überlassen. Die Bandbreite reichte von alten Fernsehkanälen bishin zur größten Staatsfirma YPF, dem drittgrößten Ölunternehmen Südamerikas. Doch damit nicht genug. Nur 500 Unternehmen stellen 40 Prozent der gesamten Binnengüter her. Und von diesen 500 sind nach Angaben der einheimischen Statistikbehörde 70 Prozent in ausländischer Hand.
Die ausländischen Firmen machen nur ein Prozent aller registrierten Unternehmen aus, dominieren aber 65 Prozent des Exports. Sie erhöhten ihre Gewinne in den vergangenen fünf Jahren um 69 Prozent, aber entließen in nur einem Jahr 63.000 Beschäftigte in die Arbeitslosigkeit. Von den 351 ausländischen Unternehmen haben 43 Prozent ihr Mutterhaus in den USA. Dabei lässt die Statistik noch den Bankensektor außen vor, der fast vollkommen von ausländischem Kapital beherrscht wird. Diese Vorzugsbehandlung für Ausländer spiegelt sich in Argentiniens Rolle auf dem internationalen Handelsparkett überhaupt nicht wider. Von 1990 bis 1998 stiegen die US-Exporte nach Argentinien um 672 Prozent, während die Sendungen in Gegenrichtung gerade einmal 33 Prozent umfangreicher wurden. Dies liegt an der restriktiven Importpolitik des Nordens mit beispielsweise 2.487 verschiedenen Zollschranken. Anders ausgedrückt: Argentinien ist Nummer 216 auf der Lieferantenliste der USA, als Käufer aber die Nummer 25.
Importiert wird praktisch alles von Kapitalgütern bis zum Papiertaschentuch. Da es staatlicherseits keinerlei Anreize für die lokale Industrie gibt, haben die Importe mit den einheimischen klein- und mittelständischen Unternehmen aufgeräumt, in denen früher immerhin 65 Prozent aller Arbeitsplätze angesiedelt waren. Die neue Regierung wird sich einer ökonomisch aktiven Bevölkerung von 13,5 Millionen Menschen bei einer ofiziellen Arbeitslosenzahl von 17 Prozent gegenübersehen. Die Unterbeschäftigung liegt bei geschätzten 32 Prozent. Dies erklärt, warum in den Supermarktketten, die 97 Prozent des nationalen Markts erreichen, die Käufe von Gütern des Grundbedarfs zwischen August 1998 und August 1999 um 5,3 Prozent zurückgegangen sind.
Dazu kommt ein Schwall von Erhöhungen bei den öffentlichen Dienstleistungen von bis zu 80 Prozent als Ergebnis der generösen Nachverhandlungen mit den Konzessionären der privatisierten Unternehmen. Vor allem die Eisnebahn sticht hier hervor. Nur einige haben trotz der hohen Lebenshaltungskosten aufgrund einer Entscheidung des Obersten Gerichtshofs, der unter Menem jegliche Eigenständigkeit verlor, noch gut lachen: Ende August entschieden die Obersten Richter, rund 20.000 Offizieren im Ruhestand einen Nachschlag zu ihren angeblich zu geringen Abfindungen zu gewähren. Das wird die neue Regierung vier Milliarden Dollar kosten. Da die Soldaten ab kommendem Jahr auch noch die Einzigen sind, die als Pensionäre Bezüge in der gleichen Höhe wie als Aktive erhalten, wird der Staatshaushalt mit weiteren 600 Millionen Dollar jährlich belastet.
Im strikt politischen Bereich hinterlässt Menem eine von ihm errichtete und gefestigte Form des Autoritarismus, in der mit Hilfe des Justizapparates die Legislative oft einfach übergangen wird. Menem hat eine Art absolutistisches Regime mit bestimmten Freiheiten etabliert, in dem alles, vor allem die Staatsausgaben, mit erhöhter Diskretion behandelt wird. Zum Beispiel übereignete der Präsident Ende Juni auf persönliches Bestreben und ohne irgendein Regierungsorgan zu befragen, dem bolivianischen Präsidenten Bánzer ein drei Millionen Dollar teures Flugzeug für dessen Flüge. Menem leugnete den Vorgang zwar, doch die tatsächliche Übergabe wurde nur wegen eines Zeitungsfotos verhindert, auf dem zu sehen war, dass bereits die bolivianische Fahne und das Staatswappen der Andenrepublik auf dem Flugzeug angebracht worden waren.
Die Flugzeugstory ist nur eine Anekdote. In den zehn Jahren seiner Regierung unterschrieb Menem 238 „notwendige und eilige“ Dekrete. Diese Rechtsfigur wurde bei der Verfassungsreform 1994 eingerichtet, aber nie gesetzlich geregelt. Dennoch privatisierte der Präsident mit seinen Dekreten das gesamte nationale Flugplatznetz, riss Befugnisse des Kongresses an sich und entschied mit einem Federstrich zum Beispiel die Stiftung von drei Milliarden Tonnen Zement für den Bau einer Straße in Bolivien oder eine staatliche PR-Förderung in Höhe von acht Millionen Dollar für den ihm politisch nahestehenden Abgeordneten und Motoradrennfahrer Daniel Scioli.
Ein – wenngleich unvollständiger – Rückblick auf die menemistische Amtszeit kann auch nicht am frivolen Politikstil des Regenten vorbeigehen. Einige volkstümliche Künstler, bestimmte ehemals erfolgreiche Sportler, die bestechlichsten Gewerkschafter und viele Massenmörder aus der Militärdiktatur haben Menem zur Seite gestanden oder tun es immer noch. Wegen Vergabe von Staatskrediten an einen Friseur oder für eine Schönheitsoperation, mit der der Präsident seine Falten verbergen wollte, sehen sich einige Funktionäre bereits jetzt Gerichtsverfahren ausgesetzt, weil sie solche Ausgaben einfach in den Staatshaushalt mit eingerechnet haben.
Doch während Menem und seine Funktionäre dem Frivolen huldigten, erlebte das Land eine schmerzhafte Wirklichkeit. Nach Angaben der Weltbank haben die vermögendsten zehn Prozent der Bevölkerung in den zehn Jahren Menem-Regierung 35 Prozent des Landesreichtums unter sich aufgeteilt. Am unteren Rand der Gesellschaft teilen sich die ärmsten 40 Prozent gerade einmal 14 Prozent des Kuchens. Politische Beobachter, Soziologen und Nicht-Regierungs- Organisationen sind sich einig, dass wegen dieses Armutsdramas das schwierigste Erbteil Menems das soziale Vermächtnis ist.
KOLUMBIEN
Menschenrechtsexpert*innen empfehlen Kontrolle der Paramilitärs
(Bogota, 29. September 1999, ac-Poonal).- Eine hochkarätige internationale Kommission beendete ihren Besuch in Kolumbien mit spezifischen politischen Empfehlungen und Vorschlägen, wie die schwere Menschenrechtskrise des Landes überwunden werden könnte. An der Delegation nahmen sieben Menschenrechtsexpert*innen teil, darunter auch der spanische Richter Baltasar Garzón, der die Anklage gegen den chilenischen Ex-Diktator Pinochet führt. Ebenfalls zur Kommission gehörten die Anwältin Kerry Kennedy, Tochter von Robert Kennedy und Direktorin der Kennedy-Stiftung sowie Francisco Soberón, Vizepräsident der Internationalen Menschenrechtsvereinigung.
Nach einem intensiven Besuchs- und Austauschprogramm mit verschiedenen Institutionen, Organisationen, zivilen und militärischen Behörden brachte die Kommission ihre große Besorgnis über die gravierenden Angriffe und Drohungen gegenüber Menschenrechtsverteidiger*innen in Kolumbien zum Ausdruck. Sie stützte sich dabei auch auf den Bericht einer technischen Expertenkommission, die im August während eines Besuches die Menschenrechtslage untersucht hatte.
Unter anderem forderten die Experten die Regierung auf, die paramilitärischen Grupen unter Kontrolle zu bringen, die illegalen Aktionen der Sicherheitsdienste sowie die Straffreiheit der gegen die Menschenrechtler gerichteten Verbrechen zu beenden. Sie beklagten die Praxis des Geheimdienstes, Archive über Menschenrechtsverteidiger*innen zu führen. Solche Dokumente müssten berichtigt, offengelegt oder vernichtet werden. Weiterhin verlangten die Kommissionsmitglieder die Verabschiedung des Gesetzes über gewaltsames Verschwindenlassen und die Ratifizierung der Konvention zu einem Internationalen Strafgerichtshof. Kritik äußerten die Mitglieder an der US-Unterstützung zur Drogenbekämpfung. Diese Hilfe könne sich negativ auf die Menschenrechtssitution im Land auswirken, so ihre Sorge. Die Kommission besuchte Kolumbien auf ausdrücklichen Wunsch von 24 nationalen und internationalen Menschenrechtsorganisationen.
Noch immer kein Grundrecht auf Wohnung
(Bogota, 29. September 1999, ac-Poonal).- In Kolumbien gibt es etwa 11 Milliomen Menschen, die teilweise „über Jahre oder über das ganze Leben hinweg Not und Ungerechtigkeit erleiden, weil ihre Behausung nicht die heute lebensnotwendigen Grunddienstleistungen zur Sicherung einer angemessenen Lebensqualität bietet“ Dies wurde anlässlich einer kürzlichen Debatte über das Recht auf Wohnung festgestellt, die die kolumbianische Plattform für Menschenrechte, Demokratie und Entwicklung organisierte.
Das Wohnungsproblem reicht in Kolumbien bis in die besser verdienenden Schichten hinein. Um das enorme Wohnungsdefizit zu lösen, entschieden sich mehr als 800.000 Menschen für eine Kreditaufnahme im Rahmen des UPAC-Systems (Einheit konstanter Kaufkraft), das der Mittel- und Oberschicht Zugang zu einer Alt- oder Neubauwohnung verschaffen sollte. Doch das System entpuppte sich als mehr als nur ausbeuterisch. Ähnlich wie es mit der Außenschuld geschieht, haben die Kreditnehmer nicht nur ihre Kredite bereits vielfach zurückbezahlt, sondern sie verschulden sich immer weiter und können nur die Zinsen bezahlen. Aufgrund der Rezession haben bereits rund 12.000 Familien ihre Wohnung verloren und alles, was sie bereits für deren Erwerb bezahlt hatten. Viele weitere sind mit den Schuldenzahlungen im Rückstand.
Im Verlaufe dieses Jahres begingen mehrere Personen Selbstmord, da sie ihren Schuldendienst nicht mehr leisten konnten. Eine Reaktion bewirkte das nicht. Bis eine Gruppe von UPAC-Kreditnehmern gegen das Finanzierungssystem beim Verfassungsgericht Klage einreichte. Das Verfassungsgericht erklärte im September daraufhin sechs Artikel des Dekrets 663 von 1993 zur Wohnungsbauförderung für verfassungswidrig. Bereits im Mai 1999 hatte das Verfassungsgericht entschieden, dass die Zinssätze für die Wohnungsschulden auf der Basis des Indexes der Konsumentenpreise und nicht wie bisher auf jener der Geldentwertung festgelegt werden.
Im neuen Urteil legt das Verfassungsgericht keine rechtlichen Regeln für das Recht auf Wohnung fest, sondern nimmt nur zu Formsachen Stellung. Danach hätte die Regierung kein Recht dazu gehabt, 1993 das bereits seit 27 Jahren bestehende UPAC-System zu reformieren, da in der Verfassung festgelegt ist, dass zuvor ein Rahmengesetz über die Grundprinzipien der Wohnbaufinanzierung erarbeitet werden muss.
Das Urteil nützt den Kreditnehmer bisher wenig. Es verlangt von der Regierung nur, dass sie bis spätestens zum 6. Juni 2000 ein Rahmengesetz erlässt, um so – laut Verfassungsgericht – Instabilitäten des Finanzsystems zu verhindern und Fehler zu korrigieren. Die UPAC-Kreditnehmer haben bereits Protestmärsche gegen dieses Finanzsystem durchgeführt und mehrmals die Wohnungsräumung bei Familien, die ihre Schulden nicht mehr bezahlen konnten, verhindert.
Friedensgespräche sollen wieder aufgenommen werden
Von Laura Barros
(Bogota, 4. Oktober 1999, npl).- In Kolumbien bahnt sich ein neuer Anlauf zu den seit Monaten ausgesetzten Friedensverhandlungen an. Vertreter der Guerillagruppe Farc und der Regierung erklärten am Wochenende übereinstimmend, bereits diese Woche sollten die Gespräche wieder aufgenommen werden. Der Dialog über eine politische Lösung des Bürgerkrieges, der jährlich vielen Tausend Menschen das Leben kostet, ist seit Mai dieses Jahres unterbrochen. Anlass war die Weigerung der Farc, in einem von der Armee geräumten Gebiet eine internationale Beobachterkommission zuzulassen.
Offenbar konnten sich die Rebellen an diesem Punkt durchsetzen: Erst wenn erste Ergebnisse erzielt worden sind, soll eine internationale Beteiligung an der Verhandlungen zugelassen werden. „Der Dialog muss vorangetrieben werden, und erst im Verlauf der Gespräche, wenn erste Vereinbarungen getroffen wurden, wird über die Form der Kontrolle entschieden,“ verdeutlichte Farc-Kommandant Raul Reyes die Position der größten Guerillagruppe Kolumbiens. Der Regierungsbeauftragte für die Friedensverhandlungen, Victor Ricardo, ergänzte, dass sich beide Seiten auf eine „Unterkommission“ geeinigt hätten, die Beschwerden über die entmilitarisierte Zone entgegennehmen soll.
Im November vergangenen Jahres hatte Präsident Andrés Pastrana angeordnet, die Armee aus einem Gebiet von der Größe der Schweiz abzuziehen. Dies war eine der Bedingungen der Rebellen, um sich am 7. Januar mit der Regierung an einen Tisch zu setzen. In der Folgezeit überschattete der Streit um die entmilitarisierte Zone die Friedensgespräche: Während die Guerilleros das Gebiet unter Kontrolle nahmen und zum militärischen Rückzugsgebiet ausbauten, kritisierten Opposition und Armee, dass die Guerilla jetzt ungestört dem Drogenhandel nachgehen könne und die Bevölkerung drangsaliere. Im Mai führte der Streit zum Rücktritt des Verteidigungsministers und von 12 weiteren Generälen.
Beobachter meinen, die vier Monate Streit um eine internationale Kontrollkommission seien reine Zeitverschwendung gewesen. Statt einer Annäherung hätten beide Seiten ihre kompromisslose Haltung aufgrund des Drucks von Hardlinern eher noch radikalisiert. Letztendlich ist es dem Beharren von Menschenrechtsorganisationen und der Kirche zu verdanken, dass diese Blockade überwunden werden konnte.
Sollten keine neuen Hindernisse auftauchen, könnte der Friedensprozeß jetzt, knapp neun Monate nach seinem offiziellen Startschuss, beginnen. Der genaue Termin soll Victor Ricardo zufolge in Kürze bekannt gegeben werden. Beide Seiten hatten sich bereits im Mai auf eine Agenda von zwölf Themen geeinigt, die nacheinander diskutiert werden sollen. Der politischen Lösung des bewaffneten Konflikts sollen politische, ökonomische und soziale Reformen folgen. Weitere Punkte sind das Rechtssystem, Menschenrechte, der Drogenhandel und die Rolle der Militärs.
Ein Fahrplan, der Jahre dauern kann, und angesichts der ideologischen Differenzen zwischen der marxistischen Farc und der konservativen Regierung kaum Hoffnung auf konkrete Ergebnisse macht. Doch die Bevölkerung, die der Jahrzehnte währenden Gewalt müde ist, verlangt diese Anstrengung. Und während die beiden größten Kontrahenten bald an einem Tisch sitzen, verbleiben noch zwei Kriegsteilnehmer, die auch mitreden wollen: Die rechten Paramilitärs, die fast täglich mit Übergriffen auf die Zivilbevölkerung auf sich aufmerksam machen und innerhalb der Armee viele Sympathisanten haben. Und nicht zuletzt die kleinere Guerillagruppe ELN, die noch über 50 Geiseln in ihren Händen hat.
PERU
800 Militärs verfolgen eine Handvoll Senderistas.
(Lima, 6. Oktober 1999, pulsar-Poonal).- Nach dem Überfall auf einen Militärhelikopter durch die Guerilla-Organisaton Sendero Luminoso (Leuchtender Pfad) versucht die peruanische Armee mit großem Aufgebot, die Aufständischen aufzuspüren. 800 Soldaten sind inzwischen an der Suche nach den Senderistas beteiligt. Präsident Alberto Fujimori, der einen Teil seiner Popularität der weitgehenden Zerschlagung der peruanischen Guerilla verdankt, berichtete höchstpersönlich über die Operation. Die Aktion der Guerilla war ein Rückschlag für die Regierung. Die etwa 60köpfige Einheit der Rebellen attackierte die Soldaten in einem Urwaldgebiet 300 Kilomenter von der Hauptstadt Lima entfernt. Fünf Militärs kamen um, weitere fünf wurden verletzt.
LATEINAMERIKA – Die Mythen des Tourismus, IV
Indígenas wollen die Kontrolle über Ökotourismus in Ecuador
Von Luis Angel Savedra
(Quito, 13. September 1999, na-Poonal). In den vergangenen zwei Jahren haben die touristischen Unternehmen in Quito ihre Angebote an die Nachfrage auf dem internationalen Markt angepasst. Statt der traditionellen auf dem Programm stehenden Museumsbesuche, Rundfahrten durch das koloniale Stadtzentrum und über die indigenen Märkte werden nun für den sogenannten ökologischen und auch Abenteuer-Tourismus Touren speziell ins Amazonasgebiet durchgeführt. Angeboten wird der direkte Kontakt zur Natur. Auch wer einige Tage „mit vom Aussterben bedrohten Indianern“ zusammenleben will, an ihren Bräuchen, Traditionen und Ritualen teilnehmen will, kann das nun buchen.
„Der Ökotourismus wirft viel Geld ab, das Ecuador genauso wie das Erdöl ausbeuten kann, allerdings ohne seine natürlichen Ressourcen zu schädigen“, sagte die ehemalige Tourismusministerin Rocio Vazquez noch kurz vor dem 10. August. An jenem Tag entschied Präsident Jamil Mahuad die Auflösung des Ministeriums aufgrund der Finanzkrise, die das Land zur Zeit durchmacht.
Der Ökotourismus ist zu einem Thema geworden, über das viele innerhalb und außerhalb der indigenen Gemeinschaften nachzudenken gezwungen sind. Für einige bedeutet er eine Möglichkeit zu nachhaltiger Entwicklung, für andere stellt er eine neue Form der Ausbeutung und Vereinnahmung der indigenen Bevölkerung dar.
Die Shuar-Stiftung im Südosten Ecuadors und die im Nordosten des Landes am Ufer des Aguarico-Flusses lebende Siecoya-Gemeinschaft sind die einzigen Indígenagruppen, die eigene Ökotourismusprojekte handhaben. In einem von den Siecoyas herausgegebenen Ökotourismusfaltblatt heißt es, es handle sich um eine „vom Aussterben bedrohte Gemeinschaft, die noch immer nach jahrhundertealten Traditionen lebt“. Die Mitglieder der Gemeinschaft, „Sammler, Jäger und Fischer versuchen die natürlichen Ressourcen rationell und nachhaltig zu nutzen und den Besuchern und Touristen gleichzeitig die Naturschönheiten des Amazonasgebiets erleben zu lassen und an ihrer Folklore und ihren Traditionen teilhaben zu lassen“, heißt es weiter.
Orlando Grefa ist Vorsitzender des Verbandes indigener Organisationen aus Sucumbfos, in dem 20.000 Indigene aus 60 Gemeinschaften organisiert sind. Er betrachtet die touristischen Unternehmungen wie die der Siecoya mit Wohlwollen. „Das ist sowohl für die Gemeinden wie für die Bundesstaaten wie auch für das ganze Land von wirtschaftlichem Interesse und mit den Einnahmen können wir die Menschen an der Basis ausbilden, sie nach Quito oder in andere Länder schicken, damit sie die Leitung solcher Tourismus- Unternehmen erlernen“, erläutert er. Auch im Faltblatt der Siecoya wird ähnlich argumentiert: „Mit ihrem Besuch fördern Sie das Krankenboot der Gemeinschaft, schaffen Sie Arbeitsplätze, ermöglichen Sie Stipendien für junge Siecoyas und den Erhalt unserer Gemeinschaft“, heißt es dort. „Außerdem können so Schulen errichtet und Außenbordmotoren für unsere Kanus gekauft werden.“
Für Luis Yanza stellt sich der Ökotourismus in einem ganz anderen Licht dar. „Daran ist doch gar nichts ökologisch“, sagt der Vorsitzende des Bündnisses zur Verteidigung Amazoniens. Diese Organisation erregte unter anderem durch ihre Klage gegen die USA und Texaco weltweit Aufmerksamkeit (vgl. frühere Poonalausgaben). „Es ist besorgniserregend, die kulturellen Veränderungen in den Dörfern zu beobachten, in denen viele Touristen verkehren,“ betont Yanza.
Humberto „Vogelmann“ Piaguaje, Führer der Siecoya-Gemeinden und damit für etwa 70 Familien sprechend, meint hingegen, die touristischen Aktivitäten seien solange von Vorteil, wie die Kontrolle bei den Gemeinden bliebe. „Wir sehen nicht, dass der Tourismus in Zukunft die Kultur verändert oder entwertet,“ erklärt Piaguaje. “ Wenn ich in der Stadt bin, bin ich immer noch Siecoya, egal ob ich Hosen trage und Auto fahre oder nicht. Ich werde meine Identität nie verlieren, ich werde mich immer wie ein Siecoya fühlen. Wenn ich irgendwann meine Tunika anziehe, meine Krone aufsetze, so ist das eine Ehre“, betont er. „Wir werden immer unsere kulturellen Werte haben, unser Bewusstsein und unser eigenes Leben.“
Unberührt von solchen Gedanken ist der Ökotourismus voll im Kommen. Die meisten Veranstalter bieten in ihrem Programm auch ein Zusammentreffen mit einem Schamanen, bei dem dann ein halluzinogener Trunk aus der heiligen Ayahuasca-Pflanze konsumiert wird. „Echte Schamanen gibt es doch kaum noch, die sind alle viel zu alt für so was“, kommentiert Yanza derartige Angebote. Lucfa Gallardo von der Ökologischen Aktion bestätigt: „Diejenigen, die solche Rituale kommerzialisieren, sind meist Mestizen, die das Vertrauen der indigenen Bevölkerung erworben haben und nun die Traditionen manipulieren.“ Es sei sogar zur Ansiedlung angeblicher Eingeborenendörfer im Urwald gekommen.
Im Siecoya-Faltblatt wird den Besuchern die Gelegenheit geboten, „am Wissen der Siecoya-Kultur mittels amazonischer Spiele, Tänze und Musik teilzunehmen, bei denen Sie typische Speisen und das berühmte Yucca-Bier genießen können.“ Außerdem könne auch ein Besuch „beim Schamanen oder Heilkundigen der Gemeinschaft auf dem Programm stehen, bei dem die Besucher dann die Kleidung der Siecoya und deren typische Bemalung anlegen können“, wird versprochen. Damit ist bei den Siecoyas aber auch schon Schluss. Piaguaje zufolge nehmen die Touristen bei ihnen nicht an Ayahuasca-Zeremonien teil. „Viele Touristen wollen mit den Siecoya trinken, aber die Reiseleiter sagen ihnen dann, dass das nicht gehe, weil man das nicht mal so eben macht“, erklärt er.
Viele Indigene meinen, die mit dem Ökotourismus einhergehenden Probleme könnten gelöst werden, wenn die Gemeinden selbst die Durchführung der Programme in die Hand nähmen. „Bloß weil die Touristen kommen, sollten wir keine Bäume fällen oder die Verschmutzung in Kauf nehmen. Es muss eine Handhabung des Tourismus geben, die wir für gut heißen“, betont auch Grefa. Yanza stößt ins gleiche Horn, indem er die Wichtigkeit einer klaren Gesetzgebung fordert. „Der ökologische Tourismus wie der Tourismus ganz allgemein müssen einen gesetzlichen Rahmen erhalten, der mit der im vergangenen Jahr verabschiedeten neuen Verfassung übereinstimmt“, verlangt er. „Darin müssen die Rechte der Allgemeinheit und die uralten Rechte der indigenen Bevölkerung berücksichtigt werden, es muss ein Prozess unter Beteiligung der Indigenen und ihrer Organisationen sein, damit das Gesetz tatsächlich die Realität wiederspiegelt, die vor Ort gelebt wird, doch leider passiert im Parlament gar nichts in der Richtung“, erläutert Yanza.
Die Erfahrung der Siecoya geht laut Piaguaje in Richtung einer stärkeren Kontrolle des Ökotourismus durch die Gemeinschaften selbst. Umweltschutz und nachhaltige Entwicklung im Rahmen gegenseitigen Respekts, lautet die Formel. „Die Touristen können im Wald umherlaufen und dort soviele Fotos machen, wie sie wollen, aber sie können nicht einfach in die Häuser gehen und dort herumknipsen, sie müssen den Besitzer des Hauses um Erlaubnis fragen und natürlich auch jede Person, die sie ablichten wollen“, erklärt er. „Die Touristen dürfen unser Leben trotz ihrer anderen Mentalität und anderen Gefühle beobachten, sie können zusehen, wie wir die Ökologie und Vielfalt unserer Berge verteidigen, die wir achten und sie müssen uns ebenso achten und respektieren“, erklärt der Vogelmann.
Die Debatte hat anscheinend noch zu keinem übereinstimmenden Ergebnis geführt. Die Vorteile des Ökotourismus sind bislang eher in den mestizischen Gemeinden zu spüren, die auch damit begonnen haben und die Unternehmen zu bestätigen scheinen, die ihn durchführen. Die indigenen Gemeinschaften stehen vor der Herausforderung, die Kontrolle über die Besucher zu behalten oder zu bekommen und auf diese Weise ihre Traditionen und Bräuche zu bewahren, die letztendlich ihre Würde garantieren.
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