von Frei Betto*
(Quito, 10. Juli 2013, alai/amerika21).- Die Demonstrationen in den Straßen von Brasilien machen Analyst*innen und Politolog*innen ratlos. Parteiführer*innen und Politiker*innen fragen sich perplex: Wer führt diese Bewegung, wenn wir nicht dabei sind? Ich erinnere mich, als ich Ende 1973 aus dem Gefängnis kam. Als ich vier Jahre zuvor rein kam, dominierte die Studentenbewegung in Reaktion auf die Diktatur.
Beim Verlassen fand ich eine soziale Bewegung – kirchliche Basisgemeinden, Gewerkschaftsopposition, Mütter-Gruppen, Kampf gegen die Teuerung – die mich überrascht hat. Von der Spitze meines elitären Avantgardetums stellte ich mir die Frage: Wie ist es möglich, wenn wir Führer inhaftiert wurden? Mit der gleichen Ratlosigkeit stand Marx der Pariser Kommune im Jahre 1871 gegenüber; die französische Linke dem Mai 1968 und die weltweite Linke dem Fall der Berliner Mauer und dem Zerfall der Sowjetunion im Jahr 1989.
„Das Leben übersteigt die Idee“, sagte mein Mönchsbruder Tomás von Aquin im 13. Jahrhundert. In Brasilien stehen jetzt alle politischen Führer*innen verwirrt und verärgert den jüngsten Demonstrationen gegenüber. Mit der gleichen missgünstigen Fragestellung, mit der die historische Linke in Brasilien die Entstehung der Arbeiterpartei PT im Jahr 1980 sah: Was für eine Geschichte ist das, dass jetzt die Proletarier*innen die Avantgarde des Proletariats sein wollen? Historisch gesehen waren wir Anführer der brasilianische Linken Männer aus der Mittelschicht (Astrogildo Pereira, Mario Aves und João Amazonas), aus militärischen Kreisen (Prestes, Gregorio Bezerra, Apolonio de Carvalho) und Intellektuelle (Gorender und Cayo Prado Junior). Marighella war einer der wenigen Anführer aus den Volksklassen.
Politiker*innen haben sich von der Zivilgesellschaft getrennt
Die Nachricht von den Straßen ist einfach: unsere Regierungen entfernen sich von der sozialen Basis. Um eine marxistische Kategorie zu verwenden, die politische Gesellschaft hat sich von der Zivilgesellschaft getrennt, eine Gefahr, auf die ich bereits in dem Buch „Die blaue Fliege. Reflexion über die Macht“, im Jahr 2005 hingewiesen habe. Die Gesellschaft der politischen Exekutive, Legislative und Judikative ist davon überzeugt, tatsächlich das brasilianische Volk zu vertreten und hat die repräsentativen Bewegungen der Zivilgesellschaft unter Kontrolle gehalten, wie es heute mit den Gewerkschaftsverbänden UNE und der CUT geschieht.
Nicht vom Brot allein lebt der Mensch, sagte Jesus. Obwohl die zehn Jahre PT-Regierung die sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen des Landes verbessert haben, sah das Volk seinen Hunger nach Schönheit (Bildung, Kultur und politische Partizipation) nicht gestillt. Die PT-Regierung entschied sich für eine Regierungsfähigkeit, die vom Nationalkongress abgesichert ist, in dem noch immer die von Lula angeprangerten „300 Gauner“ sitzen. Eine Regierungsfähigkeit, die von den sozialen Bewegungen unterstützt wird, wie Evo Morales es mit Erfolg in Bolivien getan hat, wurde gering geschätzt. (…)
Parteien bedeuten nicht gleich Demokratie
Was nicht einmal der Geheimdienst ABIN (das geheime Auge und Ohr der Regierung) vorher sah, war der plötzliche Tsunami des Volkes, der sich in den Straßen des Landes ausbreitete – mitten im Confederations-Cup, als erwartet wurde, dass alle ihre Aufmerksamkeit auf die Spiele richten. Nun hat die Regierung sich den Diskurs ausgedacht, dass es ohne Parteien weder Politik noch Demokratie gibt. Aber eine Stunde Unterricht in der Mittelschule genügt um zu lernen, dass die Demokratie in Griechenland viele Jahrhunderte vor der christlichen Zeitrechnung geboren wurde und lange vor dem Auftauchen der politischen Parteien.
Heute blockieren die meisten der Parteien die Demokratie, indem sie eine Regierung des Volkes durch das Volk verhindern. Es genügt nicht zu behaupten, für das Volk zu regieren und sich schon für einen Demokraten zu halten. Das Volk auf den Straßen fordert neue Mechanismen der demokratischen Beteiligung, während es sein Misstrauen gegen die Parteien ausdrückt. Diese sind verpflichtet, ihre politischen Methoden zu erneuern oder sie werden von der Zivilgesellschaft überrollt werden.
Das ist die Botschaft der Straßen: partizipative Demokratie, nicht nur delegierte, das bedeutet Regierung des Volkes mit dem Volk und für das Volk. Das ist keine Utopie, wenn man das Mehrparteiensystem nicht als ewiges Modell ansieht und zugesteht, dass die demokratische Regierungsform neue Arten der Beteiligung der Bevölkerung in den Bereichen der Macht erzeugen kann und soll.
*Frei Betto ist Dominikaner, brasilianischer Befreiungstheologe und Schriftsteller
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