von Wolf-Dieter Vogel
(Berlin, 10. Oktober 2014, taz).- Für die Angehörigen der verschwundenen Studenten im südmexikanischen Bundesstaat Guerrero war die Nachricht ein neuer Schock: Wieder wurden vier Gräber gefunden, in denen wohl die Leichen ihrer Söhne, Brüder oder Cousins liegen.
Und einmal mehr müssen ihnen die Worte des Präsidenten Enrique Peña Nieto wie Hohn erscheinen. Schockierend, schmerzhaft und inakzeptabel seien die Vorfälle, ließ der Staatschef schon nach dem Fund der ersten Massengräber am vergangenen Wochenende wissen. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Angehörigen bereits acht Tage nach jenen 43 jungen Männern gesucht, die seit einem Angriff von Polizisten und Mafia-Killern Ende September verschwunden waren.
Kein einziger hoher Regierungsvertreter war bis dato gekommen, um mit den Müttern, Vätern und Geschwistern zu sprechen. Die Angehörigen selbst waren es, die Zeug*innen befragten und Fotos auswerteten. Ihre Proteste sorgten dafür, dass der blutige Vorfall nicht, wie so viele Verbrechen, in Vergessenheit geriet. Die Regierung hatte wieder den „Weg der Straflosigkeit und des Verschleierns“ eingeschlagen.
Gemeinsame Sache von Polizei und Mafia
Noch muss eine DNA-Untersuchung bestätigen, ob die bislang gefundenen Leichen tatsächlich jene Männer sind, die am 27. September nach einem Angriff auf die Studenten der pädagogischen Fachschule Ayotzinapa verschleppt wurden. Sechs Menschen starben damals, von 43 Studenten fehlte jede Spur, bis ein Polizist und ein Killer der kriminellen Organisation Guerreros Unidos (Vereinigte Krieger) die Ermittler*innen zu den ersten Gräbern führten, in denen die 28 Leichen lagen. Klar ist: Der örtliche Chef der Guerreros Unidos hat die Morde angeordnet, und offensichtlich ging der Befehl, die Studenten festzunehmen, von Igualas Bürgermeister und dessen Frau aus.
Dass lokale Polizist*innen, Politiker*innen und die Mafia gemeinsame Sache machen, ist nicht neu. Jeder in Guerrero weiß das. Daran änderte die Mobilisierung der Armee nichts, die der ehemalige Staatschef Felipe Calderón im Rahmen seines „Krieges gegen die Mafia“ in Gang gesetzt hatte.
Das korrupte Geflecht blieb von der Präsenz der Soldaten unberührt. Nicht anders sieht es aus, seit Peña Nieto vor knapp zwei Jahren die Präsidentschaft übernommen hat. Weiterhin sterben täglich Menschen im „Drogenkrieg“, die Zahl der Verschwundenen nimmt zu. Allein 2013 waren es 3.000, 246 geheime Gräber wurden in Peña Nietos Amtszeit gefunden. Er hat zwar einen Rückzug der Armee angekündigt, davon ist aber in Guerrero nichts zu sehen.
Neue Taktik der Kriminellen
Geändert hat sich das Vorgehen der Kriminellen: Früher kämpften die Banden untereinander um Transportrouten und Anbauflächen für Drogen. Inzwischen gehen sie immer stärker gegen die Bevölkerung vor, kassieren Schutzgeld, vergewaltigen Frauen.
Gruppen wie die „Vereinten Krieger“ sind mehr denn je in lokale Geschäfte wie illegalen Holzschlag oder Eisenerzabbau eingebunden. Im Auftrag korrupter Politiker*innen und heimischer Unternehmer*innen greifen sie gezielt Kritiker*innen an. Das verweist auf eine Paramilitarisierung, wie man sie sonst aus Kolumbien kennt.
Hier ist der Hintergrund für das Massaker zu suchen. Die rebellischen Ayotzinapa-Studenten sind den Mächtigen in der Region lästig. Gilt es, Indigene gegen ein Bergbauprojekt zu verteidigen, sind sie als erste mit dabei. Wird ein linker Aktivist verhaftet, stehen sie auf der Straße. Sie sehen sich in der Tradition der zahlreichen Aufständischen Guerreros. Auch deshalb zeigte die Bundesregierung nie Interesse, das Internat zu erhalten. Immer wieder gab es Versuche, Ayotzinapa zu schließen.
Verhaftung nach Bedarf
Wenn Peña Nieto nun Bundespolizist*innen und Soldaten geschickt hat und lokale Beamte entwaffnen und verhaften ließ, ist das vor allem der großen internationalen Empörung über den Fall geschuldet. Sogar die UNO hatte mehr Initiative gefordert.
Der Staatschef steht unter Druck und muss Erfolge zeigen. In diesem Licht wirft auch die plötzliche Verhaftung zweier tatsächlich wichtiger Drogenbosse Fragen auf. Just heute ging den Fahndern der Capo Vicente Carillo Fuentes ins Netz, vor zehn Tagen erwischte es Héctor Beltrán Leyva. Offensichtlich hängt die Regierung so eng an der Mafia, dass sie je nach Bedarf zuschlagen kann. Oder nicht. Alles ist Verhandlungssache.
Die jüngsten Verhaftungen ändern freilich nichts an der prekären Lage für die Menschen in Guerrero. Mafia-Organisationen sind moderne Unternehmen, jeder ist ersetzbar. Sobald das Rampenlicht erloschen ist, wird sich in der Regierung niemand mehr für die Toten aus Iguala interessieren.
2011 erschossen Polizisten zwei Ayotzinapa-Studenten, bis heute sind die Täter nicht strafrechtlich verfolgt worden. Nur zwei Prozent aller Verbrechen in Mexiko werden aufgeklärt.
Der Krieg geht indes weiter, letztes Jahr wurden allein in Guerrero 2.100 Menschen ermordet. Für die Bevölkerung in dem verarmten Bundesland heißt das: Noch mehr Tote, noch mehr Verschwundene, noch mehr Angst vor den Uniformierten und Kriminellen, die schon jetzt das Straßenbild vieler Dörfer dominieren. Auf Hilfe von Außen werden sie dann wieder vergeblich warten.
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