(Berlin, 29. Januar 2024, poonal).- Der südmexikanische Bundesstaat Chiapas ist Heimat der EZLN und Sehnsuchtsort für zehntausende Menschen, die für eine andere, bessere Welt kämpfen. Doch seit einigen Jahren hat die Gewalt, die andere Landesteile Mexikos überzieht, auch Chiapas erreicht. Am 12. Januar 2024 wurde etwa das Mitglied des Nationalen Indigenen Rates CNI, Carmen López Lugo, in Tila im Norden von Chiapas erschossen. Täter sollen eine Gruppe bewaffneter Nachbar*innen sein, denen von Seiten der Gemeinde auch weitere Morde angelastet werden. Drei Tage später, am 15. Januar 2024, kam es in den Gemeinden Chicomuselo, Socoltenango und La Concordia zu Gefechten zwischen den Drogenkartellen Jalisco Nueva Generación und dem Sinaloa-Kartell. Einen Tag später tauchten Einheiten der Nationalgarde und der Armee auf – und beschuldigten die Bewohner*innen, einem der Kartelle anzugehören. Daraufhin flüchteten über 2.000 Menschen aus ihren Häusern.
Doch bei dem Konflikt in Chiapas geht es nur vordergründig um einen Kampf um die territoriale Kontrolle zwischen
zwei Drogenbanden. Die mexikanische Regierung hat die Präsenz von Armee und Nationalgarde in Chiapas verstärkt, aber nicht etwa, um die Sicherheit der Bevölkerung zu gewährleisten, sondern um die zahlreichen Infrastrukturprojekte abzusichern, die in Chiapas und ganz Südmexiko unter oft fragwürdigen Umständen durchgesetzt werden. Denn auch das Militär konnte oder wollte nicht verhindern, dass in den letzten drei Jahren Tausende Menschen aus ihren Heimatgemeinden vertrieben wurden, wie zuletzt Mitte Januar 2024. Zusätzlich wurden einzelne Gemeindeaktivist*innen von den Behörden inhaftiert, andere von Auftragskillern ermordet.
Auf ihrer Rundreise durch Europa berichteten Patricia Domínguez und Lázaro Sánchez vom renommierten Menschenrechtszentrum Fray Bartolomé de las Casas, kurz: Frayba, warum die Gewalt in Chiapas eskaliert. Schon seit der Kolonialzeit habe es Landraub gegeben, berichtet Sánchez. Inzwischen aber seien speziell in Südmexiko Energiekonzerne und Bergwerke sowie große Infrastrukturprojekte dazugekommen: die Raffinerie de Dos Bocas im Bundesstaat Tabasco, der kürzlich eingeweihte Tren Maya in Yucatán und der Corredor Transístmico von Oaxaca nach Veracruz. Von diesen drei Großprojekten heißt es, sie dienten der Entwicklung des Südens. „Aber diese Entwicklung des Südens wird von mehr Militarisierung, mehr Menschenrechtsverletzungen und mehr Unsicherheit begleitet – und vom Raub der Ländereien der dort ansässigen Menschen“, kritisiert Sánchez.
Militarisierung, Menschenrechtsverletzungen und Unsicherheit
Inzwischen kämpfen auch zwei große Gruppen der Organisierten Kriminalität um die Vorherrschaft in Chiapas – vor allem in den Gemeinden an der Grenze zu Guatemala, wie Chicomuselo, Comalapa und El Porvenir. „Es geht einerseits um Drogenrouten, aber auch um Migrant*innen zu schleusen, denn Chiapas liegt ja an der Grenze zu Guatemala und es kommen sehr viele Migrant*innen hier durch“, erklärt Sánchez. „Es geht also um die Kontrolle des Territoriums und der Bevölkerung. Deshalb sagen wir, dass in Chiapas Krieg herrscht. Es kommt auch zu Tötungen, zu gewaltsamem Verschwindenlassen, zu Zwangsrekrutierung, aber auch zu Abschaltungen von Strom und Internet.“
Unter ihrem Kampf um die Vorherrschaft leiden die ortsansässigen Familien. Die bewaffneten Gruppen belagern ihre Gemeinden, blockieren Straßen und verhängen Ausgangssperren. Besonders betroffen ist das Grenzgebiet zwischen Chiapas und Guatemala. Patricia Domínguez von Frayba hat vor Ort recherchiert: „Seit 2021 ist die Gewalt in dieser Zone angestiegen. Wir konnten die Vertreibung von 400 Familien dokumentieren, das sind etwa 2000 Menschen. Mit der Vertreibung kommt es auch zu weiteren Menschenrechtsverbrechen, wie gewaltsames Verschwindenlassen und Ermordungen.“
Ignoranz und Gleichgültigkeit der Behörden
Auch die Koordinatorin des Netzwerks Deutsche Menschenrechtskoordination Mexiko, Françoise Greve, hat festgestellt, dass die Gewalt in Chiapas insbesondere in den vergangenen zwei Jahren extrem zugenommen hat. Eigentlich sei es Aufgabe des Staates, die Bevölkerung zu schützen, betont Greve. Doch „die Rolle der Regierung des Bundesstaats Chiapas und der mexikanischen Regierungsstellen und Behörden zeichnet sich vor allem durch fehlende Anerkennung der existierenden Gewalt, durch Schweigen über die verantwortlichen Akteure und durch Duldung und Unterlassung aus“, kritisiert sie. Dadurch seien die staatlichen Stellen für die gestiegene Gewalt mitverantwortlich.
„Indigene Gemeinden werden von bewaffneten Gruppen angegriffen und belagert, was dann wiederum zu gewaltsamer interner Vertreibung bis zu mehreren tausend Personen führt“, so Greve. „In einigen Fällen haben die Bewohner*innen der angegriffenen Gemeinden die Nationalgarde um Hilfe und Intervention angefleht. Diese antwortete nicht und tauchte, wenn überhaupt erst Tage später auf. Die Ignoranz und Gleichgültigkeit der staatlichen Behörden steigern das Misstrauen der Bevölkerung in die Institutionen.“
Paradoxerweise sind Militär und Nationalgarde gerade in Chiapas zunehmend präsent. „Weitere Kasernen sind in Planung“, so Greve, „wogegen sich Widerstand in einigen Gemeinden regt, der wiederum zur Kriminalisierung der Protestierenden führt.“
Armee und Nationalgarde sorgen nicht für Sicherheit
„Die größte Kaserne von Chiapas ist ausgerechnet in Chicomuselo, auch die Nationalgarde ist dort stationiert“, sagt
Lázaro Sánchez. Das liegt seiner Meinung nach auch an einer Barytmine, die laut Frayba dort illegal operiert. Trotz der Anwesenheit des Militärs „herrscht Unsicherheit, es kommt zu Menschenrechtsverletzungen und es gibt generell viel Gewalt.“. Bei der Präsenz der bewaffneten Gruppen gehe es „um die Kontrolle über die Transitrouten, aber auch darum, das soziale Netz zu zerstören und dafür zu sorgen, dass die Unternehmen weiter operieren können. Der mexikanische Staat hat das Gebiet daraufhin militarisiert; wir sprechen von einer „Remilitarisierung“ von Chiapas. Aber obwohl der Staat Chiapas remilitarisiert hat, hat die Gewalt zugenommen. Ausgerechnet Armee und Nationalgarde sorgen nicht für Sicherheit.“
Der mexikanische Staat brauche eine andere Strategie, fordert Sánchez. „Und vor allem muss ihm klar werden, dass in Chiapas ein Kriegszustand herrscht. Aber stattdessen sagt Präsident López Obrador, dass in Chiapas alles in Ordnung sei! Und indem er das sagt, sind wir, die wir den Mund aufmachen, zusätzlich in Gefahr. Denn es wurden auch schon Leute, die die Gewalt in Chiapas angeprangert haben, umgebracht.
Einer der Ermordeten ist Simon Pedro, führendes Mitglied der Abejas de Acteal. Er wurde am 5. Juli 2021 durch einen Kopfschuss getötet. Andere Aktivisten wurden unter fadenscheinigen Gründen inhaftiert. Die Situation in Chiapas ist für Menschenrechtsaktivist*innen sehr gefährlich geworden. Mit ihrer Reise nach Europa wollen die Mitglieder von Frayba auf die Notlage aufmerksam machen: „Es muss sichtbar gemacht machen, dass in Chiapas ein Krieg stattfindet. Und diesen Krieg muss der mexikanische Staat stoppen.“ Dafür hoffen die mexikanischen Aktivist*innen auf die Unterstützung durch die deutsche und europäische Zivilgesellschaft: „Wenn es in Chiapas eine Kampagne oder eine Eilaktion gibt, sollte die Zivilgesellschaft in Europa diese sichtbar machen und Druck auf ihre Regierungen ausüben. Auch die europäischen Unternehmen, die in Mexiko investieren, könnten bei Menschenrechtsverletzungen Druck auf Mexiko ausüben. Und schließlich muss es Ermittlungen geben. Wer sind die bewaffneten Gruppen, wer ist dafür verantwortlich? Die Familien müssen entschädigt werden. Und es muss garantiert werden, dass so etwas nicht wieder passiert!“
Gewalt vor den Wahlen am 2. Juni befürchtet
Am 2. Juni 2024 stehen in Mexiko Präsidentschafts- und Kommunalwahlen an. Menschenrechtsorganisationen weisen auf das Risiko steigender Gewalt in den nächsten Monaten hin. „Die deutsche Regierung sollte sich aktiv für den Schutz von Menschenrechtsverteidiger*innen und Journalist*innen gegenüber der mexikanischen Regierung einsetzen“, fordert Françoise Greve von der Deutschen Menschenrechtskoordination Mexiko: „Das wäre eine konsequente Umsetzung der feministischen Außen- und Entwicklungspolitik.“
Mit über 2.000 deutschen Firmen in Mexiko sei Deutschland ein wichtiger Partner Mexikos, so Greve: „Deutschland hat eine Verantwortung, sich bei Regierungsverhandlungen, wirtschaftlichen Kooperationen, auf diplomatischem Wege aber auch in der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit gezielt für die Einhaltung internationaler Menschenrechtsstandards einzusetzen.“
Wichtig dabei sei, die mexikanische Zivilgesellschaft einzubeziehen, Unterstützung sichtbar zu machen und sie zu unterstützen. Und schließlich sollten auch die deutschen Medien lateinamerikanische Länder wie Mexiko nicht aus dem Blick verlieren – trotz der aktuellen geopolitischen Lage. „Jetzt, wo so viel Gewalt herrscht in Chiapas, in Mexiko und in der Welt, müssen wir für den Frieden kämpfen“, sagt Lázaro Sánchez von Frayba zum Abschluss: „Wir wollen keinen Krieg.“
Zu diesem Artikel gibt es auch einen Podcast bei Radio onda.
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