Deutsche Ausgabe des wöchentlichen Pressedienstes lateinamerikanischer Agenturen Nr. 380 vom 23. April 1999
Inhalt
MEXIKO/USA
MEXIKO
NICARAGUA
GUATEMALA
EL SALVADOR
HONDURAS
DOMINIKANISCHE REPUBLIK
ARGENTINIEN
CHILE
KOLUMBIEN
VENEZUELA
LATEINAMERIKA
MEXIKO/USA
Politisches Asyl für Soldat mit Gewissen
(El Paso, Texas/Mexiko-Stadt, 19. April 1999, na/pulsar-Poonal).- Der mexikanische Hauptmann Jesús Valles erhielt politisches Asyl in den USA. Bei seiner Anhörung vor einer us-amerikanischen Migrationsrichterin gab er an, im Januar 1994 in der Militärzone 30 im chiapanekischen Nachbarbundesstaat Tabasco stationiert gewesen zu sein. Damals sei ihm nach dem Aufstand der EZLN befohlen worden, Personen aus dem benachbarten Landkreis Ocosingo, die unter dem Verdacht standen Zapatisten zu sein, direkt hinzurichten anstelle sie festzunehmen. Zusammen mit zwei anderen Soldaten habe er sich geweigert. „Ich habe vorher in Chiapas gedient. Ich lernte von dem Leben der Indígenas dort. Sie leben nur von dem, was sie anbauen und trotzdem teilten sie ihre Lebensmittel mit uns“, so Valles vor der Richterin.
Der Hauptmann machte den General Luis Humberto Portillo direkt für die Ermordung von fünf Zapatisten sowie mehrerer Zivilisten, die sich im Krankenhaus von Ocosingo befanden, verantwortlich. Weder der General noch die den Mordbefehl ausführenden Soldaten sind zur Rechenschaft gezogen worden. Jesús Valles desertierte kurze Zeit später, nachdem er von anderen Militärs bedroht wurde. Im Februar 1995 flüchtete er zusammen mit seiner Frau über die Grenze nach Texas.
In seinem Antrag auf politisches Asyl zitierte er verschiedene Dokumente und das Zeugnis des mexikanischen Wissenschaftlers Samuel Schmidt, der nach Drohungen der Regierung sein Heimatland verließ und heute an der Universität von Texas arbeitet. Die Richterin kam zu dem Schluß, daß „es Gründe gibt, anzunehmen, daß die mexikanische Regierung unschuldige Zivilisten ermordete und eine unterdrückerische Militäraktion (in Chiapas) unternahm“. Valles habe „begründet Angst vor Verfolgung“ aufgrund seiner Befehlsverweigerung.
Das US-Außenministerium hatte sich gegen das Asyl für den mexikanischen Militär ausgesprochen. Der Hauptmann ist der erste Mexikaner, der politisches Asyl erhielt, weil er sich weigerte, seine Landsleute umzubringen. Seit Ende der 80er Jahre haben etwa 61.000 mexikanische Bürger*innen einen Antrag auf politisches Asyl in den USA gestellt. Bewilligt wurde es jedoch nur in wenigen Fällen.
MEXIKO
Zapatisten wollen weiteres Treffen mit Zivilgesellschaft
(San Cristóbal, 18. April 1999, pulsar-Poonal).- Die EZLN hat über ihren Sprecher Subcomandante Marcos zu einem zweiten Treffen mit der Zivilgesellschaft innerhalb weniger Monate aufgerufen. Das erste Treffen war im November vergangenen Jahres in San Cristobal abgehalten worden und hatte überraschend viele Teilnehmer*innen angezogen. Dort waren die Grundlagen für die landesweite Befragung der Zapatisten vom 21. März dieses Jahres gelegt worden (vgl. dazu zurückliegende Poonalausgaben), an der sich mehr als zweieinhalb Millionen Menschen beteiligten. Nun sollen die nächsten Schritte besprochen werden, um die Regierung zum Einhalten der 1996 geschlossenen Abkommen von San Andrés zu zwingen.
StudentInnenproteste I – UNAM liegt lahm
(Mexiko-Stadt, 22. April 1999, Poonal).- Die mexikanischen Student*innen bestreiken seit Anfang der Woche die Autonome Nationaluniversität(UNAM). Inzwischen sind jegliche Vorlesungen und Seminare ausgesetzt. Grund für die Proteste ist die vorgesehene drastische Erhöhung der Studiengebühren, die Rektor Francisco Barnés offenbar um jeden Preis durchsetzen will. Bisher waren die Studiengebühren eher symbolisch und betrugen umgerechnet kaum zehn Pfennig. Der plötzliche Anstieg auf 100 bis 120 DM pro Semester ist nicht nur nach Ansicht der überwältigenden Mehrheit der Student*innen ausreichend, vielen jungen Leuten aus ärmeren Schichten den Zugang zur Uni zu verwehren. Andererseits ist die angeführte Finanzmittelknappheit der UNAM kein überzeugender Grund für den Anstieg. Mit den Gebühreneinnahmen wären nur etwa ein Prozent des Universitätsetats gedeckt.
Viele fürchten zudem, der mit Regierung abgestimmte Gebührenvorstoß könne ein weiterer Schritt des Staates sein, den Bildungsbereich zunehmend dem Privatsektor zu überlassen. Dies erklärt zum Teil, warum es nach monatelangen Diskussionen doch noch zu einer großen Streikbewegung kam. Rektor und Regierung können hoffen, daß die Aktionen der Protestierenden aufgrund fehlender Mittel und konkurrierender StudentInnenverbände nicht von langer Dauer sind. Aber bereits Ende der 80er Jahre entwickelte ein Streik an der UNAM eine Eigendynamik, die den damals amtierenden Rektor Carpizo schließlich seinen Posten kostete.
NICARAGUA
StudentInnenproteste II – ein Todesopfer
(Managua, 21. April 1999, pulsar-Poonal).- Proteste der Student*innen für eine bessere Mittelversorgung der Hochschulen haben ein erstes Todesopfer und drei Verletzte gefordert. Bei der Besetzung der nicarguanischen Zentralbank schossen Polizei und Sicherheitspersonal scharf. Der 19jährige Roberto González kam dabei ums Leben. Eine Polizeisprecherin ließ verlauten, der Tod von González werde untersucht, machte aber gleichzeitig deutlich, die Einsatzkräfte seien unschuldig. Die Proteste für ein höheres Universitätsbudget dauern nun bereits eine Woche an. In dieser Zeit sind mehr als 100 Student*innen verhaftet worden. Die Regierung beschuldigt die oppositionellen Sandinisten, die Aktionen anzuführen.
GUATEMALA
Militär durchsucht Haus von kirchlichem Menschenrechtler
(Guatemala-Stadt, 19. April 1999, pulsar-Poonal).- Mitglieder der Streitkräfte drangen ohne richterliche Erlaubnis in das Haus von Ronalth Ochaeta ein und durchsuchten es 40 Minuten lang. Ochaeta ist Leiter des erzbischöflichen Menschenrechtsbüros. Seit dem 8. April hatte nach seinen Angaben einer der drei bewaffneten Soldaten sein Haus bereits beobachtet. Die Eindringlinge nahmen vier Reisepässe und Medikamente mit. Neben anderen verurteilte der staatliche Menschenrechtsbeauftragte Julio Arango den Vorgang scharf. Er brachte ihn mit der Menschenrechtsarbeit von Ochaeta und besonders mit dem Fall des ermordeten Bischofs Juan Gerardi in Verbindung. Das erzbischöfliche Menschenrechtsbüro sieht die Mörder in den Reihen der Militärs. Am 26. April jährt sich der Mord an dem Bischof, ohne daß die Hintergründe des Verbrechens aufgeklärt sind.
Budgeterhöhung ist der Opposition verdächtig
(Guatemala-Stadt, 9. April 1999, cerigua-Poonal).- Gegen die Proteste der Oppositionsparteien hat die regierende konservative Partei der Nationalen Vorhut (PAN) mit ihrer Parlamentsmehrheit staatliche Mehrausgaben von mehr als drei Milliarden Quetzal (knapp 430 Millionen US-Dollar) gebilligt. Damit beträgt das Gesamtbudget 21,3 Milliarden Quetzal. Dies ist eine Steigerung von über zehn Prozent gegenüber dem Vorjahr. Die zusätzlichen Gelder sollen aus dem kürzlichen Verkauf mehrerer Staatsunternehmen aufgebracht und vornehmlich für die Tilgung der Inlandsschuld und die Verbesserung der ländlichen Infrastruktur verwendet werden, heißt es im Parlamentsbeschluß. Die Opposition vermutet, das Geld werde speziell für öffentliche Arbeiten eingesetzt, welche die Popularität der PAN rechtzeitig für die allgemeinen Wahlen im kommenden Herbst steigen lassen. Die PAN kontert, vor der Kritik solle die Opposition die Probleme der Armen auf dem Land kennenlernen. Die Kritiker wiederum antworten, sie würden sich nicht gegen größere Sozialausgaben aussprechen. Aber „mehr als drei Milliarden Quetzales in weniger als neun Monaten (zusätzlich) auszugeben, das erweckt Verdacht“, so der Wirtschaftsexperte Pablo Rodas Martini. „Die Regierungspartei läuft Gefahr, ungeordnete Ausgaben zu tätigen“.
Zusammenschluß will Druck auf Regierung ausüben
(Guatemala-Stadt, 13. April 1999, cerigua-Poonal).- 43 Organisationen haben sich zusammengetan, um den Staat zu zwingen, den Empfehlungen der Wahrheitskommission bezüglich der Verbrechen des 36jährigen internen Krieges zu folgen. Sie entschieden sich zu diesem Schritt angesichts der lauwarmen Reaktion der Regierung auf den am 25. Februar veröffentlichten Report. Menschenrechtsgruppen, StudentInnen- und Maya-Organisationen, Anwaltsvereinigungen, mehrere Handelsverbände und UNICEF trafen sich auf Einladung des staatlichen Menschenrechtsbeauftragten. Jetzt sollen in einer landesweiten Initiative Komitees gebildet werden, welche die Empfehlungen in die Realität durchzusetzen versuchen. Die Regierung unter Präsident Alvaro Arzú hatte in einer Zeitungsanzeige in eigener Sache mehrere Empfehlungen der Wahrheitskommission zurückgewiesen.
EL SALVADOR
Umweltsündern in der Hauptstadt wird eins gepfiffen
(San Salvador, 16. April 1999, alpress-Poonal).- Die Salvadoreanische Industriellenvereinigung, die Kommune von San Salvador und die Zentralregierung wollen künftig nach einer Pfeife tanzen. Die Einigkeit beschränkt sich allerdings auf das Vorgehen gegen das Müllproblem in der Hauptstadt. Mit der Kampagne „Pfeife gegen den Müll“ soll die Bevölkerung sensibilisiert werden, damit sie den Abfall nicht überall in der Stadt verteilt. Schüler*innen und Pfadfinder*innen werden, so ist die Idee, künftig eine Pfeife ertönen lassen, wenn sie Mitbürger*innen überraschen, die an nicht dafür vorgesehenen öffentlichen Plätzen ihren Müll entsorgen. Es muß nicht nur bei der öffentlichen Bloßstellung und moralischen Strafe bleiben. Eine unkorrekte Abfallbeseitigung ist im Gesetz als Delikt eingestuft. Die Kampagne ist Teil eines größer angelegten Programmes der Kommune, um das Müllproblem anzugehen. In San Salvador und dem Hauptstadt-Umland werden tagtäglich 1.500 Tonnen Abfall produziert, für die es bisher keine ausreichende Entsorgungsmöglichkeit gibt. Da wird es ausreichen, wenn sich die Hauptstadtbewohner*innen gegenseitig verpfeifen.
HONDURAS
Militärische Maßnahmen gegen Mitch-Opfer
(Tegucigalpa, 16. April 1999, comcosur-Poonal).- Etwa 1.000 durch den Hurrikan Mitch obdachlos gewordene Personen haben vergeblich versucht, staatliches Land zu besetzen. Sie wurden von den Militärs geräumt. Auf dem Grundstück operierte früher ein von den USA gegründetes Bataillon, das unter anderem salvadoreanische Soldaten für den Kampf gegen die Guerilla ausbildete. Die gescheiterten Landbesetzer*innen müssen nun schon fünf Monate ohne nennenswerten Schutz im Freien leben.
DOMINIKANISCHE REPUBLIK
Karibikstaaten wollen enger zusammenrücken
(Santo Domingo, 19. April 1999, pulsar-Poonal).- Am vergangenen Sonntag ging das zweite Gipfeltreffen der Vereinigung der Karibikstaaten zu Ende. Im Mittelpunkt standen die Bemühungen um eine stärkere wirtschaftliche Integration. So soll es bald eine gegenseitige Zollpräferenz geben. Nach dem MERCOSUR und dem Andenpakt wollen die Karibikstaaten mittelfristig der dritte Wirtschaftsblock Lateinamerikas werden. In Santo Domingo waren 27 Staatschefs anwesend, deren Länder entweder Inseln sind oder eine Karibikküste haben.
ARGENTINIEN
Frauenhändlerring aufgeflogen
(Buenos Aires, 19. April 1999, pulsar-Poonal).- In einer anderthalb Jahre währenden Untersuchung deckte der Richter Pablo Bruno einen großen Frauenhändlerring auf. Mit falschen Versprechungen in Zeitungsanzeigen wurden etwa 4.500 Frauen aus der Dominikanischen Republik nach Argentinien gelockt. Ihnen wurde eine Arbeit als Hausangestellte oder Kindermädchen in Buenos Aires bei einem monatlichen Lohn von 500 Dollar zugesagt. Stattdessen wurden sie nach ihrer Ankunft zur Prostitution gezwungen und bekamen 1 Dollar pro Kunde bezahlt. Der Skandal wird wahrscheinlich weitere Kreise ziehen. Neben sieben Geschäftsleuten sollen zwei kommunale Inspektoren, mehrere Funktionäre der argentinischen Einwanderungsbehörde sowie ein Bundesrichter an dem Menschenhaldelsring beteiligt gewesen sein.
Dokumente über Antisemitismus unter der Diktatur
(Buenos Aires, 20. April 1999, pulsar-Poonal).- Sieben Menschenrechtler*innen und Angehörige jüdischer Einrichtungen präsentierten gegenüber dem spanischen Richter Baltasar Garón Dokumente über die Verfolgung und Ermordung von Juden unter der argentinischen Militärdiktatur (1976-1984). Mehrere hundert Fälle werden darin detailliert beschrieben. Nach den Angaben der Zeug*innen gingen die Schergen der Militärs besonders grausam gegen ihre Opfer vor, wenn es sich um Juden handelte. Sie weisen ebenso darauf hin, daß der Anteil der in Argentinien wohnenden jüdischen Bevölkerung ein Prozent ausmachte, der jüdische Anteil bei den Gefolterten, Verschwundenen und Ermordeten aber zwölf Prozent betrug. Die besondere Verfolgung von Juden soll Teil der berüchtigten Operation Condor gewesen sein, mit der die Zusammenarbeit der südamerikanischen Militärdiktaturen geregelt wurde. In den Folterzentren der argentinischen Diktatur hingen nicht selten Nazisymbole und Fotos von Adolf Hitler an den Wänden. Der Bericht der Menschenrechtler*innen führt die Namen von 30 Militärs auf und spricht von 27 Folterzentren.
CHILE
Tapfere Militärs
(Santiago de Chile, 19. April 1999, na/ips-Poonal).- Zwei mehr als 70jährige Schwestern von der Ethnie der Pehuenches stehen vor einem Militärgericht in Chillán, gut 400 Kilometer im Süden der Hauptstadt Santiago gelegen. Die Organisation Lateinamerikisches Beobachtungszentrum über Umweltkonflikte bezeichnet den Prozeß als nicht hinnehmbar. Berta und Nicolasa Quintremán sollen zusammen mit anderen Pehuenches das Verbrechen begangen haben, Polizisten tätlich angegangen zu haben. Die beiden gehören einer Gruppe aus der Region Alto Bio-Bio an, die sich gegen den Bau des Wasserkraftwerkes Ralco wehrt. Im Februar kam es zu Zusammenstößen mit der Polizei, als Indígenas und Umweltschützer*innen den Eingangsweg zu der Baustelle blockierten.
Zensur gegen Schwarzbuch der Justiz
Von Viviana Erazo
(Santiago de Chile, 16. April 1999, fempress-Poonal).- Zwei Tage nach seinem Erscheinen wurde das von der Journalistin Alejandra Matus geschriebene und beim Verlag Planeta erschienene „Schwarzbuch der chilenischen Justiz“ auf Beschluß der Berufungskammer in Büchhandlungen und beim Verlag selbst beschlagnahmt. Am Morgen des 15. April erwachten die Chilenen mit der Nachricht, daß der englische Minister Jack Straw die Eröffnung des Auslieferungsverfahrens gegen den ehemaligen General Pinochet in Spanien genehmigt habe. Gleichzeitig verkündigten die Nachrichten die Beschlagnahme des Buches, das dem Publikum weniger als 24 Stunden in den Buchhandlungen zum Kauf angeboten werden konnte.
Der Gerichtsbeschluß basiert auf einer Klage des ehemaligen Gerichtshofspräsidenten und Ministers Servando Jordán. Die Beschlagnahme wurde aufgrund des Gesetzes zur inneren Sicherheit beschlossen, welches vorsieht, das „jegliche Veröffentlichung, die diesem Gestz widerspricht“ beschlagnahmt werden könne. Der relevante Artikel, auf den sich das Gericht stützt, droht denjenigen Strafe an, „die den Präsidenten der Republik, die Minister, Senatoren oder Abgeordneten, die Mitglieder der obersten Gerichtshöfe, die Oberbefehlshaber der Streitkräfte oder den Chef der Polizei diffamieren, beleidigen oder verleumden“.
Die Autorin Alejandra Matus hat in Chile als Journalistin für die Tageszeitungen „La Epoca“, „La Nación“ und „La Tercera“ gearbeitet. 1996 erhielt sie in Spanien den „Ortega y Gasset-Preis“ für eine Reportage über die Ermordung des ehemaligen Ministers der Allende-Regierung, Orlando Letelier, der 1976 in Washington bei einem Bombenanschlag getötet wurde. In dem vorliegenden Buch stellt die Journalistin verschiedene historische Momente der chilenischen Justiz dar. Sie erzählt von einigen Fällen mit bisher nicht veröffentlichten Fakten aus den Tagen der Justizverwaltung unter dem Militärregime bis heute. Mehrere Minister und Justizfunktionäre werden dabei sowohl in ihrer öffentlichen wie privaten Rolle in Frage gestellt.
Der Planeta-Verlag veröffentlicht das Matus-Buch in einer vor einigen Jahren ins Leben gerufenen Reihe über investigativen Journalismus. Die Vorladung vor Gericht veranlaßte Alejandra Matus, sofort nach Buenos Aires zu reisen und die Aufforderung des Gerichts zurückzuweisen. „Es erscheint mir traurig, daß wir Journalisten in unserem Land nicht die Wahrheit sagen können. Wir sind ein Beispiel für die Zwangsjacke, die wir übergezogen haben,“ erklärt sie.
Der Generaldirektor von Planeta, Carlos Orellana, findet es „erstaunlich, daß eine Justiz, die sonst so lange für ihre Prozesse benötigt, in diesem Fall nicht einmal 24 Stunden braucht, um zu reagieren.“ Es handele sich „um eine skandalöse Verletzung des Rechts auf freie Meinungsäußerung, die vor allem deshalb so schwerwiegend ist, weil sie sich innerhalb dessen ereignet, was gemeinhin die chilenische Modernität genannt wird,“ fügt er hinzu. Der Verlag erklärte seine Solidarität mit der Autorin und erklärte, er werde sie sowohl persönlich wie rechtlich voll und ganz unterstützen.
Auch der Präsident der chilenischen Buchhandelskammer erklärte sein Mißfallen, da es sich hier um einen Fall von vorgezogener Zensur handele, die nicht einmal ein grundlegendes Studium des Falls erlaubt habe. Für das Land sei dies ein schwerwiegender Einschnitt, da die chilenische Justiz gerade jetzt von aller Welt beobachtet werde. Der Nationalrat des Journalistenkollegs verkündete seine Ablehnung der Sicherungsmaßnahme, da sie das Recht aller auf Information und Meinungsäußerung verletze. Dem Rat zufolge dürfe eine Regierung, die ein so fundamentales Recht wie das auf Information ohne Zensur nicht respektiere, nicht länger im Amt bleiben. Am gleichen Tag, an dem viele Chilenen und Chileninnen auf die Straßen gingen, um die Entscheidung von Minister Straw zu feiern, zogen andere vor den Justizpalast, um für die Meinungsfreiheit einzutreten.
KOLUMBIEN
Guerilla macht Dialog weiterhin von Maßnahmen gegen Paramilitärs abhängig –
Bomben gegen Rebellen und Geiseln nach Flugzeugentführung
Von Raul Zelik
(Bogotá/Berlin, 22. April 1999, npl-Poonal).- Äußerst zurückhaltend bewertet die kolumbianische Guerilla das jüngste Treffen mit Regierungsvertretern Mitte dieser Woche. „Wir wollten keine neue Dialogrunde eröffnen, sondern seitens der Regierung Beweise sehen, daß sie endlich effektiv gegen die Paramilitärs vorgeht,“ erklärte Raul Reyes, Sprecher der größten Rebellengrupe FARC. Einziges konkretes Ergebnis: Am Wochenende sollen die Vorgespräche über Friedensverhandlungen fortgeführt werden.
Die FARC hatte die im Januar aufgenommenen Gespräche kurz nach Beginn für drei Monate ausgesetzt, nachdem paramilitärische Gruppen innerhalb einer Woche über 200 Zivilisten ermordet hatten, denen sie Sympathie mit der Guerilla vorwerfen. Die FARC hält Regierung und Armee vor, die Aktivitäten dieser Todesschwadrone zu dulden und legte Dokumente über die Hintermänner des schmutzigen Kriegs vor. Präsident Andres Pastrana entließ daraufhin zwei Generäle, denen die Guerilla Verbindungen zu den Paramilitärs vorwirft. Selbst das US-Außenministerium, das die kolumbianischen Militärs jährlich mit 400 Millionen US-Dollar unterstützt, räumte kürzlich ein, daß „Armeekommandanten vor Ort offenbar taktische Vereinbarungen mit den paramilitärischen Gruppen getroffen haben“.
Bis zum Wochenende will die FARC den Regierungsbericht über ihr Vorgehen gegen die Paramilitärs prüfen. Pastrana, dessen Beliebtheit nach den ersten Erfolgen bei den Friedensgesprächen inzwischen wieder abnimmt, steht unter erheblichem Druck – sein Schicksal ist mit dem Fortgang der Verhandlungen verknüpft. Weder die militärisch starke Guerilla noch die Armee und die konservative Elite Kolumbiens wollen Zugeständnisse machen. Hinzu kommen wirtschaftliche Schwierigkeiten: Laut Regierung ist die Industrieproduktion im ersten Quartal 1999 um 18 Prozent zurückgegangen, die Arbeitslosigkeit hat die Rekordmarke von 19 Prozent erreicht. Gegen die Sparpolitik Pastranas haben Lehrer und Staatsangestellte einen unbefristeten Streik begonnen.
Trotz Dialogversuchen wird der 40 Jahre andauernde Bürgerkrieg unvermindert fortgesetzt. Über 100.000 Menschen fielen bislang der Gewalt zum Opfer, eineinhalb Millionen befinden sich im Land auf der Flucht.
Noch schwieriger gestalten sich die Verhandlungen mit der zweiten großen Guerillaorganisation ELN, nachdem diese vergangene Woche ein Flugzeug kaperte und über 30 Insassen entführte. Die Tat, die ob ihrer neuen Qualität im Kampf heftige Kritik auslöste, hat auch symbolischen Gehalt, da die ELN noch vor kurzen als „militärisch geschlagen“ bezeichnet wurde. Auch hatte die Armee verkündet, das Gebiet, in dem sich die Entführten jetzt befinden und wo 80 Prozent der kolumbianischen Goldvorkommen vermutet werden, sei unter ihrer Kontrolle.
Laut Zeitungsberichten eskaliert die Situation, da es der Armee nicht gelingt, die Stellungen der ELN-Rebellen zu erobern. Die Tageszeitung Vanguardia Liberal berichtet, die kolumbianische Luftwaffe habe begonnen, die Region zu bombardieren. Sowohl die Angehörigen der Entführten als auch der Gouverneur der Provinz Santander forderten dem Bericht zufolge die sofortige Einstellung der Bombenangriffe.
Friedensgemeinschaften – neutrale Gebiete inmitten des Konfliktes
(Bogotá, 31. März 1999, ac-Poonal).- Der 23. März war ein besonderer Tag für das Dorf San José, das zur Gemeinde Apartadó in der Konfliktregion Urabá gehört. Rund 1.300 Personen, die im dem Dorf und im Weiler La Unióin leben, feierten den zweiten Jahrestag als „Friedensgemeinde“. Die Idee, sich als solche zu erklären, war inmitten des Konfliktes zwischen Regierung und Guerilla aufgrund der ständigen Drohungen seitens der bewaffneten Akteure entstanden. Sie hat sich trotz der dauernden Verleumdungen und der Ermordung von 59 Mitgliedern der Friedensgemeinschaft erhalten.
In den ersten Monaten des Jahres 1997 flohen hunderte von Bauern der ländlichen Gebiete von San José aufgrund der Angriffe von Paramilitärs, die von der Armee unterstützt wurden, wie es die Bewohner*innen dieser Gemeinschaft wiederholt anklagten. San José liegt 12 Kilometer von Apartadó entfernt in den Hügeln der Serranía de Abibe, einem der Ausläufer der kolumbianischen Westkordillere.
Unterstützt von einer Pastoralgruppe der Organisation Justicia y Paz erklärten sich die Bewohner*innen zur Friedensgemeinschaft und verteidigen seither ihre Neutralität. In einem genau bestimmten Gebiet haben sie den bewaffneten Akteuren – Guerilla, Paramilitärs und Armee – den Zutritt untersagt. Mitglied der Friedensgemeinschaft zu sein, bedeutet, auf Distanz zu den bewaffneten zu gehen sich für die Autonomie der Gemeinschaft einzusetzen. Diese Haltung hat der Friedensgemeinschaft Anschuldigungen der Kriegsparteien eingetragen, sie würden mit der jeweiligen Gegenseite kollaborieren.
Bei Anschuldigungen ist es nicht geblieben. 59 Freunde, Familienmitglieder und Nachbarn sind in San José ermordet worden. Um sich an sie zu erinnern und um die Gewaltakte nicht zu vergessen, errichteten die Mitglieder der Friedensgemeinschaft auf dem Dorfplatz ein Denkmal. Steine tragen die Namen der Ermordeten. Es wird dazu eingeladen, die Gewalt der bewaffneten Akteure weiterhin abzulehnen.
Inmitten des Todes, der Vertreibung und der dauernden Anschuldigungen schaffte es die Bevölkerung von San José, sich dem Hunger und ihrer eigenen Tragödie durch Organisierung und Gemeinschaftsarbeit entgegen zu stellen. Mit der Unterstützung internationaler Nicht-Regierungsorganisationen haben sie eine Reihe von Produktionsprojekten aufgebaut, um sich versorgen zu können. Von der Regierung erhielten sie für ihr mutiges Vorgehen keine Hilfe. Die Pflanzungen wurden wieder in Stand gesetzt, die Häuser in den Weilern repariert oder wiederaufgebaut. Die Bewohner*innen sind wieder dorthin zurückgekehrt oder planen die Rückkehr.
Innerhalb eines Jahres sind 50 geflohene Familien nach und nach wieder in den Ort La Unión gekommen und erweiterten damit das neutrale Gebiet der Friedensgemeinschaft. Nach dem zweiten Jahrestag seit der Ausrufung der Friedensgemeinschaft ist die Rückkehr von weiteren 18 Familien nach La Unión geplant. Noch einmal 50 Familien sollen in dem Weiler La Esperanza wohnen. Dort müssen sie das Land wieder herrichten, um es bebauen zu können. Ebenso müssen die Häuser und die Schule wieder aufgebaut werden. Wie in La Unión wird auch die Rückkehr nach La Esperanza stufenweise erfolgen. Wie im vorausgegangenen Prozeß beruht auch diese Wiederansiedlung nicht auf einem Abkommen oder einer Unterstützung durch die Regierung. Es ist eine Initiative der Gemeinschaft, um den Wiederaufbau ihres Lebens zu sichern.
Diese Anstrengung der Bewohner*innen von San José war für zahlreiche Schwarzengemeinschaften beispielhaft, die sich auch zu Friedensgemeinschaften erklärten und schrittweise wieder auf ihre Landstücke am Ufer des Atrato-Flusses zurückkehrten. Für ihre alternative Art des Widerstandes und die Suche nach Lösungen in dem kriegerischen Konflikt erhielten die Bewohner*innen von San José im Dezember 1998 den Pfeffer Peace Prize der Organisation Fellowship of Reconciliation der Stadt Madison in den USA. Eine gerechte Anerkennung einer würdigen Lebens- und Widerstandsalternative inmitten der Feindseligkeiten.
Drogenhandel bezahlte Verfassungsreformen
(Bogotá, 16. April 1999, comcosur-Poonal).- Die Bundesstaatsanwaltschaft präsentierte neue Beweise über die Verbindungen zwischen Politik und Drogenhandel während der Ausarbeitung der heute gültigen Verfassung im Jahr 1991. Demnach haben mehrere führende Politiker Gelder vom zerschlagenen Cali- Kartell bekommen, damit sie den Drogenhändlern genehme Verfassungsänderungen einbrachten. Ein Beispiel ist das Auslieferungsverbot von Kolumbianer*innen an die USA. Liegt die Bundesstaatsanwaltschaft richtig, beeinflußten die Geldsummen die endgültige Redaktion der neuen Verfassung entscheidend. Für die Formulierung war maßgebend der Journalist und von der verfassunggebenden Versammlung beschäftigte Mario Ramírez verantwortlich. Er stelle sich den Behörden und gab zu, Geld von der Drogenmafia bekommen zu haben. Allerdings sei dies ein Entgelt für Rechtsberatung gewesen. Die Ermittler*innen sind überzeugt, daß Ramírez die Drogenbosse über die Diskussionen und Entscheidungen in der Verfassungsversammlung, die ihre Interessen schädigen konnten, auf dem Laufenden hielt.
VENEZUELA
Abstimmung über Verfassungsgebende Versammlung
Von Alvaro Cabrera, npl
(Caracas, 23. April 1999; npl-Poonal).- Erstmals in 160 Jahren wird in der Republik Venezuela eine Volksabstimmung stattfinden. Elf Millionen Wahlberechtigte sind am Sonntag (25.4.) aufgerufen, über die Einberufung einer Verfassungsgebenden Versammlung abzustimmen. Das Gremium soll mit fast absoluten Vollmachten ausgestattet werden und die rechtlichen Leitlinien des südamerikanischen Landes aus dem Jahr 1961 neu formulieren.
Trotz heftiger politischer Debatten über Sinn und Ziel dieses Referendums gab es keinerlei Wahlkampf. Umfragen zufolge wollen knapp 80 Prozent mit „ja“ stimmen, eine so deutliche Mehrheit, daß zugleich eine hohe Enthaltung erwartet wird. Ein sicherer Sieg also für Präsident Hugo Chavez, der im Dezember schon mit Zweidrittelmehrheit zum Staatschef gewählt wurde. Chavez, dessen Image durch einen Putschversuch vor sieben Jahren arg lädiert ist, will mit Hilfe der Verfassungsgebenden Versammlung seine Macht ausweiten. Da er im Parlament keine Mehrheit habe, so der Tenor, brauche er zum Kampf gegen die Wirtschaftskrise und den korrupten Staatsapparat besondere Vollmachten.
Genau dies wollen die traditionellen sozial- und christdemokratischen Parteien verhindern. Zwar sprach der Kongreß dem Präsidenten bereits Ende März Sondervollmachten zu, doch war dies Chavez nicht genug. Er drohte daraufhin, das Parlament aufzulösen und kritisierte vehement den Obersten Gerichtshof, der einige Formulierungen des Referendumtextes moniert hatte. „Ich habe die Hand am Abzug, um den Notstand auszurufen,“ so Hugo Chavez.
Die Opposition sprach von einem „kalten Staatsstreich“ und bat um eine Rüge seitens der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS). OAS-Generalsekretär Ceras Gaviria wies dies mit den Worten „die Demokratie in Venezuela ist nicht gefährdet“ zurück. Auch Gaviria weiß, daß die große Mehrheit der Bevölkerung hinter Chavez steht. Zu lange hatte eine korrupte Elite die Zügel in der Hand und ruinierte das Land, das nach Erdölfunden in den 70er Jahren als wohlhabend galt. Die über 70 Prozent Armen sehen keinen Grund, warum die den populistischen Parolen des Ex-Militärs Chavez über einen Wirtschaftsaufschwung und eine „demokratische Revolution“ mißtrauen sollen.
Die Sonderrechte, die der Kongreß Chavez vorenthielt, wird der Präsident nun über den Umweg der Verfassungsgebenden Versammlung erhalten. Der Text besagt, daß dieses Gremium nicht mehr an Urteile des Obersten Gerichtshofes gebunden sein wird. De facto könnte der Präsident in Zukunft ganz legal beide Kammern des Kongresses und das Oberste Gericht auflösen. Vergangene Woche nahm Chavez kein Blatt mehr vor den Mund: „Ich bin dafür, daß die Verfassungsgebende Versammlung den Kongreß auflöst, damit ein wirklich legitimer gewählt werden kann. Auch den Obersten Gerichtshof sollte sie auflösen,“ so der Präsident. Auch wenn über die Zusammensetzung des Gremiums noch nicht entschieden ist, wird am einer umfassenden Einflußnahme Chavez' nicht gezweifelt.
Zu Beginn dieser Woche forderte nun das US-Außenministerium den venezolanischen Präsidenten auf, er solle „im Einklang mit der Verfassung“ regieren. Die Replik von Außenminister Rangel wirft kein gutes Licht auf die gegenseitigen Beziehungen: Solche Einmischungen seien unangebracht, erklärte Rangel, und fügte spontan hinzu, die US-Blokade gegen Kuba sei „verächtlich“. Weiter mißfalle ihm, daß sich sie Nato in einen Weltpolizisten verwandelt habe.
LATEINAMERIKA
Nachhaltige Landwirtschaft, Teil III
(Lima, März 1999, na-Poonal).- Unsere Mitgliedsagentur Noticias Aliadas aus Lima hat sich in einem Special kritisch mit der „grünen Revolution“ und den Chancen einer wirklich nachhaltigen Landwirtschaft in der Region auseinandergesetzt. In loser Folge veröffentlicht Poonal mehrere Artikel daraus. Im dritten Teil beschäftigt sich John Ross mit dem Kaktus-Anbau in Mexiko.
Der heilige Nopal
Mexiko-Stadt weist die schlechteste Luft und das höchste Gewaltpotential der Metropolen der westlichen Welt auf. Das ist nichts Neues. In dieser übervölkerten Stadt scheint das Leben oft unerträglich. Ein Modell sozialen Verfalls, von städtischen Übeln gezeichnet, die von drogenabhängigen Straßenkindern über eine nahezu kollabierende Infrastruktur bis zu tödlicher Luftverschmutzung reichen. Doch Mexiko-Stadt ist der Ort der Widersprüche.
Der Bundesdistrikt hat an den Rändern der Stadt eine lebendige Landwirtschaft aufzuweisen. So zum Beispiel im südwestlich gelegenen Milpa Alta, wo indigene Bauern noch immer eine aztekische Kulturpflanze anbauen, den Nopal. Dieser Kaktus – opuntia figus indica sein wissenschaftlicher Name – ist ein wichtiges Symbol in Mexiko-Stadt. Vor Tausenden von Jahren hatte der aztekische Kriegsgott Huitzilopochtli seinem nomadisierenden Stamm weisgesagt, daß er sich dereinst an dem Ort sich niederlassen würde, wo ein Adler, auf einem Nopal sitzend, eine Schlange verspeise. Die Azteken fanden diesen Ort auf einer Insel in dem großen See, der einst das Tal von Mexiko füllte. Sie gründeten dort die Stadt Tenochtitlán, heute Mexiko-Stadt, und begannen von hier aus, den Rest des Landes zu erobern.
Die Gründung von Tenochtitlán kann man heute im Staatswappen Mexikos betrachten: Der die Schlange verzehrende Adler auf einem Nopal. Der Kaktus ist ein mächtiges Zeichen der Mexikanität geworden. Die Jungfrau von Guadalupe ist häufig von Nopalblättern umgeben und beim kürzlich erfolgten Papstbesuch lief ein gläubiger Mexikaner als Riesennopal verkleidet durch die Straßen. Die Azteken verehrten den Nopal, weil er ihnen eine wichtige Lebensgrundlage war. Heutzutage empfinden ihre Erben, die Nahuatl-Bauern von Milpa Alta, die gleiche Verehrung.
„Wir respektieren den Nopal“, versichert Javier Montes de Oca von der regionalen Nopal-Produzentengewerkschaft. Den europäischen Eroberern dagegen war der Nopal ein Dorn im Auge. Priester Bernardino Sahagun, der die Chroniken der Conquista schrieb, beschreibt den Nopal als „einen montruösen Baum“. Er erzählt von ernstlichen Verletzungen spanischer Soldaten bei dem Versuch, die mit Stacheln besetzte Frucht des Baumes zu essen. Doch die Konqusitadoren machten letzlich ihren Frieden mit dem stacheligen Feind und brachten ihn nach Andalusien und Nordafrika, wo er heute Teil der Landschaft ist.
Milpa Alta ist der zweitgrößte und gleichzeitig der am wenigsten dicht besiedelte der 16 Distrikte von Mexiko-Stadt. Fast 59.000 seiner 80.000 Einwohner arbeiten in der Nopal-Produktion. Die in Milpa Alta wohnenden Nahuatl kultivieren den Nopal seit Jahrhunderten in ihren Höfen und Gärten. Der rentablere Anbau war allerdings lange Zeit der eines weiteren Kaktus, des Maguey. Aus dessen spitz zulaufenden Blättern werden Fasern für äußerst resistente Stoffe gewonnen, sein Holz dient zum Feuermachen. Aus seinem süßen Herzen gewannen die Azteken einen Nektar, den Pulque.
Früher lieferten die Bauern von Milpa Alta das leicht alkoholhaltige „Honigwasser“ an die pittoresken Pulquerias in Mexiko-Stadt. Doch seit kommerzielle Schnapshersteller wie Bacardi die Produzenten zwangen, sich vom nationalen Markt zurückzuziehen, habe die Nachfrage erheblich nachgelassen, sagt Distriktschef Francisco Chavira. In den fünziger Jahren begann der Verfall des Pulque. Polizeiüberfälle auf die Pulquetrinker und permanente Steuererhöhungen ließen den einst populären Trunk von der Bildfläche verschwinden.
Die Bauern von Milpa Alta rissen die Magueyes aus dem Boden und pflanzten Nopal. Ein halbes Jahrhundert danach ist Milpa Alta das Herz der kommerziellen Nopalproduktion in Mexiko. 10.200 Familien leben von dem Kaktus, der in 16 Arten auf 6.000 Hektar angebaut wird und 250.000 Tonnen pro Jahr abwirft. Wanderarbeiter, meist indigene Bauern vom Volk der Mazahuas oder der Mixteken, schneiden frühmorgens die langen Nopalreihen. Um diese Zeit sind die Pflanzen noch taufeucht. Die Arbeit ist gefährlich, denn die stacheligen Nopale stehen eng beieinander. Auf einem Hektar können bis zu 40.000 Pflanzen stehen. Die abgeschnittenen Blätter werden zu enormen, kreisrunden Bündeln gepackt, schön symmetrisch im Kreis herum gelegt. Diese Technik datiert nach Javier Montes de Oca noch aus aztekischer Zeit. Die faßförmigen Bündel werden dann auf die Märkte der Hauptstadt transportiert, wo die Blätter im Sechserpack verkauft werden.
Die Nopalblätter erreichen auch europäische Ziele, vor allem Deutschland und Holland. Auch in Japan steigt die Nachfrage erheblich. Eine Gruppe örtlicher Landwirte schickt schon seit Jahren tonnenweise Nopal nach Los Angeles, denn die grünen Blätter sind den mexikanischen Wanderarbeitern in die USA gefolgt. Frischen Nopal kann man mittlerweile auf den Obst- und Gemüseständen in Chicago, San Francisco und New York erstehen. Von ihren Stacheln befreit, verleihen die dicken Blätter sowohl der Suppe, als auch dem Salat ein spezielles Aroma. Auch traditionelle Speisen wie „schwimmende Nopales“ und „Romeritos“ sind aus Atztekentagen herrührende Leckereien. In der Osterwoche kommen die Nopales hauptsächlich mit Fisch zusammen auf die mexikanischen Teller.
Den Azteken war der Nopal heilig, sowohl wegen seines guten Geschmacks, als auch wegen seiner Eigenschaften als Heilpflanze. Noch immer gilt der Kaktus als „Allesheiler“. Viele Hauptstadtbewohner bekämpfen die ungesunde Luftverschmutzung mit einem aus Nopal und Pampelmusen gepreßten Saft. Wegen seiner hohen Eisen-, Kalzium-, Kalium und Vitaminanteile wird der Nopal vor allem bei Verdauungsbeschwerden verschrieben. Nach Studien des Nationalen Ernährungsinstituts INN fördert der Nopal den Aufbau der schützenden Magenschleimhaut. Naturheilkundler benutzen Nopaltinktur für die Behandlung von Geisteskrankheiten wie von Hämorriden. Jüngste Untersuchungen räumen ihm einen hohen Stellenwert als Cholesterinblocker ein und das INN benutzt ihn im Kampf gegen die Fettleibigkeit. Doch am häufigsten wird der Nopal medizinisch gegen die Diabetes eingesetzt. „Wir haben hier viele Zuckerkranke in Milpa Alta, doch keiner braucht Insulin, alle essen Nopal, um ihre Krankheit in den Griff zu bekommen“, sagt Montes de Oca.
Trotz alledem, und auch trotz der Werbung durch die Handelskammer, ist der Nopalanbau in Milpa Alta bedroht. Eine der stärksten Bedrohungen ist die ständige Ausdehnung der riesigen Stadt. Obwohl das Ackerland Gemeindeeigentum ist, haben einige Bauern ihre Parzellen verkauft und der Bau von weiteren Wohneinheiten scheint nicht aufgehalten werden zu können. Auch Wohnungslose, die in Gegenden mit strikter Kontrolle keine Bleibe mehr finden, besetzen die landwirtschaftlichen Flächen. Ungesetzliche Müllkippen verbreiten einen ständigen Gestank und die dunkle Smogglocke der verpestetesten Stadt des amerikanischen Kontinents dehnt sich immer weiter Richtung Süden aus und erreicht somit Milpa Alta. Obwohl der Kaktus in der Nacht atmet, wenn die Luftverschmutzung am geringsten ist, bleibt es doch unsicher, ob er in Zukunft noch so gesund sein wird, wie heute.
Milpa Alta ist bei seiner Wasserversorgung zudem ausschließlich auf Regenwasser angewiesen. Die steigende Trockenheit bedroht die Nopalwälder. Ein Nopal hat eine Lebenserwartung von sieben bis zehn Jahren. Doch während traditionell die kranken Pflanzen ausgerissen und durch nachwachsende junge ersetzt wurden, hat in den letzten Jahren allgemein der Insektizideinsatz begonnen. Doch der ärgste Feind ist der Nopal selbst. Die jeden Frühling wieder erfolgende Überproduktion drückt die Erzeugerpreise jedes Jahr weiter nach unten, und zwingt die Bauern dazu, die grünen Blätter einfach wegzuwerfen. Die Bodenqualität nimmt wegen der Monokultur ständig ab und die Errichtung neuer Plantagen wurde durch Abholzen von Pinienwäldern und Obstbäumen erreicht. Das Nopalgeschäft wächst auch auf Kosten der uralten Mais- und Bohnenkultur. „Wir werden unsere Nopales verlieren, wenn es uns nicht gelingt, das alles in den Griff zu kriegen“, sagt Chavira. „Den Nopal verlieren bedeutet aber, unsere Zukunft zu verlieren – und unsere Vergangenheit.“
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