Poonal Nr. 409

Deutsche Ausgabe des wöchentlichen Pressedienstes lateinamerikanischer Agenturen Nr. 409 vom 19. November 1999

Inhalt


HAITI/DOMINIKANISCHE REPUBLIK

KUBA

EL SALVADOR

NICARAGUA

HONDURAS

GUATEMALA

LATEINAMERIKA

CHILE

KOLUMBIEN

VENEZUELA

BRASILIEN

ARGENTINIEN/SPANIEN


HAITI/DOMINIKANISCHE REPUBLIK

Schlechte Nachbarschaft wird fortgesetzt

(Port-au-Prince, 12. November 1999, pulsar-Poonal).- In den letzten Tagen wurden hunderte von Haitianern und haitianischen Dominikanern von den Behörden der Dominikanischen Republik nach Haiti abgeschoben. Dies bestätigten die haitianischen Behörden. Seit dem Beginn der Operation Ende letzter Woche vertreibt dominikanisches Militär Angehörige des Nachbarstaates über die Grenze beider Länder. Laut dem Direktor des Nationalen Büros für Migration in Haiti, Carol Joseph, kommen die Abgeschobenen selbst aus weit abgelegenen Teilen der Dominikanischen Republik. Die haitianische Botschafterin in der Grenzstadt Dajabon beschuldigte die dominikanischen Militärs, die Haitianer zu misshandeln. Eine Frau sei abgeschoben worden, ohne ihr vor 20 Tagen geborenes Kind mitnehmen zu Kannen. Andere seien ohne ihre Hab und Gut deportiert worden, weil sie außerhalb ihrer Häuser verhaftet worden wären. Unter den Abgeschobenen befinden sich viele Menschen, die in der Dominikanischen Republik geboren wurden. In Haiti werden Stimmen laut, welche die Regierung auffordern, das Problem internationalen Organisationen vorzutragen. Bis jetzt gibt es noch keine offizielle Reaktion der haitianischen Behörden auf die Massenabschiebungen.

KUBA

UNO fordert Ende des US-Embargos gegen Kuba

(Havanna/New York, 10. November 1999, pulsar-Poonal).- Die Generalversammlung der Vereinten Nationen (UNO) unterstützte eine Resolution, welche die USA mit Nachdruck dazu auffordert, das Wirtschaftsembargo gegen Kuba zu beenden. Diese Resolution wurde im achten Jahr in Folge beschlossen. Lediglich Israel stimmte mit den USA. Das Ergebnis lautete 155 zu 2 Stimmen bei 8 Enthaltungen. Damit wurde die Resolution von nahezu allen Staaten getragen, die ansonsten mit Washington eng kooperieren. Diese Länder argumentieren, dass ihre eigene Souveränität durch die Auswirkungen des Embargos verletzt würde.

Aufgrund des Embargos erleiden Unternehmen außerhalb der USA, die mit Kuba Geschäftsbeziehungen unterhalten, Sanktionen durch die USA. Die USA lehnten die Resolution ab und wiederholten ihren Willen, das seit über 40 Jahren aufrecht erhaltene Embargo weiter zu führen. Ein Sprecher des State Departments des Weißen Hauses erklärte, dass das Wirtschaftsembargo gegen Kuba eine bilaterale Angelegenheit wäre, die nicht vor der Generalversammlung der UNO verhandelt werden dürfte.

Das Helms-Burton Gesetz von 1996 verschärfte das US-Embargo gegen Kuba zusätzlich. Nach diesem Gesetz Können Kubaner, die nach der Revolution von 1959 amerikanische Staatsbürger geworden sind, Unternehmen oder ausländische Einzelpersonen anzeigen, die Handelsbeziehungen mit ihrem von der kubanischen Regierung konfiszierten ehemaligen Besitztümern unterhalten. Der Präsident der kubanischen Nationalversammlung Ricardo Alarcón erklärte, dass sein Land eine Schadensersatzklage über mehr als 100 Milliarden Dollar wegen der großen Schäden, die durch das Embargo verursacht würden, gegen Washington vorbereite. Alarcón teilte allerdings noch nicht mit, vor welchem Gericht die Klage eingereicht werden soll.

Kritik am US-Embargo und Pinochet-Prozeß dominiert Ibero-Gipfel

Abschlußerklärung betont Respekt der nationalen Souveränität

Von Boris Kanzleiter

(Mexiko-Stadt, 17. November 1999, Poonal).- „Respekt vor der nationalen Gesetzgebung“ sowie die Einhaltung der Menschenrechte fordern die Teilnehmer des 9. Iberoamerikanischen Gipfels in der Abschlußerklärung von Havanna. Wie erwartet prägten die Kontroversen über die US-Blockade gegenüber dem Gastgeberland Kuba und über die in Spanien angestrengten Gerichtsverfahren gegen den chilenischen Ex-Diktator Augusto Pinochet sowie argentinische Generäle das Treffen. Damit standen zwei Begleiterscheinungen des Gipfels im Vordergrund, dessen Hauptthema eigentlich „die internationale finanzielle Situation in einer globalisierten Wirtschaft“ war.

Das Treffen war das neunte seiner Art. Jedes Jahr kommen die Regierungsoberhäupter aus Lateinamerika, Spanien und Portugal zusammen, um sich über die zwischenstaatlichen Beziehungen auszutauschen sowie den kulturellen und politischen Zusammenhalt Lateinamerikas mit den ehemaligen Kolonialmächten Spanien und Portugal zu bekräftigen.

Doch bereits im Vorfeld des Gipfels war die Harmonie durch die Absagen von fünf Staatschefs getrübt worden: Chiles Ministerpräsident Eduardo Frei protestierte damit gegen das Auslieferungsbegehren Spaniens gegen den noch immer in London festgehaltenen ehemaligen Diktator Pinochet. Das Vorgehen des Richters Baltasar Garzon verletze die Souveränität der chilenischen Rechtsprechung, erklärte er.

Dem schloss sich der noch amtierende argentinische Regierungschef Carlos Menem an, der das Auslieferungsbegehren des selben Richters gegen beinahe hundert Militärs und Zivilisten kritisiert, denen in der Zeit der Militärdiktatur zwischen 1976 und 1983 schwere Verletzungen der Menschenrechte vorgeworfen werden. Die Präsidenten von Nicaragua, El Salvador und Costa Rica dagegen boykottierten die Zusammenkunft, weil sie die Kubanische Revolution von 1959 als „totalitär“ bezeichnen.

Unbeeindruckt von den Absagen nutzte Kubas comandante en jefe Fidel Castro seine Position als Gastgeber, um nach der nahezu einmütigen Verurteilung des US-Wirtschaftsembargos gegen Kuba durch die UNO-Generalversammlung vergangene Woche ein zweites Votum von internationalem Gewicht gegen die Politik der USA zu erreichen. Gleichzeitig hatte US-Außenministerin Madeleine Albright die Teilnehmer des Treffens schriftlich dazu aufgefordert, öffentlich das Fehlen von politischen Freiheiten auf Kuba zu beklagen und sich mit Dissidenten zu treffen. Dies bezeichnete der kubanische Außenminister Felipe Perez Roque vor den 1.200 akkreditierten Journalisten als „beschämende Einmischung, um den Gipfel zu sabotieren.“

Letztlich fanden die anwesenden Regierungschefs einen Mittelweg. Einige von ihnen, wie Spaniens José Maria Aznar und Portugals Antonio Guterres, trafen sich im Vorfeld mit Oppositionellen. Dennoch bekräftigt die Abschlusserklärung explizit die Verurteilung des US-Embargos gegen Kuba und des Helms-Burton Gesetzes, das Sanktionen gegen Unternehmen vorsieht, die mit Kuba wirtschaftliche Beziehungen pflegen.

Auch die Positionen der chilenischen und argentinischen Regierungen konnten sich teilweise durchsetzen. Obwohl die Erklärung den Fall Pinochet nicht ausdrücklich erwähnt, bekräftigt sie die „energische Ablehnung gegen die einseitige und extraterritoriale Anwendung von nationalen Gesetzen, die dem internationalen Recht widersprechen und versuchen, dritten Ländern ihre eigenen Gesetze und Regelungen aufzuerlegen.“ Die diplomatischen Gefechte um diesen Passus waren aber letztlich symbolisch, weil die Erklärung nicht rechtsbindend ist und die spanische Regierung den Fall Pinochet und den der argentinischen Generäle dadurch nicht angetastet sieht.

EL SALVADOR

Ex-Guerilleros begehen 10. Jahrestag ihrer größten Offensive

El Salvador ist bis heute ein gespaltenes Land

Von Ivan Castro

(San Salvador, 13. November 1999, Poonal).- Hunderte Ex- Guerilleros, viele von ihnen in Kampfuniform, marschierten Ende vergangener Woche durch die Hauptstadt von El Salvador. Sie erinnerten an den zehnten Jahrestag der größten Rebellenoffensive des jahrelangen Bürgerkrieges, die zugleich als Startschuß für die Friedensverhandlungen in dem mittelamerikanischen Land gilt. Die ehemaligen Mitstreiter der FMLN (Frente Farabundo Marti para la Liberacion Nacional), die einem Aufruf der „Vereinigung der Ex- Kämpfer folgten, demonstrierten auch gegen die wachsende Armut und die sozialen Probleme in ihrem Land.

Die Ehrenrede für die 400 während der Offensive gefallenen Guerilleros hielt Pedro, der bereits mit 16 Jahren der Guerilla beitrat und über zehn Jahre nahe des Vulkans Guazapa – nur wenige Kilometer nördlich der Hauptstadt San Salvador – kämpfte.

Die Offensive der FMLN, die heute als Partei die zweite politische Kraft des Landes darstellt, begann am 11. November 1989. Hunderte Guerilleros besetzen gleichzeitig Teile der Hauptstadt und andere Städte. Kurz darauf begann die Luftwaffe, die Stellungen der Rebellen zu bombardieren. über drei Wochen dauerten die erbitterten Kämpfe, bis sich die Guerilleros zurückzogen, ohne ihr Ziel – die „befreiten“ Gebiete kriegsentscheidend auszuweiten – zu erreichen.

Nach der gescheiterten Offensive war klar geworden, dass keine der beiden Seiten den Krieg militärisch für sich entscheiden könnte. Erst am 16. Januar 1992 endete der Konflikt, der 75.000 Tote, 8.000 Verschwundene und unzählige Verletzte forderte, auf dem Verhandlungsweg. Auch eines der scheußlichsten Verbrechen fiel in diese Zeit: Am 16. November ermordete eine Elite-Einheit der Armee sechs Jesuitenpriester und zwei Angestellte in den Räumen der Zentralamerikanischen Universität UCA.

Die konservative Regierungspartei ARENA, seit 1989 an der Macht, kritisierte das Gedenken an „die terroristische Offensive“. Das Datum sei ein guter Moment, um „diese gewalttätige Vergangenheit ein weiteres Mal zu verurteilen,“ erklärte die ARENA. Die ARENA- Partei, in deren Regierungszeit sowohl die Offensive wie auch die Verhandlungen fielen, wurde in den 80er Jahren von dem Ex-Major Roberto D'Aubuisson gegründet. D'Aubuisson gilt als Vater der paramilitärischen Todesschwadronen, die für die Ermordung oder das Verschwinden von Tausenden Menschen verantwortlich gemacht werden.

Nicht nur die ARENA-Erklärung zeigt, dass die Gegensätze von damals heute noch aktuell sind. Der frühere FMLN-Kommandant Sanchez erklärte auf der Abschlußveranstaltung, obwohl die ARENA die Friedensverhandlungen ermöglicht habe, seien deren Regierungen, bis hin zum heutigen Präsidenten Francisco Flores, für die Rückständigkeit des Landes verantwortlich.

Doch die einstige Rebellenarmee ist heute, als politische Partei, in zwei Flügel gespalten: Orthodoxe und Reformer streiten um Ziele und Posten, wodurch es der FMLN bisher nicht gelang, über Wahlen an die Macht zu gelangen. Der „orthodoxe“ Sanchez meint, die anhaltende Armut und Ausgrenzung könnten in naher Zukunft „eine starke Bewegung bis hin zum bewaffneten Kampf“ hervorbringen.

Ehemalige Armeechefs Räumen inzwischen ein, dass die Offensive vor zehn Jahren das Panorama des Bürgerkrieges veränderte: „Wir wußten von den Angriffsplänen, doch haben wir die Schlagkraft der FMLN unterschätzt,“ erklärte der Ex-General Mauricio Vargas. Der damalige Vizestabschef bedauerte die Ermordung der Jesuiten, die damals „das Kräfteverhältnis verändert hat“. Für den Mord wurden mehrere Militärs verurteilt, später jedoch im Rahmen einer Amnestie wieder freigelassen.

Zehn Jahre nach dem Mord an sechs Jesuitenpatern in El Salvador:

Was ist aus der Befreiungstheologie geworden?

Von Andreas Boueke

(San Salvador, November 1999, npl).- Nur zweimal am Tag fährt ein Güterzug über die Gleise im Osten der salvadorianischen Hauptstadt. Die Bahntrasse wird an einigen Stellen von ehemaligen Kriegsflüchtlingen bewohnt, deren ärmliche Behausungen aus Holzplatten und Abfall keine zwei Meter von den Gleisen entfernt stehen. Das Gelände gehört der Bahngesellschaft, die schon bald eine Räumung anordnen könnte. Aber wohin sollen die Menschen gehen?

Wenn der Lokführer die Einfahrt des Zugs durch ein lautes Signal ankündigt, laufen barfüßige Kinder durch provisorische Abwasserrinnen zu ihren Müttern, während sich die Ratten in ihre Löcher unter den Betten der Familien verkriechen. Der Generalvikar des Erzbistums von San Salvador, Modesto Lopéz, hat sich an die soziale Not seiner Landsleute gewöhnt: „Es hat immer diejenigen gegeben, die das Kapital besitzen, und es wird immer arme Leute geben.“ So als sei die Armut gottgewollt.

Eine solche Auffassung lehnt der deutsche Dominikanerpater Gerhard Pöter vehement ab. Er arbeitet seit fünfzehn Jahren mit den ärmsten Bevölkerungsgruppen El Salvadors: „Die Kirche muß den Armen helfen. Die Botschaft des Evangeliums richtet sich an die Benachteiligten, an die, die an den Rand gedrückt werden: Ihr seid nicht der letzte Dreck, irgendwelcher Abfall. Wenn man hier lebt,“ das weiß Pater Gerhard Pöter genau, „merkt man auf Schritt und Tritt, wie die Leute sich selber abwerten und wie sie durch das System, in dem sie leben, abgewertet werden.“

Die salvadorianische Gesellschaftsordnung, die den Armen keinen Ausweg aus ihrem Elend bietet, war die Ursache für einen elf Jahre lang andauernden Bürgerkrieg, der 80.000 Menschen das Leben gekostet hat. Die Armee reagierte mit brutaler Repression auf die Forderungen der Gewerkschaften nach höheren Löhnen und den bewaffneten Kampf der Guerilla. Generalvikar Modesto Lopéz meint: „Die Guerilla hat Krieg gesSt und Krieg geerntet. Die Armee mußte die Nation verteidigen.“

Die meisten Opfer der Gewalt wollen diese Sicht der Dinge nicht bestätigen. Hilda Certerón zum Beispiel, ein Mitglied der Gemeinde von Gerhard Pöter, hat während des Kriegs sechs Jahre lang auf der Flucht in den Bergen gelebt. Sie erzählt: „Die Soldaten schauten nicht einmal hin, ob sie Kinder oder Erwachsene erschossen haben. Sie mußten vor den Einsätzen Drogen nehmen, damit sie mehr Mut und weniger Skrupel hatten. Ihre Vorgesetzten haben ihnen gesagt, sie würden Kollaborateure der Guerilla töten und die Söhne und Töchter von Kommunisten.“

Zu den bekanntesten Opfern des salvadorianischen Bürgerkriegs gehören die sechs Pater der Jesuitenuniversität UCA, die am 16. November 1989 in ihrer Gemeinschaftswohnung auf dem UniversitStsgelände regelrecht hingerichtet wurden. In Armeekreisen galten sie als intellektuelle Köpfe der Guerilla. Das Massaker war vom Generalstab beschlossen und von der Elitetruppe Atlacatl durchgeführt worden. Kurz zuvor hatte die Einheit an Kursen US-amerikanischer Militärberater teilgenommen.

In der freundlichen Atmosphäre des UCA-Campus studieren heute rund 8.000 Studenten, vorwiegend Kinder der wohlhabenden Schicht des Landes. Die gut ausgestatteten Fakultätsgebäude sind umgeben von hübschen Gärten. Etwas abseits von den Hörsälen liegt das Pastorale Zentrum der Universität, in dessen Vorgarten die sechs Professoren erschossen wurden. Der Theologe Jon Sobrino lebt noch immer in denselben Wohnräumen wie damals. Er hat das Massaker überlebt, weil er kurz zuvor zu einem Besuch nach Thailand abgereist war: „Natürlich war es ein Schock“, erinnert er sich. „In Thailand haben wir sofort eine Messe gehalten, in der ich von einer traurigen Nachricht gesprochen habe. Aber ich hatte auch positive Dinge zu berichten: Diese Menschen werden uns immer ein Vorbild sein. Sie haben nicht für Geld gelebt oder für Ruhm, sondern sie haben auf der Seite der Armen und Unterdrückten gestanden.“

Die ermordeten Jesuitenpater gehörten zu den prominentesten Vertretern der Befreiungstheologie, eine Theologie lateinamerikanischen Ursprungs, die alle Christen dazu aufruft, die Realität aus der Sicht der armen und benachteiligten Bevölkerungsschichten zu betrachten und diese in ihrem Befreiungskampf zu unterstützen. Die Befreiungstheologie identifiziert die reichen Länder des Nordens als Komplizen der Eliten des Südens und sieht es als die christliche Aufgabe der mächtigen Gruppen der Gesellschaft an, eine Haltung sozialer Gerechtigkeit und Solidarität gegenüber den Machtlosen einzunehmen.

Doch nicht nur Amtsträger der katholischen Kirche haben die Positionen der Befreiungstheologie verteidigt. Auch Medardo Goméz, Bischof der salvadorianischen Lutheraner, orientiert sein pastorales Handeln an den Bedürfnissen der Armen: „Die Befreiungstheologie ist eine Antwort für die Opfer. Gott sagt eindeutig: 'Ich stehe auf eurer Seite, ich höre eure Rufe.'“

Heute bemühen sich die meisten Kirchenführer nicht sonderlich um eine Bewahrung der befreiungstheologischen Botschaft. Der derzeitige Erzbischof San Salvadors, Monseñor Lacalle, hat die Befreiungstheologie als ein Relikt der Vergangenheit abgeschrieben. „Ich würde sagen, sie ist aus der Mode gekommen.“

Interview mit dem salvodorianischen Jesuitenpater Jon Sobrino:

„Glaube an Gott bedeutet, sich mit den Unterdrückten zu solidarisieren.“

Von Andreas Boueke

(San Salvador, November 1999, npl).- Der Baske Jon Sobrino lebt und arbeitet seit 1974 als jesuitischer Theologieprofessor an der UCA-Universität in San Salvador. Er war ein persönlicher Freund des von den Militärs getöteten Erzbischofs Oscar Romero und hat vor zehn Jahren als einziger Mitbewohner der Jesuitengemeinschaft der UCA das Massaker überlebt. Am 16.November 1989 ermordete eine Eliteeinheit der Armee sechs Jesuitenpater, deren Haushälterin und ihren Sohn. Jon Sobrino ist einer der bekanntesten Theoretiker der lateinamerikanischen Befreiungstheologie.

Frage: Wie ist die Befreiungstheologie entstanden?

Sobrino: Es begann mit einer Bewegung, mit Menschen, die in den sechziger und siebziger Jahren gesagt haben: „Die Welt lebt mit einer großen Sünde. Die Bedürftigen und Unterdrückten sterben langsam oder gewaltsam. An Gott zu glauben bedeutet, sich mit den Unterdrückten zu solidarisieren.“ Die Befreiungstheologie findet sich nicht in Büchern. Sie ist eine theoretische und praktische Haltung im Angesicht der Unterdrückung. An dem Tag, an dem es keine Unterdrückung mehr gibt, macht es keinen logischen und linguistischen Sinn mehr, von Befreiung zu sprechen.

Frage: Wie sehr hat der Marxismus die Befreiungstheologie beeinflußt?

Sobrino: Die Befreiungstheologie, Monseñor Romero und die Propheten Israels haben gesagt: „Die Akkumulation des Reichtums ist ein schrecklicher Skandal.“ Das ist so mit oder ohne Marx. Meiner Meinung nach ist es wichtig – und das sagt auch der Vatikan – daß sich die Theologie mit Marx auseinandersetzt. Er war ein bedeutender Theoretiker. Hier in El Salvador aber ist die Definition des Marxismus eine andere: Das was nicht sein darf, das Böse. Als Jesus mit den Armen gegessen hat, nannten sie ihn einen Trunkenbold. Als er sich mit Sündern und Prostituierten angefreundet hat, haben sie ihn verachtet. Wann immer jemand auftaucht, der das heuchlerische Verhalten der Mächtigen bloßstellt, wird er beschimpft, diffamiert und letztendlich umgebracht. Das ist ein historisches Gesetz, das schon lange vor der Befreiungstheologie existiert hat.

Frage: Welche Bedeutung hat die Befreiungstheologie heute?

Sobrino: Die Befreiungstheologie hat die Realität dieser Welt so direkt berührt wie keine andere Theologie unserer Tage. Aus diesem Grund hat die Realität reagiert. Die sechs Jesuitenpater dieser Universität sind nicht aus Zufall ermordet worden. Heute ist die Befreiungstheologie nicht mehr von demselben weltlichen Glanz umgeben wie in früheren Jahren. Die meisten Studenten in El Salvador interessieren sich nicht besonders für diese Dinge, aber auch nicht die Studentinnen in den USA, in Deutschland oder sonst irgendwo. Das ist die Globalisierung des Desinteresses, die Globalisierung einer Überzeugung, daß das Wichtigste im Leben das Geld ist. Es gibt heute weniger Bücher über die Befreiungstheologie, weniger interessierte Bischöfe, weniger Basisgemeinden. Doch ich glaube, im kollektiven Bewußtsein der Christen ist die Befreiungstheologie noch immer präsent. Warum sonst würden so viele Leute nach ihr fragen?

Frage: Haben sich die Lebensbedingungen der Armen verbessert?

Sobrino: In El Salvador gibt es heute mehr Armut als in den siebziger Jahren. Mit der Globalisierung, der Privatisierung und der Demokratie gibt es heute mehr Armut. In ganz Lateinamerika hat die Armut zugenommen, mit Ausnahme von Chile. Es ist zynisch, darüber zu sprechen, was von der Befreiungstheologie übrig geblieben ist, ohne gleichzeitig danach zu fragen, warum heute mehr Menschen in Armut leben.

Prominenter Homosexueller erhält Todesdrohungen

(San Salvador, 10. November 1999, pulsar-Poonal).- William Hernández, eine der führenden Persönlichkeiten der Homosexuellenvereinigung „Unter Freunden“ wurde mit dem Tod bedroht. Nur wenige Tage zuvor war der Transsexuelle José Armando Rivera, alias Doris, ein anderes Mitglied der Organisation, ermordet worden. Die Drohungen wurden bei Telefonanrufen an das Büro der Vereinigung ausgesprochen. Eine anonyme Stimme sagte der Sekretärin, sie solle Hernández ausrichten „er solle Nachts nicht auf die Straße gehen“, weil ihm ansonsten etwas passieren könne. Hernández, teile mit, dass er nicht zum ersten Mal Opfer von Todesdrohungen sei. Er beklagte das mangelnde Interesse des Staates und einiger Menschenrechtsorganisationen. Sie würden die Morde an Homosexuellen und Lesben in El Salvador, welche nie aufgeklärt würden, nicht genügend ernst nehmen.

NICARAGUA

Verhaftung des Obersten Rechnungsprüfers schlägt Wellen bis nach Europa

(Managua, 13. November 1999, pulsar-Poonal).- Die Verhaftung von Agustín Jarquin, dem Obersten Rechnungsprüfer Nicaraguas am 10. November kann nach Angaben von Repräsentanten europäischer Regierungen die Beziehungen zur nicaraguanischen Regierung schwer belasten. Der dänische Botschafter in Managua Orla Bakdal erklärte, dass vor allem Geberländer und internationale Banken besorgt sind. Agustín Jarquin wurde des Betrugs und illegaler Bereicherung angeklagt, nachdem er das zweifelhafte Geschäftsgebaren des Präsidenten Arnoldo Alemán untersucht hatte. Unter anderem ging er Verdächtigungen nach, denen zufolge Alemán sich mit illegalen Grundstücksgeschäften bereichert hat. Der Präsident drohte dem Rechnungsprüfer darauf hin öffentlich mehrmals mit Konsequenzen. Der Fall Jarquin wird in europäischen Ländern, die Nicaragua unterstützen, aufmerksam verfolgt. Vor einigen Monaten kam es bereits zu Konflikten zwischen der deutschen und der nicaraguanischen Regierung in einem anderen Fall. Die nach der Zerstörung von Teilen Nicaraguas durch den Wirbelsturm Mitch aus Deutschland gelieferten Hilfsgüter sollen nicht zweckgemäß verteilt worden sein.

HONDURAS

Unternehmer sollen Todesschwadronen organisiert haben

(Tegucigalpa, 12. November 1999, pulsar-Poonal).- Die Unternehmer Pablo Orellana Escobar und René Mejía Serrano, letzterer ein ehemaliger Oberst der Armee, werden beschuldigt, im Norden von Honduras Todesschwadrone organisiert zu haben. Diese Paramilitärs stehen im Verdacht, angebliche Kriminelle zu ermorden. Die Anzeige wurde von Andrés Pavón, dem Präsident des Komitees zur Verteidigung der Menschenrechte in Honduras, eingereicht. Sie basiert auf den Aussagen eines Opfers der Todesschwadrone, das entkommen konnte, weil es für tot gehalten wurde.

Der Zeuge wird derzeit von Menschenrechtsorganisationen beschützt. Er erklärte, dass er zusammen mit zwei weiteren Personen in Villanueva, etwa 200 Kilometer nördlich der Hauptstadt Tegucigalpa, von Maskierten entführt wurde. Bevor sie zu schießen begannen, erklärten die Maskierten, sie handelten im Auftrag von Oberst Mejía. Andrés Pavón beschuldigt nun das Sicherheitsministerium, die Organisation von Todesschwadronen zu ermöglichen, weil es den Aufbau von Komitees für Zivilverteidigung fördert.

Oberst Mejía ist Koordinator des Komitees für Zivilverteidigung in Villanueva. Ihm unterstehen etwa 200 Bewaffnete unterstehen. Pavón sagte, dass in diesem Jahr bisher etwa 190 Personen außergerichtlich hingerichtet wurden. Eduardo Facussé, Präsident des Rats der privaten Wirtschaft von Honduras und Onkel des honduranischen Präsidenten, meinte dagegen, die Beschuldigungen seien „dumme Witzchen“.

GUATEMALA

Gerardi-Mord: Weiterer Zeuge geht ins Exil

(Guatemala-Stadt, 12. November 1999, cerigua-Poonal).- Oscar Chex, ein ehemaliger Agent des militärischen Geheimdienstes, der bei Zeugenaussagen die Armee für den Mord an Bischof Juan Gerardi mit verantwortlich gemacht hat, ist aus Angst um sein Leben und das seiner Familie aus Guatemala ins Exil geflohen. Er ist damit die sechste Person, die aufgrund des Mordfalls das Land verlassen hat. Das erklärte Nery Ródenas, Direktor des Büros für Menschenrechte des Erzbischofs. Chex bestätigte, dass der militärische Geheimdienst in den Wochen vor dem Mord am 26. April 1998 das Telefon des Bischofs Juan Gerardi abhörte. Es wurde außerdem bekannt, dass das Militär drei weitere Bischöfe sowie Amílcar Méndez und Rosalina Tuyuc, zwei linksgerichtete Abgeordnete, abhörte. Dies macht deutlich, dass der Mord am Bischof, der als Verteidiger der Menschenrechte bekannt war, einen politischen und keinen persönlichen Charakter hatte, wie es die polizeilichen und militärischen Stellen behaupten. Die Staatsanwaltschaft verdächtigt 12 Mitglieder einer Eliteeinheit der Leibgarde des Präsidenten als Täter. Juan Gerardi beschuldigte die Armee für 90 Prozent der Toten während des 36-jShrigen Krieges in Guatemala verantwortlich zu sein.

LATEINAMERIKA

Indígenas wollen mehr Spielraum in der OAS

(Washington, 12. November 1999, pulsar-Poonal).- Vertreter von indigenen Völkern und Nationen aus ganz Amerika fordern mehr Mitwirkungsmöglichkeiten in der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS). Diese bereitet eine Deklaration über die Rechte der indigenen Völker des Kontinents vor, ohne dass die Betroffenen voll in die Diskussion einbezogen wurden. Vor allem in Brasilien und Argentinien soll – laut den Vertretern indigener Gruppen – ihre Mitwirkung um jeden Preis beschränkt werden. Die OAS beabsichtigt, die Rechte der indigenen Völker des Kontinents, die in ihrer großen Mehrheit in Armut und Marginalisierung leben, anzuerkennen. Die Deklaration verpflichtet die Staaten zwar nicht gesetzlich, stellt aber einen moralischen Druck dar. Die Indígenas bestehen darauf, als Völker anerkannt zu werden. Sie fordern das Recht auf Selbstbestimmung und ihren traditionellen Landbesitz zu behalten. Die Deklaration wird bereits seit sieben Jahren diskutiert. Es wird befürchtet, dass es weitere fünf Jahre dauern wird, bis sie fertiggestellt ist.

CHILE

Private Pensionsfonds: Rentabel, aber für wen?

Trauriges Erwachen für viele zukünftige Rentner vorprogrammiert

Von Pascale Bonnefoy

(Santiago de Chile, 8. November 1999, na-Poonal).- Nach 17 Jahren ihres Bestehens sind die privaten Pensionsfonds (AFP) keine Garantie für eine würdige Pension der chilenischen Rentner. „Ich fürchte, dass wir uns in der nächsten Regierung mit dem Thema AFP beschäftigen müssen, weil die Mehrzahl der Rentner eine Pension erhalten werden, die nicht an die Mindestrente heranreichen wird. Wer wird die Differenz bezahlen?“, sagte kürzlich der sozialistische Präsidentschaftskandidat Ricardo Lagos, der die besten Chancen hat, die Wahlen am 12. Dezember zu gewinnen.

Das Gesetz von 1981, welches das ausschließlich private Pensionssystem geschaffen hat, greift der Antwort voraus: Der Staat. Die Fonds verlangen von ihren Mitgliedern eine mindestens 20 Jahre währende Einzahlung und das Erreichen eines insgesamt eingezahlten Mindestbetrags von etwa 15.000 US-Dollar. Wenn man über 20 Jahre lang eingezahlt hat, aber den Mindestbetrag nicht erreicht, muss der Staat nach dem Gesetz den Rentner unterstützen, damit dieser auf die Mindestrente kommt. Diese liegt momentan bei 131 US-Dollar für unter 70-jShrige und bei 143 US-Dollar für über 70-jShrige. Wenn die 20 Jahre Einzahlungsfrist noch nicht erreicht sind, zahlt der jeweilige Pensionsfonds die Mindestrente lediglich solange aus, bis sich das angesparte Guthaben des Mitglieds erschöpft hat. Ab diesem Zeitpunkt muss der Staat eine Hilfsrente auszahlen, die derzeit 45 US-Dollar beträgt.

Landwirte, Händler, Taxifahrer und Kleinunternehmer, die – wie andere – kein festes monatliches Einkommen erzielen und daher oft nicht regelmäßig einzahlen, können lediglich die Mindestrente erhalten, die der Staat auszahlt. Die einzige Ausnahme einer obligatorischen Auszahlung bilden die Armee und Polizeikräfte, die bis heute im alten staatlichen System bleiben.

Bis jetzt mussten nur 6,5 Prozent derjenigen, die seit der Existenz der privaten Pensionsfonds in Rente gegangen sind, die staatlichen Zuschüsse in Anspruch nehmen, um eine Mindestrente zu erreichen. Aber einige Studien deuten darauf hin, dass sich das Bild ab dem Jahr 2010 dramatisch ändern könnte. Dann geht die erste Generation von Rentnern, die ausschließlich im privaten System Mitglied waren, in Pension. Möglicherweise, so die Befürchtungen, muss der Staat dann zwischen 50 und 70 Prozent der Rentner unterstützen.

Das alte staatliche System, das zwischen 1920 und 1980 in Kraft war und aus 52 Kassen und Fürsorgeeinrichtungen bestand, basierte auf einem Ausschüttungssystem, in dem die Einzahlungen der aktiven Mitglieder die Renten der passiven Mitglieder finanzierten. Obwohl nicht unbedingt eine höhere Rente ausbezahlt wurde, war das System doch kalkulierbarer als das aktuelle.

„Das alte System war etwas Stabiles und Sicheres und seine Verwaltungskosten waren viel geringer als die der AFP. Es gab keine wirkliche und objektive Rechtfertigung, das System zu ändern. Man machte es aus politisch-ideologischen Gründen, die den Rückzug des Staates verlangten. Das aktuelle System ist ein Risiko für die Mitglieder“, sagt der Wirtschaftswissenschaftler Claudio Lara, Beauftragter für ökonomische Fragen des regionalen Büros von Consumers International.

Die große Mehrheit der Mitglieder der Fürsorgekassen traten zum neuen System über, obwohl es für sie die Möglichkeit gab, im alten zu bleiben. Diejenigen allerdings, die nach 1981 ins Arbeitsleben eingetreten sind, hatten keine Wahl. Sie mußten obligatorisch Mitglied eines privaten Pensionsfonds werden. Heute haben die AFP sechs Millionen Mitglieder. Unter dem ausschließlich privaten System müssen die Arbeiter 13 Prozent ihres Lohnes auf ein Konto zur individuellen Kapitalbildung eines Fonds ihrer Wahl einzahlen. Die mehr als 33 Milliarden US-Dollar, die sich heute in den Händen der AFP befinden, können unter anderem in staatliche oder ausländische Wertpapiere, Depots und Titel, die durch Finanzinstitutionen garantiert werden, Hypothekenbriefe, private oder staatliche Wertpapiere oder Aktien investiert werden.

Die Auswirkungen der weltweiten Wirtschaftskrise in Chile und die hohen Zinsraten, die im letzten Jahr von der Zentralbank festgelegt wurden, haben dazu geführt, dass die AFP kontinuierlich die Gelder ihrer Mitglieder an den Börsen verloren haben. Die Situation hat die privaten Pensionsfonds dazu gezwungen, ihre Investitionen zu verändern, um sich vor den Börsenturbulenzen zu schützen. Ende 1998 hatten die AFP ihre Investitionen in Aktien von 40 Prozent auf 12 Prozent reduziert und 77 Prozent ihrer Investitionen in Wertpapiere mit festen Zinssätzen angelegt.

„Wir haben in die besten Unternehmen des Landes investiert, aber diese (deren Aktien) haben an Wert verloren. Die Regierung hat uns einen größeren Spielraum für Investitionen eingeräumt, aber andere Spielräume, die wir bereits hatten, eingeschränkt. Warum läßt sie uns nicht in Kupfer investieren, das rentabelste Geschäft im Land, oder in die Infrastruktur? Wenn die Verantwortlichen die Investitionen verhindern, wird es im Chaos enden“, warnt Pedro Corona, der Präsident des Verbandes der AFP.

Dessen ungeachtet werden lediglich 82 Prozent des Geldes, das ein Mitglied in einen der Fonds einzahlt, tatsächlich dazu verwandt, seinen Pensionsfond aufzustocken. Die anderen 18 Prozent ziehen die AFP als Provision ab. Diese hohen Provisionen, die dem Mitglied nur für die Verwaltungskosten seines Fonds abgezogen werden, brachten 1998 für die AFP als Unternehmen 10 Prozent Gewinn, während die Rentabilität der Mitgliedereinzahlungen um 1,1 Prozent abnahm.

Die durchschnittliche Rentabilität auf längere Sicht bestimmt die Höhe der Pensionen. Die alten Mitglieder, welche das Glück hatten, ihre Gelder einzuzahlen, als die AFP hohe Gewinne mit ihren Geschäfte erzielten, können mit einer höheren Rente rechnen. Die Gewinnraten, die 1983 auf 21 Prozent und 1991 sogar auf 29 Prozent kamen, bedeuten heute eine durchschnittliche Rentensteigerung von 11,6 Prozent. Aber die jungen Leute, die 1996 in das Arbeitsleben eintraten, haben einen schlechten Start erwischt. Seit diesem Jahr liegt die durchschnittliche Rentabilität bei nur 4,4 Prozent. Bei diesen Raten wird das erst kürzlich in einen Fonds eingetretene Mitglied eine Pension von etwa 70 Prozent des Durchschnittslohns der letzten zehn Jahre erhalten, wenn es 40 Jahre lang eingezahlt hat. Wenn die Einzahlung jedoch nur 20 Jahre geleistet wird, erreicht die Pension nur eine Höhe von weniger als 35 Prozent der letzten Löhne im Arbeitsleben.

KOLUMBIEN

„Weihnachtliche Waffenruhe“ und andere widersprüchliche Signale

Von Raul Zelik

(Berlin, 16. November 1999, npl).- Mit dem Aufruf, „nicht den Krieg, sondern den Frieden zu internationalisieren“, grüßte die größte kolumbianische Guerillaorganisation FARC die Teilnehmer des seit Montag in Havanna stattfindenden neunten Ibero-Amerikanischen Gipfeltreffens. Die „Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens“ verurteilten damit die Lateinamerika-Politik der USA, die in den vergangenen Monaten durch Interventionsgerüchte in dem Andenland von sich reden machte. Unterdessen schlug die kolumbianische Regierung den Rebellenorganisationen eine „weihnachtliche Waffenruhe“ zwischen dem 15. Dezember und dem 15. Januar vor.

Ende Oktober erregte eine neue Friedensbewegung in Kolumbien international großes Aufsehen. Mehrere Millionen Menschen demonstrierten unter der Parole „No Mas“ (Nie wieder) in allen Großstädten des Landes für ein Ende der bewaffneten Aktionen gegen die Zivilbevölkerung. Schon wenige Tage nach den Anti- Kriegsdemonstrationen zeigte sich allerdings in den ländlichen Regionen Kolumbiens, wie kompliziert sich ein Ende des seit 40 Jahren andauernden bewaffneten Konflikts unter der konservativen Regierung von Präsident Andres Pastrana gestalten wird. In Südwestkolumbien protestierten mehrere zehntausend Bäuerinnen und Indígenas mit Straßensperren und Rathausbesetzungen gegen die permanente Nichteinhaltung von Verträgen durch den Staat. Angekündigte Sozialprogramme seien Tinte auf dem Papier geblieben, so die Sprecher der Demonstrierenden.

Unterdessen führen Paramilitärs und Armee im 300 Kilometer nördlich von Bogotá gelegenen Departement Bolívar seit 20 Monaten eine Großoffensive gegen Bauernbewegungen und Guerilla durch, um die Gebirgsregion Serran'a San Lucas, in der 80 Prozent der kolumbianischen Goldvorkommen vermutet werden, wieder unter Kontrolle zu bringen. Der unabhängige BäuerInnenverband, die „Asociación Campesina del Valle de Rio Cimitarra“ sowie zahlreiche Nicht-Regierungsorganisationen sprechen von etwa 3000 vertriebenen Landarbeiter*innen. Erst im Oktober 1998 hatte sich die kolumbianische Regierung in einem Abkommen mit den Bäuerinnen der Region verpflichtet, ihnen Schutz vor den paramilitärischen Verbänden zu gewähren. Auch dieser Vertrag wurde nie in die Tat umgesetzt.

Die Bedeutung der NO MAS-Demonstrationen ist deshalb vorsichtig zu bewerten. Zwar gelang es, an einem Tag mehr als zehn Millionen Menschen auf die Straßen zu bringen. Doch während sich NO MAS in Ländern wie Argentinien und Chile als antimilitaristische Opposition gegen die andauernde Straflosigkeit ehemaliger Diktaturschergen versteht, ist die Bewegung in Kolumbien eine merkwürdige Mischung aus Basisprotesten und einer Inszenierung der von der nationalen Oligarchie kontrollierten großen Medien.

Beispielsweise war die Anti-Entführungsorganisation „País Libre“ (Freies Land), in der die Santos-Familie das Sagen hat, eine der Hauptinitiatorinnen des Protesttages. Der Clan gehört zu den traditionellen Machteliten Kolumbiens, spielt eine zentrale Rolle in der Liberalen Partei und ist unter anderem Eigentümer der rechten Tageszeitung El Tiempo. Aber auch andere staatstreue Medien feierten NO MAS und hoben vor allem hervor, dass die Bewegung ein Ende der Entführungen und Schutzgelderpressungen forderte.

Diesem Thema kommt eine zentrale Bedeutung im kolumbianischen Konflikt zu, der jährlich etwa 3.000 Menschen das Leben kostet. Die oft langwierigen, aber meist unblutigen Entführungen durch die Guerillaorganisationen sind für die Angehörigen der Oberschicht die spürbarste Seite des Bürgerkriegs. Dass bei den NO MAS- Protesten viel von Entführungen, aber wenig von Massenvertreibungen, Massakern und Bombardierungen durch Armee und Paramilitärs gesprochen wurde, ist daher als politische Positionierung zu interpretieren.

Gegen die Forderung der NO MAS-Bewegung, die Kampfhandlungen einzustellen, haben Regierung, Unternehmerverbände und selbst Großgrundbesitzer immer weniger einzuwenden. Sie spekulieren auf einen Friedensschluss ohne soziale Veränderungen. Das macht sogar aus Sicht derjenigen Sinn, die die Paramilitärs seit Anfang der 80er Jahre finanzieren, um die sozialen Protestbewegungen zu vernichten. Nun, da Zehntausende von Oppositionellen tot sind, könnte auch der reaktionärste Flügel der Landoligarchie mit einer Demobilisierung der Paramilitärs leben.

Parallel zu den Demonstrationen haben auch die Kontakte zwischen Regierung und den Guerillaorganisationen nach monatelangem Stillstand wieder an Dynamik gewonnen. Ende Oktober nahm eine gemischte Delegation von Regierungsvertretern, Unternehmern und Politikern Verhandlungen mit den FARC auf. Der Verhandlungsprozess mit der ELN-Guerilla ist ebenfalls wieder in Gang gekommen. Mitte 1998 hatte die ELN in Deutschland mit zahlreichen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens aus Kolumbien die Durchführung einer mehrmonatigen „Nationalkonvention“ vereinbart, zu der Vertreter aller gesellschaftlichen Sektoren (darunter vor allem Basisorganisationen) zusammenkommen sollten. Die kolumbianische Regierung boykottierte diese Initiative bisher.

Nun lenkte Pastrana ein. Seit September führten Regierungssprecher mit den ELN-Kommandanten Pablo Beltrán und Ramiro Vargas in Venezuela und Kuba mehrere Gesprächsrunden. Angeblich sind sogar schon Vorvereinbarungen für die Realisierung der Nationalkonvention getroffen worden. Auf den von Pastrana vorgeschlagenen weihnachtlichen Waffenstillstand antwortete die ELN mit einer „möglichen Zustimmung“, Während die militärisch stärkeren FARC zuerst die „Lösung der dringendsten sozialen Probleme“ forderte.

VENEZUELA

Neuen Namen braucht das Land

(Caracas, 12. November 1999, pulsar-Poonal).- „Bolivianische Republik Venezuela“ ist der neue Name, den die Verfassunggebende Versammlung für das Land beschlossen hat. Seitdem Venezuela 1810 seine Unabhängigkeit von Spanien erreicht hat, ist dies die sechste Veränderung des Namens der Republik. Der Beschluss muss allerdings noch durch eine Volksabstimmung am 15. Dezember bestätigt werden. Der neue Name wird nicht sofort benutzt werden, sondern erst, sobald die Restbestände des Briefpapiers und sonstiger Materialien, die den bisherigen Namen „Republik Venezuela“ tragen, verbraucht sind. Die Idee das Land umzubenennen, stammt von Präsident Hugo Chávez, der das Erbe des venezolanischen Nationalhelden Simón Bolívar damit hochhalten möchte. Bolívar war ein Vorkämpfer der Unabhängigkeit der spanischen Kolonien im Andenraum. Chávez erklärte, dass es notwendig sei „die Figur Bolívars als großer Befreier Amerikas in der Verfassung hervorzuheben.“

BRASILIEN

Mord an Aktivistin der Landlosenbewegung

(Mato Grosso del Sur, November 1999, comcosur-Poonal).- Dorcelina Folador, Bürgermeisterin von Mundo Nuevo, einem kleinen Landkreis im brasilianischen Bundesstaat Mato Grosso del Sur, wurde aus dem Hinterhalt vor ihrer Haustüre erschossen. Dies teilten die Landlosenorganisation MST und Sprecher humanitärer Organisationen mit. Die 36-jährige Folador war aktives Mitglied der MST und lebte in einer ihrer Ansiedlungen. Vor drei Jahren wurde sie zur Bürgermeisterin der kleinen Ortschaft an der Grenze zu Paraguay gewählt. Nach den letzten Umfragen begrüßten 83 Prozent der Anwohner ihre Amtsführung.

ARGENTINIEN/SPANIEN

Scilingo zieht Aussage über „Todesflüge“ zurück

(Santiago, November 1999, comcosur-Poonal).- Ein ehemaliger Offizier der argentinischen Marine, der vor zwei Jahren zugegeben hatte, bei den sogenannten „Todesflügen“ während der Diktaturzeit mitgewirkt zu haben, hat seine Aussage vor einem spanischen Richter zurückgezogen. Adolfo Scilingo, der in Madrid wegen Grausamkeiten während des „Schmutzigen Krieges“ angeklagt ist, behauptet, dass Richter Baltasar Garzón ihn zu einer Falschaussage unter Eid drängen wollte. Der ehemalige Militär war 1997 freiwillig nach Spanien gekommen, um vor dem Richter auszusagen, den er jetzt beschuldigt. Er hatte sich damals als reumütiger Sünder präsentiert. Seine Aussagen dienten Garzón als Grundlage, um eine Anklage gegen die Mitglieder der ehemaligen Militärjunta Argentiniens zu formulieren. Enrique Santiago, ein spanischer Anwalt, der bei den Ermittlungen Garzóns mitwirkt, erklärte, dass der ehemalige 52-jährige Hauptmann seine vorherigen Aussagen zurückzog und nun behaupte, sie seien Teil einer „Konspiration“. In den Komplott seien – laut Scilingo – der Richter Garzón und Mitglieder argentinischer Menschenrechtsorganisationen verwickelt.

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