von Roberto Bissio
(Fortaleza, 12. Februar 2012, adital).- Es handelt sich um die beiden mächtigsten Frauen der Welt. Beide lebten unter Diktaturen, haben eine universitäre Ausbildung und beide kamen an die politische Macht mit dem Ruf, strikte und unbestechliche Verwalterinnen zu sein. In Zeiten der Krise und weltweiter ökonomischer Turbulenzen zeichnen sich sowohl Brasilien als auch Deutschland durch eine stabile wirtschaftliche Lage aus. Und dennoch: Die Politik, für die Angela Merkel und Dilma Rousseff stehen, könnte nicht unterschiedlicher sein. Nicht nur das: In einer eng miteinander vernetzten Welt geraten ihre beiden politischen Wege zunehmend miteinander in Konflikt.
Brasilien als „Land der Zukunft“ – kein leeres Versprechen mehr
Deutschland ist die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt hinter den USA, China und Japan, sowie weltweit der zweitgrößte Exporteur hinter China. Brasilien hat gerade Großbritannien überholt, und in ein bis zwei Jahren dürfte Brasilien Frankreich den fünften Platz unter den größten Volkswirtschaften der Welt abnehmen. Die Fußball-Weltmeisterschaft 2014 und die Olympischen Sommerspiele 2016 in Rio de Janeiro werden deutlich machen, dass „das 21. Jahrhundert das Jahrhundert Brasiliens ist“, wie Dilma es während des Sozialforums in Porto Alegre Ende Januar ehrgeizig kundtat. „Brasilien ist ein Land der Zukunft … und wird es auch immer bleiben“ – dieser Fluch hat ein Ende. Die Zukunft ist jetzt.
Stärkste soziale Ungleichheit unter G-20-Ländern
„Lula hat 40 Millionen Brasilianer*innen aus der Armut geholt“, erklärte Rousseff gegenüber den führenden Vertreter*innen lateinamerikanischer Sozialbewegungen in Porto Alegre – der Stadt, in der seinerzeit übrigens ihre politische Karriere als Energie-Expertin begann; „Mein Ehrgeiz besteht nun darin, die soziale Ungleichheit zu verringern.“ Was auch dringend nötig ist, handelt es sich doch bei Brasilien in dieser Hinsicht unter den G-20-Staaten um das Schlusslicht. Diese 20 größten und bevölkerungsreichsten Länder der Erde hatten sich bei Ausbruch der Finanzkrise im Jahr 2008 selbst die Aufgabe zugeschrieben, die Weltwirtschaft zu steuern. Obwohl Brasilien also den letzten Platz in der Statistik der sozialen Ungleichheit belegt, ist es auch das einzige Land, in dem diese zurückgeht.
Brasilien beansprucht Führungsrolle beim Thema Nachhaltigkeit
Dilma machte auf dem Sozialforum klar: „Eine nachhaltige Entwicklung ist ohne Abbau der Ungleichheiten grundsätzlich nicht vorstellbar.“ Sie formulierte damit nicht nur ihren Kurs für die Führung Brasiliens, sondern machte zugleich eine Vorgabe für den UN-Gipfel für nachhaltige Entwicklung, der im Juni in Rio de Janeiro stattfinden wird. Dieser wird auch als „Rio+20“ bezeichnet, sind doch seit dem „Erdgipfel“ 1992 bereits zwei Jahrzehnte vergangen. Dieser brachte die Konventionen über Biodiversität und den Klimawandel hervor.
Rousseff blieb Weltwirtschaftsforum in Davos demonstrativ fern
Anders als ihr Amtsvorgänger Lula es stets getan hatte, nahm Dilma in diesem Jahr nicht am Weltwirtschaftsforum in Davos teil, nachdem sie das Sozialforum in Porto Alegre besucht hatte. Von diesem symbolträchtigen und heißen Ort aus richtete die brasilianische Präsidentin eine unmissverständliche Botschaft an die Banker*innen, Unternehmer*innen und Staatschefs, die sich in der verschneiten Schweizer Skihochburg zusammenfanden: „Der Neoliberalismus ist nicht die Antwort, und er wird nicht mehr nach Brasilien zurückkehren. Dieses Volk ist schon dagegen immun.“ Als Beispiel für ihre Distanzierung vom der neoliberalen Politik verwies Dilma „mit Stolz“ auf die finanzielle Unterstützung, die ihre Regierung zwei Millionen armer Familien zukommen lasse, damit diese sich Wohnraum leisten könnten.
Lateinamerika hat die schmerzhaften Anpassungen bereits hinter sich
Die Förderung des Binnenkonsums und die Pläne zur Bekämpfung der Armut waren entscheidend für Brasiliens Fähigkeit, wieder ein starkes Wirtschaftswachstum zu erzielen und den Folgen der 2008 einsetzenden Weltwirtschaftskrise zu entgehen. Eine Politik, die sich deutlich von den Sparplänen unterscheidet, die in Europa allerorten aufgelegt wurden. Mit ungewöhnlicher Härte behauptete Dilma, dass „Europa einen sehr viel perverseren Prozess“ erleide, als die Strukturanpassungsmaßnahmen, die Lateinamerika in den 1980er und 1990er Jahren durchgemacht habe. Während die Lateinamerikaner*innen die sogenannten verlorenen Jahrzehnte des Stillstands bereits erlitten hätten, gebe es dagegen jetzt in Europa „Rückschritte und Verluste bei den Arbeitnehmerrechten“, so die Präsidentin weiter.
Rousseff für Primat der Politik statt Primat der Ökonomie
Dilma Rousseff äußerte sich sogar besorgt über die politische Zukunft Europas. „Der Postliberalismus darf keine Postdemokratie sein. Wenn die Ratingagenturen und die Finanzmärkte mehr Macht haben als die Bürger, dann ist die Demokratie in Gefahr.“ Die Härte dieser kritischen Worte an der Wirtschaftspolitik, welche ihre Kollegin Angela Merkel den Ländern der Eurozone auferlegt hat, geht über das hinaus, was die Deutschen „Schadenfreude“ nennen. Sie stellen auch keinen Versuch dar, die eigenen Tugenden hervorzuheben, indem auf die Probleme des Nachbarn gezeigt wird. „Um umverteilen zu können, muss Brasiliens Volkswirtschaft jedes Jahr um mindestens sechs Prozent wachsen“, erklärte Dilma. Doch die Volkswirtschaften der Schwellenländer wie Brasilien können nicht weiterhin in diesem Tempo wachsen, wenn die europäischen Wirtschaften Stillstand verzeichnen – so hieß es zumindest kürzlich auf einem Kolloquium der entwicklungspolitischen Denkfabrik South Centre in Genf.
Merkel als neue europäische „Iron Lady“
Angela Merkel verwandelt sich also in die neue europäische „Iron Lady“, die stärkere finanzielle Kürzungen in Griechenlands Haushalt fordert und zugleich offen für die Wiederwahl des französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy eintritt – damit dieser seine Politik der Kürzung von Sozialleistungen und des Abbaus von Arbeitnehmerrechten fortsetzen kann. Zugleich gratulierte Merkel dem konservativen Wahlsieger in Spanien, Mariano Rajoy unlängst dafür, dass er beides in Angriff genommen hat. Währenddessen bekämpft Dilma Rousseff ganz offen eine solche Politik.
Der einstige Schuldner Brasilien ist heute Gläubiger
Und es ist keineswegs nur eine moralische Autorität, welche die brasilianische Präsidentin mobilisieren kann, um Merkels Politik anzugreifen, von deren Erfolg oder Nichterfolg abhängt, ob sie Bundeskanzlerin bleiben wird. Brasilien ist jedenfalls nicht länger der ewige Schuldner, sondern inzwischen zum Gläubiger geworden – umworben vom Internationalen Währungsfonds IWF, damit das Land Gelder zu den Milliarden schweren Rettungspaketen beisteuert, welche die europäischen Länder vor dem Bankrott bewahren sollen.
In Lateinamerikas historischem Gedächtnis steht das Wort „Schulden“ als Synonym für die Erteilung von Auflagen, um an Geld zu kommen. Im Deutschen, der Sprache Angela Merkels, der Tochter eines protestantischen Pastors, bezeichnet „Schuld“ nicht nur die finanzielle Schuld, sondern auch moralische Schuld und Sünde.
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