Deutsche Ausgabe des wöchentlichen Pressedienstes lateinamerikanischer Agenturen Nr. 378 vom 26. März 1999
Inhalt
CHILE
PARAGUAY
DOMINIKANISCHE REPUBLIK
MEXIKO
EL SALVADOR
ECUADOR
KOLUMBIEN
LATEINAMERIKA
CHILE
Britische Lordentscheidung salomonisch?? – Anhänger und Gegner gleichsam erfreut
Von Leonel Yanez und Guillermo Espinoza
(Santiago de Chile, 25. März 1999, npl).- Mit ihrem Urteilsspruch über Pinochet ist den britischen Lordrichtern Erstaunliches gelungen. Anhänger wie Gegner des chilenischen Ex-Diktators feiern die Entscheidung als Sieg und sehen sich in ihrer Position bestätigt. Offenbar waren die Anspannung und die Konfrontation in Chile derart groß, daß es – und dies haben die Richter vorausgesehen – keine Verlierer geben durfte. So haben die Lords, die eigentlich nur Recht sprechen sollten, zugleich das politische Signal entsandt, daß Chile in Sachen Vergangenheitsbewältigung noch ein langer Weg bevorsteht.
Auf der Straße das gleiche Bild wie seit vergangenem Oktober, als Augusto Pinochet in London festgenommen wurde: Angehörige der Diktaturopfer und linke Gruppen demonstrierten am Mittwoch Nachmittag in Zentrum der Hauptstadt, nachdem die Lords ihre schwer zu interpretierende Entscheidung bekanntgaben. Später errichteten Studenten Straßenbarrikaden, die Polizei setzte Wasserwerfer und Tränengas ein. Sie nahm über 40 Demonstranten fest. Die Rechte versammelte sich wie gehabt vor der spanischen Botschaft im Reichenviertel Santiagos. Die für diesen Tag erwartete Eskalation blieb jedoch aus.
Nur einer der sieben Lordrichter verwehrte Pinochet generell die Immunität, auf die die Anwälte des ehemaligen Staatschefs pochen. Die anderen sechs Richter beschieden dem 83jährigen Straffreiheit für Verbrechen bis zum September 1988, da erst seit diesem Zeitpunkt Folterungen auch außerhalb Großbritanniens hier juristisch verfolgt werden können. Für die meisten der während der Diktatur von 1973 bis 1990 begangenen Verbrechen muß sich Pinochet also nicht verantworten. Dennoch bleibt er vorerst unter Hausarrest, da eine Auslieferung an Spanien für Straftaten die in den Zeitraum nach September 1988 weiterhin möglich ist.
Der Schwarze Peter ist damit wieder bei Innenminister Jack Straw, den die Lords aufforderten, seine Auslieferungsentscheidung vom vergangenen Jahr ob der neuen Rechtslage zu überdenken. Auf Straw setzt die chilenische Rechte ihre Hoffnung, denn er ist kein Richter, sondern wird eine politische Entscheidung treffen. Die bislang guten Beziehungen zu Chile, aber auch eventueller Druck seitens der USA, denen kaum an einer Aufarbeitung ihrer eigenen Rolle bei dem blutigen Putsch gegen den sozialistischen Präsidenten Allende 1973 gelegen ist, könnten Einfluß auf Straws Entscheidung haben.
Für die chilenische Rechte scheint der „Fall Pinochet“ erledigt „Die Entscheidung ist ein riesiger Fortschritt, sie besagt, daß Pinochets Immunität nicht angetastet werden darf,“ erklärte Alberto Espina von der rechten Partei Renovacion Nacional (RN). Wie andere Pinochet-Freunde macht die RN geltend, daß sich „höchstens ein Fall“ auf die Zeit nach 1988 beziehe, womit das Auslieferungsbegehren Spaniens obsolet sei. „Die Rückreise unseres Generals hat bereits begonnen,“ ergänzte RN-Sprecher Gustavo Alessandri. Nicht ganz so optimistisch, aber auch zufrieden äußerte sich die chilenische Regierung. Präsident Eduardo Frei sprach von einer richtungsweisenden Entscheidung, die es ermöglichen werde, daß Pinochet sich in Chile vor Gericht verantworten werde. Der Vorsitzenden der Christdemokraten, Enrique Krauss, bedauerte zwar, daß sich die Lords nicht der chilenischen Auffassung von staatlicher Souveränität angeschlossen hätten. Doch sei die Rückkehr des Senators auf Lebenszeit näher gerückt und bis dahin werde die Regierung alles daran setzen, unnötige Spannungen und Zusammenstöße in Land zu verhindern. Das Militär wollte sich erst im Anschluß an eine Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates äußern.
Unmittelbaren Anlaß zur Freude haben freilich nur die Pinochet- Gegner. In London, Madrid und vielen Städten Chiles feierten sie vor allem die Tatsache, daß die Ikone südamerikanischer Militärverbrechen weiterhin unter Hausarrest steht und nicht nach Chile zurückkehren darf. Trotz juristischer Spitzfindigkeiten ist für sie klar, daß die Welt den Ex-Diktator bereits verurteilt hat. „Der Streit um die Auslieferung geht weiter, aber das wichtigste ist, daß die Welt die Verbrechen der chilenischen Militärdiktatur zur Kenntnis nimmt,“ betonte die Präsidentschaftskandidatin der Kommunistischen Partei, Gladys Marin. Auch internationale Menschenrechtsgruppen dußerten sich zufrieden. Die Botschaft der Lords sei, daß die Immunität von Staatschefs diesen nicht die Freiheit zu foltern einräume, erklärte Amnestie International.
Chilenische Organisationen weisen darauf hin, daß für die Zeit nach September 1988 insgesamt 55 Fälle von Exekutionen und Verschwindenlassen dokumentiert seien. Im Gegensatz zu Äußerungen der rechten Parteien enthalte die Anklageschrift des spanischen Richters Baltazar Garzon vier Fälle von Folter und 42 Fälle von Verschwundenen, die sich nach dem von den britischen Lords gesetzten Datum ereigneten. Der spanische Rechtsanwalt Enrique Santiago, der Garzon bei seinen Ermittlungen unterstützt, erklärte in Madrid, es lägen „genügend Beweise vor, um Herrn Pinochet in Spanien zu verurteilen“. Des weiteren verlautete aus spanischen Justizkreisen, daß Garzon den Lordspruch zwar respektieren werde, doch zum Nachweis der Taten nach 1988 den ganzen Vorgang seit 1973 in seine Beweisführung einbeziehen werde.
PARAGUAY
Vizepräsident ermordet – Land steht vor dem Bürgerkrieg
(Asunción, 23. März 1999, pulsar-Poonal).- Als die Ärzte im nächstliegenden Gesundheitszentrum den von zehn Kugeln durchsiebten Körper sahen, konnten sie nur noch den Tod der eingelieferten Person konstatieren. Luis María Argaña, der paraguayische Vizepräsident, ist am vergangenen Dienstagmorgen von Unbekannten erschossen worden, als er sich auf dem Weg zu seinem Büro befand. Mit ihm starb sein Berater. Augenzeugen berichten, die Leibwächter hätten während des Anschlags in keinerlei Weise reagiert. Die Zeugen, derer die Behörden habhaft werden konnten, wurden von der Straße weg verhaftet, ihr Leben gilt aus Sicht von Argaña-Anhängern sehen als gefährdet. In einer landesweit übertragenen Ansprache bat Präsident Raúl Cubas die Bevölkerung um Ruhe. Er versprach – wer hätte anderes erwartet – die sofortige Untersuchung der Tat. Außerdem ordnete er die Schließung und Überwachung aller Landesgrenzen an.
Möglicherweise ist der Mord am Vizepräsidenten nur der Auftakt gewalttätiger Auseinandersetzungen in der Regierungspartei um die Macht. Argaña war ein eiserner Gegner der von Cubas geführten Regierung. Außerdem führte er die Opposition innerhalb der Colorado Partei an. Bei einem Erfolg des vom Parlament in Gang gesetzten politischen Prozesses gegen den Präsidenten hätte er dessen Nachfolger werden können. Präsident Cúbas gilt vielen nur als Steigbügelhalter für den General i.R. Lino Oviedo, dem von den Gerichten wegen eines Putschversuches gegen die Vorgängerregierung der demokratische Weg an die Macht verwehrt worden ist. Die erste Amtshandlung von Cubas war es, sein zu zehn Jahren Haft verurteiltes Vorbild zu amnestieren.
Es ist nicht verwunderlich, daß sowohl die inner- wie außerparteiliche Opposition direkt Cubas und Oviedo als intellektuelle Urheber des Mordes nennt. Sie riefen sogar zu zivilem Ungehorsam auf, um sie von der Macht zu verdrängen. Moderatere Töne verlangen den Rücktritt oder die Absetzung des Präsidenten, andere setzen ein Kopfgeld auf Oviedo aus. Eine im Innern des Justizpalastes am Dienstagmittag explodierte Bombe verschärfte die allgemeine Unruhe am Dienstag noch. Die paraguayische Bischofskonferenz rief Behörden und Bevölkerung auf, sich an die demokratische Ordnung zu halten.
Der Aufruf hat nicht die besten Erfolgsaussichten. Zu verbissen stehen sich die verschiedenen Fraktion der Colorados seit Jahren gegenüber. Dabei hat sich keine durch besonders demokratisches Verhalten hervorgetan. Der ermordete 66jährige Luis Maria Argaña ist ein politischer Ziehsohn von Ex-Diktator Alfredo Strössner mit rechtsextremen Ansichten gewesen. General Oviedo war bereits vor seinem Putschversuch gegen Ex-Präsident Juan Wasmosy für seine autoritäre Einstellung bekannt. Und gegen Wasmosy schließlich, dessen Parteiströmung mit den beiden anderen ebenfalls verfeindet ist, existiert es eine ganze Reihe von Korruptionsvorwürfen.
Die beiden wichtigsten Oppositionsparteien waren in der Vergangenheit nie stark genug, den Colorados ihre Rolle streitig zu machen. Nach der für sie enttäuschenden Präsidentschaftswahl im vergangenen Jahr verlegten sie sich darauf, mit den colorado-internen Gegnern der Cubas-Regierung gemeinsam im Parlament abzustimmen. Wenn der Konflikt in Paraguay weiter eskaliert, wird entscheidend sein, auf wessen Seite sich die Mehrheit der Streitkräfte schlägt. Fällt das Militär keine eindeutige Entscheidung, ist ein längerer Bürgerkrieg nicht auszuschließen. Führt der Streit zu einer neuen Militärdiktatur á la Strössner, sind die Aussichten für die Bevölkerung kaum besser.
DOMINIKANISCHE REPUBLIK
Haarstäubende Zustände im Landesinnern
(Santo Domingo, 23. März 1999, pulsar-Poonal).- Im Landesinnern der Insel nimmt der Unmut der Bevölkerung gegen die Regierung und ihre Sicherheitskräfte zu. In der Ortschaft Licey al Medio 160 Kilometer von der Hauptstadt entfernt, griffen Einheimische zwei Polizeikasernen an, nachdem die Polizisten zuvor hart gegen Demonstrant*innen vorgegangenen waren. In den zurückliegenden Wochen hat es wiederholt heftige Zusammenstöße zwischen Zivilbevölkerung und Polizei gegeben. Dabei kam es zu vier Toten und 20 Verletzten unter den Zivilist*innen. Die dominikanischen Gefängnisse sind gefüllt mit den Verhafteten. Die Bürgerproteste gegen die zum Teil desaströsen Zustände im Land häufen sich zunehmend. Für die katastrophalen Lebensbedingungen wird die Zentralregierung verantwortlich gemacht. Viele Straßen sind unpassierbar, der Strom fällt aus oder wird gar nicht erst geliefert und Trinkwasser gibt es für viele Menschen überhaupt nicht – von einer Gesundheitsversorgung ganz zu schweigen.
MEXIKO
Die Befragung der Zapatisten
Von Ulrich Brand
(San Cristobal, 22. März 1999, npl).- Am Eingang des Dorfes San Juan Chamula, mitten im mexikanischen Bundesstaat Chiapas, haben sich rund 150 Indigenas versammelt. Die Männer, Frauen und Kinder warten auf einen Kleinlaster, der aus dem nahegelegenen San Cristobal de las Casas Stimmzettel und Urnen für die „Consulta“ bringen soll. Es ist ein windiger, naßkalter Tag, die bewaldeten Hänge rundherum sind in Nebel gehüllt.
Lange Schlangen bilden sich, nachdem das improvisierte Wahllokal aufgebaut ist. Wahlberechtigt sind alle Bewohner über zwölf Jahren. Die meisten signieren den Stimmzettel mit ihrem Fingerabdruck. Sie sollen vier Fragen beantworten, die den Forderungen der Zapatisten gleichen. Dieser Sonntag (21.3.) ist ein wichtiger Tag für die Zapatistische Befreiungsarmee EZLN, die seit 1994 für die Rechte der Indigenas und gegen die Wirtschaftspolitik der Regierung kämpft. Seit Monaten mobilisiert sie in ganz Mexiko für die landesweite Consulta (Befragung). Es ist der Versuch, politisch wieder die Initiative zu übernehmen.
Inzwischen sind auch vier zapatistische Delegierte auf dem kleinen Platz eingetroffen. In ganz Mexiko sind fünftausend dieser Delegierten – jeweils paritätisch Männer und Frauen – aus den Unterstützer-Gemeinden der EZLN unterwegs und werben für die Befragung. „Mit der Consulta wollen wir erreichen, daß die Regierung die Rechte der indigenen Völker anerkennt und den schmutzigen Krieg in Chiapas beendet“, spricht der Delegierte Abraham den Journalisten auf Spanisch ins Mikrophon. Er wird in das hier gesprochene Tzotzil übersetzt, denn in seinem Dorf im Lakandonischen Urwald wird Chol gesprochen. Bei der Befragung gehe es vor allem um die Umsetzung des vor drei Jahren zwischen Regierung und EZLN abgeschlossenen „Abkommens von San Andres“ über indigene Rechte und Kultur, ergänzt Abraham. „Bislang macht die allmächtige Partei der Institutionellen Revolution (PRI) keine Anstalten, das Abkommen einzuhalten.“
Trotz zahlreicher Drohungen kam es an den Tausenden Wahlständen kaum zu Zwischenfällen. Die Regierung von Präsident Ernesto Zedillo hatte die Consulta als „absurdes Theater“ kritisiert. In Radio und Fernsehen wurde die EZLN heftig angegriffen, sie wolle das mexikanischen Volk spalten. Auch die lokalen Machthaber (Kaziken) wehrten sich. Deshalb konnte die Befragung auch in Chamula nicht im Ortszentrum stattfinden.
„Aus Sicherheitsgründen haben wir das Wahllokal am Ortsrand aufgestellt,“ erklärt Augustin Jimenez, der hier für die Durchführung verantwortlich ist. „Im Zentrum würde es zu viele Spannungen mit den Kaziken und den Anhängern der Staatspartei PRI geben. Etwas außerhalb können die Leute geschützter abstimmen.“ Von den 45 000 Wahlberechtigten haben bis zum Sonntag Abend etwa 1.000 gewählt. Die meisten befürworteten die EZLN-Forderungen, was in der PRI-Hochburg Chamula ein beachtliches Ergebnis ist. In anderen Gemeinden des südlichsten Bundesstaates Mexikos haben sich weit über die Hälfte der Einwohner beteiligt.
Die Zapatisten haben in den vergangenen Wochen etwas an Boden gewonnen. Auf unzähligen Veranstaltungen kamen viele Menschen zum ersten Mal mit den Aufständischen in Kontakt, die maskierten Indígenas waren auch im Norden das Landes zum greifen nah. Nur selten bekamen die Delegierten Probleme mit der Polizei, nicht zuletzt verhinderte der Presserummel die befürchteten Übergriffe. Mexiko-Stadt war am vergangenen Donnerstag Schauplatz einer ungewöhnlichen Bündnis-Demonstration: Gewerkschafter protestierten gegen die Privatisierung der Energieversorgung, Studenten gegen die Erhöhung der Studiengebühren und Zapatisten marschierten für die Teilnahme an der Consulta. Sie alle, mitsamt der linksliberalen Oppositionspartei PRD, demonstrierten gegen die neoliberale Regierungspolitik und für das Anliegen der Zapatisten.
Das wichtigste Ziel scheint erreicht: Weit über zwei Millionen Mexikaner sollen ihre Stimme abgegeben haben, mehr als doppelt so viele wie bei der ersten Consulta im Jahr 1995. Das Endergebnis soll bis Freitag vorliegen. Der Regierung ist es nicht gelungen, die politische Offensive der Zapatisten zu zerreden. Doch die eigentliche Herausforderung beginnt erst jetzt: Wie sollen sie den erzeugten Druck aufrecht erhalten? Auch bei früheren Anläufen ist es den Zapatisten nicht gelungen, die breite, aber punktuelle Unterstützung außerhalb von Chiapas in politischen Einfluß umzumünzen.
In Chamula wissen die zapatistischen Delegierten, daß die Initiative der EZLN ihre Grenzen hat. Die Anerkennung der Rechte der indigenen Völker müsse im Rahmen einer grundlegenden Demokratisierung Mexikos geschehen, gegen die sich die Staatspartei mit allen Mitteln wehre, betont Abraham. Das, was in Mexiko überall „Zivilgesellschaft“ genannt wird, sei jetzt gefragt.
Die Strategie der EZLN bestehe nicht darin, mit militärischen oder politischen Mitteln die Macht zu übernehmen, sondern für eine breite Demokratisierung und gegen bestehende Machtstrukturen zu kämpfen, ergänzt Abrahams maskierter Genosse. Dies hebt sie von traditionellen Aufstandsbewegungen ab – und bringt ihr weit über Mexiko hinaus viele Sympathien ein. Dabei leben die Zapatistas weiterhin in dem Dilemma, politisch aktiv zu sein, aber ständig von der Vernichtung durch das mexikanische Militär bedroht zu werden.
Überwältigende Zustimmung
(Mexiko-Stadt, 24. März 1999, pulsar-Poonal).- Die ersten Angaben über die Beteiligung an der landesweiten Befragung der EZLN scheinen übertroffen zu werden. Nachdem etwa die Hälfte der abgegebenen Stimmen ausgezählt ist, wird davon ausgegangen, daß drei Millionen Mexikaner*innen auf die vier Fragen der EZLN antworteten. Das wären fast dreimal mehr als bei der ersten „Consulta“, die die Zapatisten 1997 über ihre politische Zukunft organisierten. Die Zustimmung zu den Vorschlägen der EZLN ist mit 96 Prozent erwartet hoch, da von ihren Gegner*innen kaum jemand an der Aktion teilgenommen haben dürfte. Die mexikanische Regierung bedrohte unterdessen zehn Ausländer*innen mit der Ausweisung, weil sie sich im Bundesstaat Chiapas an der Befragung beteiligten.
EL SALVADOR
Kubanische Stipendien
(San Salvador, 19. März 1999, alpress-Poonal).- 47 junge Leute aus El Salvador machten sich in den vergangenen Tagen nach Havanna auf, um dort Medizin zu studieren. Die Student*innen aus ärmeren Schichten haben ein sechjähriges Stipendium von Kubas Regierung bekommen. Dies hatten im November vergangenen Jahres San Salvadors Bürgermeister Hector Silva und sein kubanischer Gegenüber Conrado Martinez vereinbart, als sie die erste Städtepartnerschaft zwischen beiden Ländern unterschrieben. Trotz des Widerstandes der rechten Regierung gegen Verbesserungen im Verhältnis zur der sozialistischen Insel läuft das Programm an. Die Bewohner*innen der salvadoreanischen Hauptstadt nehmen ebenfalls das Angebot an, das im Rahmen einer weiteren Initiative der Städtepartnerschaft beschlossen wurde. Sie können sich bei schwierigen Krankheiten auf Kuba medizinisch behandeln lassen. Die Kosten liegen weit unterhalb derjenigen, die sie vergleichsweise in Industrieländern zahlen müßten.
ECUADOR
Soziale Spannung flaut ab
(Quito, 19. März 1999, alai-Poonal).- Nach 15tägiger Lähmung beginnt sich das öffentliche Leben in Ecuador wieder zu regen. Auf Druck der Bevölkerung schwächte Präsident Jamil Mahuad einige seiner Notstandsmaßnahmen ab. Er nahm die Erhöhung der Treibstoffpreise teilweise zurück und hob den eine Woche lang gültigen Ausnahmezustand auf. Dennoch herrscht Unsicherheit. Das Abkommen, das die Regierung mit den oppositionellen Mitte-Links- und Links-Parteien abschloss, um den kritischen Moment im Land zu überwinden, wird als brüchig angesehen.
Die Vereinbarung umfaßt zehn Punkte, welche die Finanzierung des Staatshaushaltes sicherstellen sollen. Darunter: keine Ausnahmen mehr bei der Zahlung der Mehrwertsteuer (ursprünglich wollte die Regierung diese Steuer um 50 Prozent erhöhen), das Fortbestehen der differenzierten Einkommenssteuer, eine 1prozentige Vermögenssteuer für Unternehmen, eine zweiprozentige Steuer auf Luxusautos und eine dreiprozentige Steuer auf Bankgewinne.
Dieser Umschwung von Präsident Mahuad hat auch damit zu tun, daß die rechte Sozialchristliche Partei (PSC), auf die er sich bisher als Bündnispartner stützen konnte, Ihn im entscheidenden Augenblick hängen ließ. Es war aber genauso eine Forderung der Volksproteste, der Regierungschef müsse sich dem Rest der politischen und sozialen Kräfte gegenüber öffnen. Angesichts der geringen Glaubwürdigkeit der Regierung hat aber das Patriotische Bündnis, in dem die Volks- und Indígenaorganisationen zusammengeschlossen sind, signalisiert, daß die Mobilisierungsaktionen nicht beendet werden, bevor alle Vereinbarungen in Gesetze umgesetzt sind. Vor allem auf dem Land soll es weiterhin Straßenblockaden und einen Lebensmittelboykott gegenüber den Märkten geben.
Die Sozialchristliche Partei und die Privatwirtschaft haben die neu vereinbarten Maßnahmen sofort scharf kritisiert. Sie wenden sich vor allem gegen die Entscheidungen, die den Reichen mehr Lasten auferlegen und lassen durchblicken, sie könnten einen Unternehmerstreik organisieren. Die PSC, die ihre Wähler vor allem an der Küste hat, macht damit Stimmung, indem sie die Politiker aus dem Hochland beschuldigt, den Produktionsapparat der Küste mit neuen Steuern zerstören zu wollen.
Die Regierung geht aus dem Konflikt sehr geschwächt hervor. Das Image des Präsidenten ist stark gesunken, seine Sympathiewerte betragen nur noch 13 Prozent. Die Chancen für eine Erholung sind wenig günstig: Lebensmittelknappheit, hohe Inflation und ein weiter fallender Kurs des einheimischen Sucre trotz eingefrorener Bank- und Sparkonten sind eine schwere Hypothek. Wegen des Zugriffs auf das Geld der Bürger steht der nächste Streit an. Mehrere Nicht-Regierungsorganisationen haben vor Gericht Berufung gegen das Einfrieren ihrer Sparkonten -wie seit dem 11. März geschehen – eingelegt. Sie argumentieren, die Regierung habe ihre Maßnahme im Schutz des Ausnahmezustandes verfügt. Da dieser jedoch am 18. März wieder aufgehoben wurde, entfalle die gesetzliche Grundlage dafür, die Bankgelder weiterhin zurückzuhalten. Die Regierung hat bisher nur zugesagt, die Konten in mehreren Schritten wieder freizugeben. Aber dennoch sind nicht die sozialen Konflikte der Punkt, der momentan die meisten Sorgen bereitet, sondern das, was die internationalen Finanzeinrichtungen nun diktieren werden.
KOLUMBIEN
Ermordung der US-Bürger*innen belasten den Friedensprozeß
(Bogotá, 17. März 1999, ac-Poonal).- Während es in den vergangenen Monaten vor allem die Greueltaten der Paramilitärs waren, die die Friedensverhandlungen zwischen Guerilla und Regierung gefährdeten, hat nun der Mord an drei US- Bürger*innen durch die FARC viele Bemühungen in Frage gestellt. Seit Bekanntwerden der Morde an den beiden indigenen Frauen aus den USA, Ingrid Washinawatoky und Lahe' ena Gay, sowie dem Verteidiger der Rechte der U'wa, Terence Freitas, deuteten die ersten Hinweise auf die Guerillabewegung FARC hin. Die drei waren erst entführt und dann umgebracht worden.
Nach der Ermordung wies ein angeblich abgehörtes Gespräch auf die Verantwortlichkeit der 45. Front der FARC hin. Diese Front wird von Germán Briceno (Kriegsname „Granobles“) befehligt, dem Bruder von Jorge Briceno alias „Mono Jojoy“ geführt. Dieser belegt in der FARC-Hierachie den zweiten Rang. Eine Woche nach Bekanntwerden der Tat betonte Raüul Reyes, derselbe FARC- Kommandant, der einige Tage zuvor den Familienangehörigen der Opfer sein Beileid ausgesprochen hatte, für das Verbrechen sei die 10. Front der FARC mit ihrem Kommandanten „Gildardo“ an der Spitze verantwortlich. In der Mitteilung erklärte die FARC, die Verantwortlichen würden der internen Justiz unterstellt. Gleichzeitig wies sie die Forderung nach der Auslieferung an die USA zurück.
In ihrer Erklärung warnen die FARC aber auch: „Wenn jemand in die Zonen der FARC-EP geht, muß er sich zuerst identifizieren und die Autorisierung (durch die FARC) verlangen, um bedauernswerte Ereignisse zu vermeiden.“ Doch die US- Bürger*innen waren nicht allein, als sie entführt wurden. Sie befanden sich in Begleitung von Indígenas der U'wa, nachdem sie deren Gemeinde besucht hatten. Viele fragen sich daher, wie weit her es mit dem Respekt vor der Autonomie der indigenen Territorien für die Guerilla ist. Andrerseits, wenn es sich um ein Fehlverhalten einer einzelnen Front der FARC handelte, bleibt die Frage nach der zentralen Befehlsgewalt dieser Guerillagruppe.
Konservative Abgeordnete des US-Kongresses haben von der US-Regierung eine militärische Intervention gegen die Guerilla verlangt. Sie fordern außerdem, die Annäherungen zwischen der kolumbianischen Regierung und der FARC nicht mehr weiter zu unterstützen. Damit würde die wichtige Arbeit vieler kolumbianischer und US-amerikanischer NGO's zum Erliegen kommen, die sich im US-Kongreß für eine Trennung der Drogenbekämpfung von der Aufstandsbekämpfung einsetzen und verlangen, daß die US-Militärhilfe an die kolumbianische Armee nicht für Einsätze im Rahmen des internen Konflikts zur Anwendung komme.
Trotz ihrer Wut und Trauer über den Verlust ihrer geliebten Familienmitglieder, verlangten deren Angehörige von den US-Behörden, daß unter keinen Umständen dieser tragische Vorfall als Argument für eine frontale Konfrontation in Kolumbien benutzt werden solle. Zudem verlangten sie von den bewaffneten Akteuren die Einstellung des Konflikts und die Annäherungen im Hinblick auf einen Friedensprozeß fortzuführen.
In Kolumbien war der Übergriff der FARC Wasser auf die Mühlen derjenigen, die seit Monaten Präsident Pastrana Schwäche vorwerfen, weil dieser eine Region für die FARC entmilitarisierte. Diese Stimmen vertreten auch die Auffassung, daß die Ermordung der drei US-Bürger*innen zeige, daß die Guerilla keine ideologischen Prinzipien habe und sie als gewöhnliche Kriminelle betrachtet werden müßten. Politisch hat das Verbrechen die FARC in ihrem schlimmsten Moment gebracht, seit die fünf Landkreise in den Provinzen Meta und Caquetá von der offiziellen Armee geräumt wurden und die Chance auf eine Verhandlungslösung stieg.
Der Einfluß der USA
Von Raul Zelik
(Bogotá, März 1999, colombia popular-Poonal).- Keine drei Monate nach der feierlichen Aufnahme von Gesprächen zwischen der Regierung Pastrana und der Guerillaorganisation FARC (Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens) scheint der Friedensprozeß in Kolumbien schon wieder am Ende zu sein. Die Regierung in Bogotá treibt die umfassende Modernisierung ihrer Streitkräfte voran und nimmt bereits gemachte Zugeständnisse gegenüber den Rebell*innen wieder zurück. Verantwortlich dafür ist vor allem der Druck der Clinton-Administration. Washington lehnt die Gespräche mit den Aufstandsbewegungen in ihrer jetzigen Form ab, weil FARC und ELN – so die US-Berater – aus einer zu starken Position verhandeln könnten. Anders als bei den Friedensprozessen in El Salvador und Guatemala weigern sich die kolumbianischen Guerillaorganisationen nämlich, eine Demobilisierung auch nur ins Auge zu fassen. Sie wollen konkrete soziale Transformationen, die den bewaffneten Kampf überflüssig machen und keine Eingliederung ins politische Establishment. Der ehemalige nicaraguanische Staatspräsident Daniel Ortega äußerte im Januar bei einem Besuch in Kolumbien denn auch, daß die kolumbianische Guerilla sehr viel selbstbewußtere Forderungen stelle als dies die zentralamerikanischen Aufstandsbewegungen jemals getan hätten.
Die Signale aus dem Norden sind in jeder Hinsicht deutlich. Unter dem Deckmantel der Drogenbekämpfung unternehmen die USA schon seit Ende der 80er Jahre enorme Anstrengungen, um ein Vorrücken der Oppositionsbewegung in Kolumbien zu verhindern. Seit der Veröffentlichung des Santa Fé II-Dokuments im Jahr 1988 ist das südamerikanische Land zum drittgrößten Empfänger von US-Militärhilfe in der Welt aufgestiegen. Die Weltmacht im Norden unterhält im Land mehrere Dutzend US- Basen, eine unbekannte Anzahl Geheimdienstagenten sowie umfangreiche Kommunikationsstrukturen an der kolumbianischen Pazifikküste. Seit Mitte 1996 ist die US-Präsenz sogar noch deutlich ausgebaut worden.
Zu diesem Zeitpunkt gingen die sozialistisch orientierten FARC im schwach besiedelten Süden Kolumbiens vom Guerilla- zum Bewegungskrieg über und fingen an, große Militäreinheiten anzugreifen. Mindestens ein halbes Dutzend schwerer Niederlagen hat die Guerilla der Armee auf diese Weise in den vergangenen 30 Monaten zugefügt. Mehr als 300 Polizisten und Soldaten befinden sich in den Händen der Aufständischen, ganze Einheiten sind regelrecht aufgerieben worden. Die militärische Stärke der Guerilla ist inzwischen so groß, daß die Besetzung einer Stadt mit 50.000-Einwohner*innen im Land kein Ereignis mehr ist. US-Studien haben sogar einen Sieg der Guerilla innerhalb der nächsten fünf Jahre vorhergesagt, wenn das US-Engagement nicht verstärkt wird.
Kein Wunder also, daß im vergangenen Jahr hochrangige Funktionäre aller US- Sicherheitsdienste in Kolumbien gewesen sind. Verteidigungsminister William Cohen, der Chef der Drogenbekämpfungs-Agentur DEA Thomas Constantine, FBI- Direktor Louis Freeh, der selbsternannte Anti-Drogen-Zar Barry McCaffrey, mehrere CIA-Delegationen sowie der Chef des Kommandos Süd der US-Armee Charles E. Wilhelm haben sich in Bogotá die Klinke in die Hand gegeben. Im Dezember 1998 – just in der gleichen Woche, in der Außenministerin Madeleine Albright die Verfehlungen in der us-amerikanischen Chile-Politik der siebziger Jahre eingestand – unterzeichnete ihr Amtskollege Verteidigungsminister Cohen ein weitreichendes Militärabkommen. Die kolumbianische Armee wird 1999 nicht nur 400 Mio US-Dollar Militärhilfe erhalten, sondern auch tatkräftig mit Hochtechnologie ausgerüstet und in Geheimdienstpraktiken ausgebildet werden. Mehr als 300 US- Berater werden im Verlauf des Jahres zusätzlich nach Kolumbien kommen und den Krieg zum Teil direkt mitdirigieren. Schon jetzt überwachen US-Spionageflugzeuge und -satelliten Bodenbewegungen der Guerillagebiete und lassen ihre Erkenntnisse der Armeespitze in Bogotá zukommen. Neu kommt außerdem dazu, daß das aus Berufssoldaten zusammengesetzte Elitebataillon der kolumbianischen Armee, das sogenannte „Batallón Anti-Narcótico“ einem US-Militärberater unterstehen wird.
Seit dem verstärkten Engagement der USA ist vor allem die Medien- und Desinformationspolitik der Regierung spürbar professioneller geworden. Militärische Kampagnen werden nun von großen politischen Kundgebungen begleitet, wie zuletzt in der nordkolumbianischen Stadt Santa Rosa (Provinz Bolívar). Das Gebiet, in dem 80 Prozent der Goldvorkommen des Landes konzentriert sind und das als Hochpunkt der ELN gilt, steht seit Mitte letzten Jahres unter massivem Druck von Paramilitärs und Armee. Durch brutalen Terror – die Paramilitärs massakrierten ihre Opfer in zahlreichen Fällen mit der Motorsäge – erzwang man eine Massenflucht aus der Region. Nachdem das Gebiet zumindest teilweise von Guerilla-Sympath*innen gesäubert worden ist, organisierte die Pastrana-Regierung eine Demonstration gegen die ELN mit 10.000 Teilnehmer*innen, die nun als Begründung dafür dient, warum einer Demilitarisierung der Region für Gespräche zwischen Gesellschaft und ELN nicht zustimmen könne. Offensichtlich begreift der Generalstab, daß die Mobilisierung der „Zivilgesellschaft“ kriegsentscheidend ist.
Es mag nach abgestandenen Imperialismustheorien klingen, doch die Politik des Pentagon greift auf das gesamte im Kalten Krieg entwickelte Repertoire der low intensity warfare (Kriegsführung geringer Intensität) zurück. Die Mobilmachung gegen die kolumbianische Aufstandsbewegung erfaßt inzwischen die ganze Region. Nach Angaben der Bogotaner Tageszeitung „El Espectador“ hält das US- Verteidigungsministerium Kolumbien für den „größten Instabilitätsfaktor Lateinamerikas“ und verlangt ein konzertiertes Vorgehen. Besonders die engsten Verbündeten Washingtons in der Region sind aktiv geworden. Bereits vergangenes Jahr rief der argentinische Präsident Carlos Menem zur Bildung einer multinationalen Eingreiftruppe gegen Kolumbien auf – offiziell natürlich zur effizienteren Drogenbekämpfung.
LATEINAMERIKA
Nachhaltige Landwirtschaft, Teil I
(Lima, März 1999, na-Poonal).- Unsere Mitgliedsagentur Noticias Aliadas aus Lima hat sich in einer Spezialausgabe kritisch mit der „grünen Revolution“ und den Chancen einer wirklich nachhaltigen Landwirtschaft in Lateinamerika auseinandergesetzt. In loser Folge werden wir mehrere Artikel daraus in Poonal veröffentlichen. Den Anfang macht ein Überblicksbeitrag von Stephanie Boyd.
Eine grüne(re) Revolution
Vor mehr als tausend Jahren erlebt die Mochica-Kultur an der nordperuanischen Küstenwüste ihre Blütezeit. Grundlegend dafür war ein ausgeklügeltes Bewässerungssystem, welches den Mochica den Anbau einer Reihe von Agrarerzeugnissen und damit den Unterhalt eines großen Reiches erlaubte. Heutzutage werden in der gleichen Gegend nur kommerzielle Produkte angebaut. Die Zone könne ihre Bevölkerung nicht mehr ernähren, beklagt der peruanische Archäologe Carlos Wester. Das Fehlen von Wasser wie von Bewässerungssystemen läßt die Pflanzen auf den Feldern verdorren. Der Anbau des hier nicht natürlich wachsenden Reises, der zudem viel Wasser benötigt, verschärfe die Probleme nur noch.
Die Geheimnisse der Mochica sind zwar für immer im Wüstensand begraben, in anderen Gegenden Lateinamerikas hingegen werden altüberlieferte Anbauweisen in immer größerem Maße wieder angewandt. Die Nopalbauern am Rande von Mexiko-Stadt verehren den Kaktus ihrer atztekischen Vorfahren noch immer. In den Anden gibt es Bemühungen, das Rückgrat des Agrarsystems der Inkas – den Terrassenbau – wieder in Betrieb zu nehmen. Die Verteidiger einer nachhaltigen Landwirtschaft blicken zurück in die Vergangenheit und fordern eine Neudefinierung der Nahrungssicherung, die davon ausgeht, daß verfügbare Nahrungsmittel in der Zukunft von einem vielfältigen und gesunden globalen Ökosystem abhängt. Von einer Schlüsselrolle des Menschen in den Ökosystemen ausgehend, sind Themen der sozialen Gerechtigkeit wie gleichwertige Landverteilung und angemessene Lebensniveaus für die Landarbeiter engstens mit der nachhaltigen Landwirtschaft verbunden.
Doch die nachhaltige Landwirtschaft sieht sich noch immer vielen Hindernissen gegenüber. Viele Regierungen und Wissenschaftler haben sich diesen Begriff angeeignet, um jedwede landwirtschaftliche Produktionsform zu rechtfertigen, die Gewinne abwirft. So haben sie zu einer Verwirrung rund um die wahre Bedeutung „nachhaltiger Landwirtschaft“ beigetragen. In dieser Debatte warnen zunehmend mehr Wissenschaftler und Umweltschützer vor der Überlastung der Erde durch das herrschende landwirtschaftliche Produktionssystem und die damit verbundenen, von Monokultur, Pestizidmißbrauch und Bodenverarmung hervorgerufenen Probleme.
Der Faktor Mensch
Visionäre wie Paolo Lugari, der eine experimentelle nachhaltig produzierende Gemeinde im Osten Kolumbiens gründete, haben bemerkt, daß der soziale Aspekt in die umweltgerechten Praktiken mit einfließen muß. In dem vor 30 Jahren in der Trockensavanne von Vichada gegründeten Gaviotas gewinnen und destillieren 30 Familien Baumharz aus Karibikkiefern. Das Harz wird in einer Reihe von Produkten eingesetzt, die von Fraben bis zu Kolophonium für Geigen reicht. Die Ingenieure von Gaviotas haben mehr als 50 ökologisch vertretbare Erfindungen gemacht, darunter Solarheizungen und Mikroaquädukte für organische Produkte. Die Idee, eine von Pestiziden, Gen- und Biotechnologie freie Nahrungsmittelproduktion anzustreben, entstand, weil die „grüne Revolution“, die in den sechziger Jahren mit einer Großzahl von Hochertragssamen und einer mechanisierten Landwirtschaft Lateinamerika erreichte, keine „grünere“ Welt bedeutete.
Obwohl Gaviotas ein Traum zu sein scheint, haben sich in der Region dennoch Ökotechnologie, organischer Landbau und der Anbau natürlicher Ressourcen verbreitet. Wissenschaftler, Umweltschützer und Landwirte loben die neün Anbautechniken und nutzen gesunde ökologische Praktiken und traditionelle Methoden, wie zum Beispiel den Einsatz natürlicher Räuber statt Pestizide. Sogar die Weltbank erwähnte in einer jüngeren Veröffentlichung die integrierte Schädlingsbekämpfung, wie die althergebrachte Anwendung natürlicher Räuber, der Rotationsfeldbau und der Einsatz einfacher Technologie – zum Beispiel das Aufhängen von mit Klebstoff bestrichenen Papierchen zur Verteidigung vor Insektenfraß – genannt werden. Mit diesem System der natürlichen oder biologischen Schädlingsbekämpfung, dem angemessenen Gebrauch des Ackerlandes und dem Ausbringen unterschiedlicher Samen gelingt es den Landwirten zunehmend, die Anfälligkeit der Pflanzen zu senken und zwischen schädlichen und nützlichen Insekten zu unterscheiden, obwohl weiterhin manipuliertes Saatgut im Gebrauch ist.
Vor den vierziger Jahren war kein Bauer auf die Idee gekommen, auf die integrierte Schädlingsbekämpfung zu verzichten. Doch die Entwicklung des DDT schuf eine vollständige Abhängigkeit von den Chemikalien. Nach Angaben des Worldwatch Institute, welches Umweltstudien durchführt, ist Pestizideinsatz unter ökonomischen Gesichtspunkten immer schwerer zu rechtfertigen. Dabei müssen neben den Vergiftungseffekten und den langfristigen Gesundheitsschäden auch die Markteinführungskosten für ein neues Pestizid berücksichtigt werden. Diese liegen zwischen 20 und 45 Millionen US-Dollar pro Produkt. Hinzu kommt eine zunehmend geringere Schutzwirkung der Chemikalien. Pestizidresistente Schädlinge und Krankheiten reduzieren den Ertrag im Schnitt um dreißig Prozent. Das ist genausoviel wie vor dem allgemeinen Einsatz der Agrarchemikalien. Die integrierte Schädlingsbekämpfung hingegen verlangt noch nicht einmal ein striktes Einhalten organischer Methoden. Viele Landwirte sagen, sie benötigten immer noch die Biotechnologie und den vereinzelten Pestizideinsatz, um die Normen für den Export zu erfüllen. Gemäßigte Umweltschützer meinen, dieses sei zumindest ein Schritt in die richtige Richtung.
Die radikaleren Umweltgruppen versichern, die einzige und wirkliche nachhaltige Landwirtschaft sei die organische, ohne Pestizide, chemische Düngemittel oder genetisch verändertes Saatgut. Vor allem auf der Nordhalbkugel gebe es viele Verbraucher, die bereit seien, für ein chemiefreies Produkt mehr Geld auszugeben. Bei einer angebrachten Kommerzialisierung würden die organischen Produkte auch bessere Preise erzielen. Noch immer behindern Probleme mit der Beurteilung und die unterschiedlichen nationalen Normen die Bewegung, die außerdem große Investitionen in den Umweltschutz benötigt. Der von Chemikalien freie Kompost, bestehend aus organischen Abfällen wie Eierschalen, Küchenabfällen und Zeitungspapier, hat besonders in Gegenden mit verarmten Böden, wie in den trockenen und erodierten Böden des peruanischen Cusco, ausgezeichnete Ergebnisse aufzuweisen.
Juan Diego López von der NGO Pukllasunchis unterrichtet Umweltschutz in Cusco und hat ein Kompostprojekt initiiert und Terrassen für den Anbau in einer örtlichen Schule angelegt. „In ländlichen Gegenden haben die Menschen fast immer einen Komposthaufen, doch wenn sie in die Stadt ziehen, verändern sie ihre Gewohnheiten,“ sagt López. Er hofft, den ökologischen Landbau auch in die Stadt bringen zu können. Die Terrassen erlaubten den Bauern einen erosionsfreien Anbau und ein komplexes Bewässerungssystem, welches mit der Zeit aufgegeben wurde. Viele Organisationen in Cusco sehen im Moment Texte über nachhaltige Landwirtschaft durch, um zu sehen, welche sich in der Praxis umsetzen läßt.
Die Grüne Revolution das Gelbe vom Ei ?
Trotz aller Erfolge der Verteidiger nachhaltiger Landwirtschaft, investieren mächtige Feinde dieser Idee Milliarden Dollar in landwirtschaftliche Untersuchungen. Die Weltbank ist trotz der Erwähnung der integrierten Schädlingsbekämpfung nach wie vor der Meinung, daß die „grüne Revolution“ das Gelbe vom Ei ist. „Wenige Erfahrungen illustrieren besser das Wissenspotential für die Entwicklung – oder die Hindernisse bei der Übermittlung dieses Wissens – als die grüne Revolution, diese weltweite jahrzehntealte Bewegung zur Schaffung und Verbreitung neuer landwirtschaftlicher Methoden“, heißt es in einem Weltbankbericht von 1998. Kritiker in ganz Lateinamerika sagen hingegen, die „grüne Revolution“ habe nicht nur verheerende Umweltschäden angerichtet, sondern auch die Reichen überdurchschnittlich reicher gemacht.
Dem Worldwatch Institute zufolge ziehen weltweit jede Woche eine Million Menschen vom Land in die Stadt. Obwohl die argentinische Agrarindustrie insgesamt 65 Milliarden Tonnen pro Jahr produziert, ist ein Drittel der mittelländischen oder Kleinbauern in den letzten zehn Jahren in die Städte gezogen. Das liegt wesentlich an den niedrigen Preisen für ihre Produkte und der Konkurrenz durch die großen Agrarunternehmen, die zum überwiegenden Teil ausländisch sind. In Brasilien widerspricht der Zug in die Städte den Regierungsangaben über den Erfolg der Agrarreform. Offiziellen Zahlen zufolge fiel die Zahl der in der brasilianischen Landwirtschaft Beschäftigten von 23,4 Millionen im Jahr 1985 auf 17,9 Millionen 1995, ein Verlust von 23 Prozent. Die Regierung ist bei der Umverteilung der großen Plantagen nur langsam vorangekommen. Obwohl das Landwirtschaftministerium versichert, 287.539 Familien seine seit 1995 auf landwirtschaftlichen Flächen umgesiedelt worden, stellt die Bewegung der Landlosen (MST) diese Zahl in Frage und sagt, sie werde weiterhin unproduktiv genutztes Land besetzen.
Nicht alle landlosen Bauern ziehen in die Städte. Umweltschützer und Vertreter indigener Völker versichern, die Besiedelung trage wesentlich zur Zerstörung Amazoniens bei. Der Wald gehe nicht nur an der Errichtung großer Haciendas zugrunde, sondern auch aufgrund einer zunehmenden Infrastruktur wie beispielsweise Autostraßen, die dazu diene, den Neubewohnern, landlosen Bauern, den Weg zu erschließen. Der Direktor der in Kanada ansässigen internationalen Stiftung für ländliche Entwicklung RAFI, Pat Mooney, meint, die Umweltschützer sollten die Bauern nicht kritisieren, sondern sich der Agrarreform anschließen. Die Stärkung ländlicher Gemeinden, „nicht der Entzug biologischer Ressourcen, ist die einzige Form der Zukunftssicherung“, sagt er. RAFI steht an der Spitze einer Klagekampagne über mögliche Folgen der biotechnologischen Fortschritte in Entwicklungsländern. So geht die Gruppe beispielsweise gegen eine Technologie mit Namen „Terminator“ vor, die Pflanzen so genetisch beeinflußt, daß sie nur noch unfruchtbare Samen hervorbringen. Monsanto, eine der größten Biotechnologiefirmen, arbeitet an einem „Technologisches Schutzsystem“ genannten, USA-exklusiven Patent.
„Terminator“, so RAFI, sei eine Gefahr für die biologische und landwirtschaftliche Vielfalt und schädige die ländlichen Erzeuger in Entwicklungsländern, die von gesammeltem Saatgut und der örtlichen Reproduktion der Pflanzen abhängig seien. Monsanto und seine Ableger Delta und Pine verteidigen die neue Technologie. Sie erhöhe die Erträge und dies sei entscheidender als die Besorgnisse der Landwirte. „Terminator wird die Landwirtschaft nicht verbessern,“ versichert Hope Shand von RAFI. „Es wird das Saatgut sterilisieren, die Kontrolle über sämtliche Samen und die Fortpflanzung der landwirtschaftlich nutzbaren Pflanzen ermöglichen und die Gewinne von Monsanto steigern.“ Um die 30 Prozent des 23 Milliarden Dollar umfassenden Saatgutmarktes ist in den Händen von zehn Firmen, heißt es bei RAFI. Die größten drei, Pioneer Hi-Bred International, Monsanto und Novartis verzeichneten Gewinne von mehr als 4 Milliarden Dollar jährlich.
Trotz alledem haben einige Erfolge die nachhaltige Landwirtschaft gestärkt. In Mittelamerika haben viele Landwirte festgestellt, daß ihre nachhaltigen Methoden den Wirbelsturm Mitch überlebt haben. Kleinbauern, die Hänge terrassierten, litten nicht unter den Schlammlawinen, während die Megaunternehmen wie Chiquita und Dole alles verloren. „Mitch hat dem Land die Möglichkeit zum Überdenken des Entwicklungskonzeptes gegeben,“ sagt Amado Ordónez vom Humboldtzentrum, einer nicaraguanischen Umweltschutzeinrichtung. Aus der Vergangenheit lernen, in der Gegenwart arbeiten und in die Zukunft schauen. Landwirte und Wissenschaftler in den Projekten nachhaltiger Landwirtschaft wollen mehr, als nur die landwirtschaftliche Entwicklung überdenken. Zusammen kultivieren sie den Samen für eine baldige „grünere Revolution“.
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