Cancún: Das Urlaubsparadies ist die Hölle für Frauen

von Andrea Franco

(Mexiko-Stadt, 03. November 2015, cimac).- Am Sonntag, dem 1. November dieses Jahres nahmen mehr als fünftausend Menschen an einer Demonstration in der mexikanischen Küstenstadt Cancún teil, um gegen Frauenmorde, gewaltsames Verschwindenlassen und den Anstieg der Gewalt in dieser Gegend zu protestieren. Doch weder die zahlreichen Proteste gegen die Frauenmorde noch die Ermordung einer weiteren jungen Frau im Touristenzentrum der mexikanischen Karibik konnte die Apathie der Justiz im Bundesstaat Quintana Roo im Süden Mexikos beeindrucken, die sich bemüht, die Welle der Gewalt gegen Frauen zu verharmlosen.

Ganze Familien nahmen an dem friedlichen Protestmarsch teil – dem zweitgrößten in der Geschichte Cancúns nach der Demonstration für die 43 verschwundenen Studenten aus Ayotzinapa, im Bundesstaat Guerrero, die im November 2014 stattgefunden hat. Die Menschen waren zudem aufgewühlt durch den Mord an der 19-jährigen Studentin Karen C.C., die am 26. Oktober in einem ärmeren Viertel von Cancún ermordet worden war.

Auf dem Höhepunkt der tödlichen Gewalt gegen Frauen und nur wenige Stunden nach der Demonstration mit zahlreichen Teilnehmenden, wurde die Leiche einer weiteren Frau namens Paloma entdeckt, deren Körper auf einem öffentlichen Platz gefunden wurde. Die Tat geschah in der Wohnsiedlung Villas del Mar III, wo die nur mit einem Tuch bedeckte Leiche der etwa 18-jährigen Frau gefunden wurde.

Staatsanwaltschaft sieht keinen Feminizid

Wie um einmal mehr die offizielle Gleichgültigkeit bei diesen Verbrechen zu untermauern, schloss der Staatsanwalt von Quintana Roo, Arturo Álvarez Escalera, sofort aus, dass es sich bei dem Mord an Paloma um einen Feminizid, also einen Mord aus geschlechtsspezifischen Gründen handle. Der Staatsanwalt behauptete in einer Mitteilung, Feminizid sei „die Tötung von Frauen aus Geschlechtergründen, wegen ihrer Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht oder wegen Sexismus (…); es bedeutet eine Zunahme von ausdrücklicher Gewalt aus geschlechtsspezifischen Gründen und in diesen beiden Fällen (von Paloma und Karen C.C.) gibt es klare Unterschiede.“

Aufgrund des öffentlichen Drucks sah sich der Gouverneur von Quintana Roo, Roberto Borge Angulo, gezwungen, der Familie von Karen und der Öffentlichkeit zu versprechen, dass keine Kosten gescheut würden, um diesen „bedauerlichen und verwerflichen Mord aufzuklären“.

Sechs Morde und kein Täter

Trotz dieses angeblich guten Willens der Regierung wurde bisher keiner der sechs Frauenmorde, die in diesem Jahr in Cancún verzeichnet wurden, als geschlechtsspezifischer Mord untersucht, noch wurden die Fälle gelöst und der bzw. die Schuldigen gefasst. Auch bei Fällen aus vergangenen Jahren gibt es bisher keine Ergebnisse.

Und obendrein stuft die Staatsanwaltschaft die Morde an den Frauen als „gewaltsame Tötung“ oder als „Verbrechen aus Leidenschaft“ ein, obwohl die Mehrheit der Fälle genau in das strafrechtliche Schema „Feminizid“ passt beziehungsweise in die Definition des Bundesgesetzes für das Recht der Frauen auf ein gewaltfreies Leben (Ley General de Acceso de las Mujeres a una Vida Libre de Violencia).

Soziale Empörung

Bei der Demonstration am 1. November erklärte Teresa Carmona, die Vertreterin der Bewegung für Frieden in Gerechtigkeit und Würde in Cancún (Movimiento de la Paz con Justicia y Dignidad), dass Wut, Trauer und Besorgnis die Menschen dazu bewegt hätten, Apathie und Angst zu besiegen: „Cancún ist nicht das Paradies. Cancún ist ein Kennzeichen. Ein Kennzeichen für Tod, Ungleichheit und Armut; für unfähige und gefühllose Regierende“. Carmona wies weiter darauf hin, dass der Mord an Karen ein Hassverbrechen sei, den man juristisch als Feminizid bezeichnen müsse und der im Strafgesetzbuch des Bundesstaates verankert sei – den die Behörden aber nicht als solchen bekämpfen und bestrafen wollten.

“Karen wurde ermordet, nur weil sie eine Frau ist”, betonte sie und fügte hinzu, dass es noch mehr Fälle wie diesen gebe. Deshalb müsse der Mechanismus zum Schutz der Frauen (Alerta de Violencia de Género) in Quintana Roo ausgerufen werden.

„Morgen könntest Du es sein“

An dem fast kilometerlangen schweigenden Protestmarsch nahmen Studierende von verschiedenen Universitäten und Schulen aus Cancún statt, Universitätsangestellte, Jugendgruppen, Organisationen der Zivilgesellschaft, Menschenrechtsverteidiger*innen und sogar Motorradclubs. Die mehr als fünftausend Bürgerinnen und Bürger trugen Plakate mit Slogans wie: #GerechtigkeitfürKaren; „keine weitere mehr“; „heute fehlt uns eine, morgen könntest du es sein“; „mein Körper gehört mir, Hände weg; Nein heißt Nein“; „schweigend rufen wir: Es reicht“; „Stopp Frauenmord, Stopp Gewalt gegen Frauen“; “ Karen ist nicht allein. Wir sind bei ihr.“

Vor dem Rathaus von Cancún lasen junge Studierende, Freund*innen und Studienkolleg*innen von Karen eine Petition im Namen der Studentenschaft vor. Sie forderten von den drei Regierungsebenen Untersuchungen und Aufklärung der Frauenmorde; außerdem machten sie den Staatsanwalt Arturo Álvarez Escalera wegen Unterlassung für diese Verbrechen mitverantwortlich.

Sie forderten zudem eine Kürzung der öffentlichen Ausgaben für die Verwaltungen von Bürgermeister Paul Carillo und Gouverneur Roberto Borge, wegen „lügnerischer und betrügerischer Werbung über die Fortschritte der Verwaltung“.

„Wir fordern, dass dieses Geld für die Instandhaltung und Erschließung brach liegender Gelände und Plätze verwendet wird, wie die, wo unsere Kommilitonin ermordet wurde (…); wir wollen, dass diese Plätze so ausgestattet werden, dass sie der Erholung dienen, wobei es die Pflicht der Stadt ist für Beleuchtung, Sicherheit und Überwachungskameras zu sorgen.“

Wer war Karen?

Die Ermordung von Karen war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen und die Mobilisierung gegen die geschlechtsspezifische Gewalt in Cancún ins Rollen gebracht hat. Sie war eine junge Frau mit großen, ausdrucksvollen Augen, erzählten ihre Freundinnen und Freunde, die gerne ihre Haare bunt färbte, Musik von Beethoven hörte oder auf der Gitarre den Beatles-Song „Yesterday“ spielte. Karen studierte Tourimus an der Universität der Karibik (Unicaribe), aber eigentlich wollte sie Musik studieren. Ihre Familie trauert jetzt um die einzige Tochter.

Am Montag, dem 26. Oktober wartete die junge Frau am frühen Nachmittag auf einen der beiden Busse, den sie nehmen musste, um nach Hause in ihr Wohnviertel La Guadalupana zu kommen. Sie war aus dem Unterricht gekommen und wartete vor der Universität, die in einem der gefährlichsten Viertel der Stadt, dem Wohnviertel „Corales“, liegt. Von da an wurde sie bis zum nächsten Tag nicht mehr gesehen.

Der Körper der jungen Frau, die sich gegen Gewalt an Frauen und für den Tierschutz engagierte, wurde halb bekleidet, mit Spuren körperlicher und sexueller Gewalt auf einem einsamen, dicht bewachsenen Gelände, ohne Beleuchtung und ohne Aufsicht zwischen den Straßen Héroes und Chacmool gefunden. Karen brauchte täglich eineinhalb Stunden von der Schule nach Hause und umgekehrt. An der Universität nahm sie den Bus der Linie 68 Héroes und stieg bei der Haltestelle des Supermarktes Soriana aus, um dann in den Bus der Linie 18 umzusteigen. Sie wohnte bei ihren Eltern und stieg auf dem Heimweg an der Haltestelle Avenida Chacmool aus, um dann die Abkürzung über ein verlassenes Gelände zu nehmen, wo ihr Leichnam gefunden wurde.

Sie war immer für Neues aufgeschlossen, sehr direkt, vielseitig, spielte gerne Videospiele und programmierte gerne – und sie war kurz davor, ihre Koffer zu packen. Am 29. Oktober sollte sie mit ihren Kommiliton*innen aus dem 3. Semester des Studiengangs Nachhaltiger Tourismus und Hoteladministration nach Guadalajara im Nordwesten Mexikos reisen, um ein Praktikum zu machen. Jetzt kann sie auch nicht mehr ihr Projekt zum Digitalen Marketing beenden, das sie gemeinsam mit einem Professor entwickelt hatte.

Ihre Freundin Patricia erzählte: “Sie hat nicht gerne versteckt, was sie fühlt, sie war lebhaft und direkt, was ihre Gefühle angeht. Sie hatte immer eine positive Einstellung und war lebensfroh. Einmal hat sie sogar bei einer Prüfung gesungen und fast schon getanzt, während sie die Aufgaben gelöst hat. Sie bekam die beste Note.“

“Ich werde sie immer als meine beste Freundin in Erinnerung haben, sie wird mir immer präsent sein, sie wird immer in unseren Herzen weiterleben. Wir haben sie so gern“, sagte Arely, eine andere Studienfreundin.

 

Dieser Artikel ist Teil unseres diesjährigen Themenschwerpunkts:

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