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(Buenos Aires, 04. Dezember 2024, Agencia Paco Urondo).- APU sprach mit Georgina Orellano, der Vorsitzenden der Asociación de Mujeres Meretrices de Argentina (AMMAR), über Sexarbeit und gewerkschaftliche Organisierung.
Agencia Paco Urondo: Sie wurden erst vor kurzem mal wieder von der Polizei der Stadt Buenos Aires verhaftet.
Georgina Orellano: Ja, im Viertel Constitución, davon gibt sogar ein Video, eine Kollegin hat es gefilmt, die mit der Casa Roja in Verbindung steht. Das ist eine Anlaufstelle für alle möglichen Leute, die Unterstützung brauchen, nur ein paar Blocks entfernt von dem Ort, wo sie mich verhaftet haben.
APU: Was war passiert?
GO: Was halt so passiert, wenn die Sicherheitskräfte im öffentlichen Raum auftreten und agieren. Und das nicht nur in Constitución, sondern auch in Once, Flores und anderen Stadtteilen. Wir waren kritisch unterwegs und haben eine Aktion von Frauen unterstützt, die es gewagt haben, das Vorgehen der Polizei anzuprangern, ihre Razzien und Einsätze, bei denen keine Staatsanwaltschaft zugegen ist, die gegebenenfalls eingreifen könnte. Alle möglichen Leute, die irgendwie als gefährlich gelten, laufen im Moment Gefahr, verhaftet zu werden.
APU: Wie läuft das ab?
GO: Bei den Razzien werden Sexarbeiterinnen willkürlich an die Wand gestellt, in aller Öffentlichkeit nackt ausgezogen oder in irgendwelche Räume gebracht, wo sie dann alle möglichen Dehnübungen machen müssen, damit die Bullen sehen können, ob sie irgendwo irgendwas Verbotenes verstecken. Wenn sie nichts finden außer einem Handy, ein paar Kondomen und Bargeld, wird das Geld als Beweismittel sichergestellt. In einigen wenigen Fällen, in denen die Frauen Anzeige erstatten konnten, haben sie das Geld über die Staatsanwaltschaft zurückbekommen. Letztes Jahr haben sie einer Frau 17.000 Pesos abgenommen, aber als sie es ein paar Monate später zurückbekam, hatte das Geld massiv an Wert verloren. So sieht’s aus.
APU: Und wird es schlimmer?
GO: Ja, die Willkür, das mit dem Ausziehen in der Öffentlichkeit und dass sie die Einnahmen beschlagnahmen, die ganze Prozedur, die öffentliche Demütigung, die unmenschliche Behandlung, die Beleidigungen, besonders gegenüber Migrant*innen, die Schläge, alles das ist inzwischen Alltag geworden. Das heißt, es ist gefährlicher geworden, und es bedeutet einen Rückschritt im Hinblick auf die Wahrung der Menschenrechte. Aber manchmal gelingt es uns auch, den Sicherheitskräften Grenzen zu setzen.
APU: Und wie war es vor 2023 mit den Kontrollen?
GO: Da waren sie zurückhaltender bei ihren Aktionen, wobei es früher auch willkürliche Verhaftungen gab. 2022 und 2023 bin ich ein paarmal in Gewahrsam gelandet, allerdings meistens als Gewerkschafterin, gar nicht so sehr als Sexarbeiterin. Das ist das Risiko, das man eingeht, wenn man militant auftritt und nicht nur so eine romantische Attitüde von politischem Altivismus pflegt. Wenn du ein Klassenbewusstsein hast und dich organisierst, kommst du immer wieder in unangenehme Situationen, in denen solche Demütigungen normal sind. Für uns ist klar, was die Polizei mit ihrem Vorgehen erreichen will: Indem sie mich oder die anderen Delegierten ins Gefängnis bringen, versuchen sie, die gewerkschaftliche Organisierung der Sexarbeiterinnen zu brechen, damit sich niemand mehr traut, öffentlich das Wort zu ergreifen. Unsere Genossinnen kriegen immer wieder zu hören, dass sie damit eine Lektion erteilt bekommen.
APU: Aber ist es nicht so, dass die Polizei an der Prostitution mitverdient?
GO: Natürlich, sie erpressen immer Geld von uns. Da gibt es ja die so genannte „kleine Kasse“, die die Polizei angelegt hat und die vermutlich gar nicht so klein ist. Sie nehmen ja nicht nur Geld von Sexarbeiter*innen, sondern von allen informellen Arbeiter*innen, von Straßenhändler*innen und allen andern, die keiner offiziellen Beschäftigung nachgehen. Die Vorschriften, die die Befugnisse der Polizei regeln, sind teils sind es immer noch dieselben wie zur Zeit der Militärdiktatur; frag mal die Genossinnen und Genossen, die sich mit Menschenrecht befassen. In San Juan gilt beispielsweise immer noch das Gesetz gegen „skandalöse Prostitution“. Aber wer bestimmt, was skandalös ist? Genau das ist das Problem. Es geht darum, die Stadtviertel zu säubern. Und immer sind wir es, die verhaftet werden, die vor Gericht landen und in den Statistiken des Gefängnissystems auftauchen. Und dieses „Wir“, das, was uns verbindet, ist unsere Hautfarbe, unsere Klassenzugehörigkeit und dass wir einer informellen Beschäftigung nachgehen.
APU: Um wen geht es da genau?
GO: Wir erleben täglich, wie die ambulanten Händler*innen, die Frauen mit ihren Kaffee-Karren von der Polizei verscheucht werden, oder wie die Compañeras aus dem Senegal nur ein paar Sekunden haben, um die Decke zu schnappen, auf der ihr Zeug ausbreitet ist, und wegzurennen, weil ihnen sonst die Ware konfisziert wird, oder die Frauen, die Essen verkaufen. Wir haben gesehen, wie die Bullen das ganze Essen in Müllsäcke werfen und die Einkaufswagen und Kühlboxen konfiszieren. Damit brechen sie den Leuten das Kreuz, weil sie dann wochenlang kein Einkommen haben und wieder ganz von vorne anfangen müssen.
APU: Gab es während der Kirchner-Ära Fortschritte hinsichtlich der Rechtssicherheit für marginalisierte Gruppen?
GO: Die Regierung von Alberto Fernández hatte es wirklich nicht drauf, tiefgreifende, komplexe, dringende und notwendige Debatten zu führen. Wir haben an verschiedenen Treffen und an feministischen Versammlungen teilgenommen und versucht, mit dem Frauenministerium als staatlicher Institution Kontakt aufzunehmen und ihnen zu sagen, was wir brauchen. Wir haben öffentlich Kritik daran geäußert, wie es auf den Straßen zugeht, wie gewalttätig die Sicherheitskräfte agieren, und sie wollten uns mit dem Versprechen ruhigstellen, dass sie darüber einen Bericht schreiben würden. Meine Güte, sie brauchen sich nicht aufführen wie Soziologiestudenten, sie sind der Staat. Aber nein, erst braucht es eine Felduntersuchung, und dann dann wird vielleicht irgendwann hehandelt. Und währenddessen geht es den Compañeras, die in prekären Verhältnissen auf der Straße leben, immer schlechter. Wir sind mit unserer Kritik nicht durchgekommen, das war das größte Problem. Politik lebt von der Debatte, es gibt immer Dinge, mit denen du einverstanden bist, und andere, denen du nicht zustimmst. Und da kommt die Militanz ins Spiel, das ist unser Verständnis von Politik. Ich werde Alberto nicht dafür danken, dass er uns ein Ministerium geschenkt und dem Patriarchat ein Ende gesetzt hat, sondern mir geht es um das, was noch fehlt. Zum Beispiel darf das Frauenförderprogramm Acompañar nicht auf sechs Monate begrenzt sein.
APU: Und was haben Sie als Antwort bekommen?
GO: Dass unser Protest den Rechten in die Hände spielt. Wir sind einer öffentlichen Versammlung im Vorfeld des 8. März und bei der Vorbereitung zu 3J aufgetreten und haben unsere Kritik vorgebracht. Keine Chance. Wir bekamen zu hören, dass man sich unbedingt hinter die Frauen im öffentlichen Dienst stellen muss. Ich dachte, was für ein Blödsinn, warum soll ich mich darum kümmern, dass irgendeine Beamtin genug Geld verdient? Dass sich eine um die eigene Karriere kümmert, macht sie doch nicht zu einer Kämpferin. Wieso sollen wir uns hinter sie stellen, kritikfrei natürlich, und darauf warten, dass sie kommt und uns mit ihren Berichten die Welt erklärt? Wir meinen eine andere Art der Auseinandersetzung, und für die war angeblich kein Platz. Deshalb stehen wir heute da, wo wir jetzt sind.
APU: Gibt es in Ihrem Umfeld prekarisierte Frauen oder Männer, die für Milei gestimmt haben?
GO: Ja. allerdings darf man ihnen meiner Meinung nach deshalb keinen Vorwurf machen. Früher haben sie den Peronismus unterstützt, und weil sie enttäuscht sind und gehofft haben, dass nun alles besser wird, haben sie für Milei gestimmt. Am Ende ist für sie nicht viel dabei rausgesprungen, weder mehr Kaufkraft, noch die Legalisierung ihrer Arbeitssituation. Wir wollen ja nicht nur Steuern zahlen. Wir wollen Anerkennung, Rechte, Schutz und soziale Absicherung, auch im Alter, das ist die neue Regierung uns schuldiggeblieben. Diese ganzen Themen haben bis heute keinen Platz in der politischen Führung gefunden. Die Leute sind wütend und unzufrieden, und ich denke, die jetzige Regierung hat es sehr geschickt verstanden, die Wut aufzugreifen und die Rolle des Staates in den Mittelpunkt der Diskussion zu stellen. Ich bin für einen starken Staat, aber ich bin auch sehr kritisch gegenüber Alberto [Fernández]. Seine Regierung hat einfach nicht funktioniert. Wenn wir uns an eine staatliche Stelle gewandt haben, ist nie etwas dabei rausgekommen, weil man an diesen ganzen bürokratischen Hürden scheitert, egal, ob es um Wohngeld ging oder um etwas anderes.
APU: Wie viel gibt’s zurzeit an Stütze?
GO: Ich glaube, im Moment sind es 76.000 Pesos [69 €], wegen der Inflation und der Kürzungen. Während der Pandemie waren es etwa 16.000 Pesos [14,50 €]. Ein Hotelzimmer in Constitución kostete damals zwischen 15 und 18.000 Pesos [13-16 €], also hat man am 5. jedes Monats, wenn das Geld kam, schnell das Zimmer bezahlt, um nicht rauszufliegen. Für diejenigen von uns, die keine festen Jobs haben, macht die Wohnsituation die Lage zusätzlich prekär. Inzwischen kostet ein Zimmer im Viertel Constitución zwischen 200.000 und 270.000 Pesos [zwischen 180 und 270 €], pro Monat, viele Menschen sind wohnungslos, leben von der Hand in den Mund, und viele von ihnen sind Sexarbeiterinnen, Transgender und Migrant*innen. Wenn man an einem Abend 20.000 oder 30.000 Pesos verdient hat, zahlt man am besten gleich mal das Zimmer, in dem man übernachten will. Aber es nicht wie ein Zuhause. Man geht um 22 Uhr rein und am nächsten Morgen um 8 Uhr muss man wieder raus oder mehr bezahlen. Wer sich das leisten kann, hat zumindest einen Platz zum Baden oder sich zu waschen und kann in einem Bett schlafen. Wer auf einem öffentlichen Platz geräumt wird, büßt die wenigen Dinge ein, die er oder sie besitzt, die Sachen werden von der Stadtverwaltung, der staatlichen Aufsichtsbehörde und den städtischen Betreibern entsorgt, egal ob es eine Matratzen, eine Dokumentenmappe oder Kleidung ist.
APU: Gibt es Unterkunftsmöglichkeiten für Wohnungslose?

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GO: Viele denken ja, dass Menschen auf der Straße leben, weil sie es so wollen, sonst könnten sie ja in ein „Heim“ gehen. Doch was die Stadtverwaltung in so einem Fall zu bieten hat, ist kein Ort, den man wirklich sein Zuhause nennen kann. Zwischen 18 und 20 Uhr muss man da sein und um 8 Uhr morgens wieder verschwinden. Den Rest der Zeit läuft man ziellos auf der Straße herum, und wenn du nachts arbeitest, nutzt dir so eine Unterkunft überhaupt nichts. Außerdem: Wenn man Familie hat, mit den Eltern oder den Kindern leben will, kommt die Unterkunft auch nicht in Frage, weil die Räume nach Männern und Frauen mit oder ohne Kinder getrennt sind. Wohnungslose Familien wollen aber genausowenig getrennt werden wie andere. Außerdem gibt es in den Unterkünften null Sicherheitsvorkehrungen. Eine Frau, die wir begleiten, wurde dort sexuell missbraucht, außerdem wurde ihr Hab und Gut gestohlen. Sie sind auch keine Anlaufstelle, egal, was für ein Problem du hast: Es gibt keine Begleitung für Menschen, die auf Entzug sind oder ein Problem mit Drogenkonsum haben. Viele Menschen, die dort ankommen, haben keine Papiere. Eigentlich müsste der Staat sich kümmern und umfassende Unterstützung anbieten. Ein Bett, eine Mahlzeit, eine Dusche, eine Steckdose zum Handyaufladen, falls du eins hast – mehr gibt’s dort nicht. Deshalb bleiben viele Leute, die wir kennen, lieber auf der Straße und laufen herum, statt in eine Unterkunft zu gehen.
APU: An der Universität von La Plata gab es doch mal ein Treffen von Student*innen und Leuten von der Straße, das war an der Fakultät für Journalismus.
GO: Ja, für die Leute von der Uni ist so ein Treffen natürlich eine prima Gelegenheit, mal mit Menschen zu sprechen, die sie an der Uni niemals treffen würden: Cartonerxs, Obdachlose, Sexarbeiter*innen.
APU: In der Szene der militanten Aktivist*innen sind die Sexarbeiterinnen oft auch gar nicht so gern gesehen. Wie denken Sie darüber?
GO: Zunächst einmal: Uns ist klar, dass unser Verhältnis zum Feminismus nicht einfach ist, aber was Staat, Wissenschaft, soziale und gewerkschaftliche Fragen angeht – das sind alles Bereiche, in denen wir eine Position haben. AMMAR ist eine Gewerkschaft, und sie ist Teil der CTA [des argentinischen Gewerkschaftsbunds Central de Trabajadores de la Argentina]. Von Anfang an gab es Diskussionen darüber, was wir da machen, bis heute, und nächstes Jahr wird AMMAR dreißig Jahre alt. Für die ersten Treffen haben sie uns einen Kellerraum zur Verfügung gestellt haben, das sprach ja wohl für sich. Zu den CTA-Versammlungen kommen Sexarbeiterinnen in Arbeitskleidung wie alle anderen auch, bloß sind das bei uns nicht Blaumann und Schutzhelm, sondern Stöckelschuhe und Minirock. Und in dem Aufzug tragen wir dann eben unsere Probleme vor, die ständigen Konflikte mit der Polizei und auf der Straße. Die männlichen Genossen haben uns damals gesagt, wir sollten einen öffentlichen Brief für die Monatszeitung der Gewerkschaft schreiben und den Mitgliedern und angeschlossenen Organisationen kurz erklären, wer wir sind, und im Ergebnis meinten sie, wenn ihr sagt, das ist Arbeit, dann seid ihr hier richtig. Letztlich waren vor allem Frauen dagegen, dass Sexarbeiterinnen der Gewerkschaft beitreten. Die Männer waren da eher gelassen.
APU: Wie Hugo Yasky.

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GO: Genau, Hugo Yasky. In der Öffentlichkeit wird er schon quasi als mein Ehemann gehandelt. Hugo ist einer, der Sexarbeiterinnen verteidigt und sich ständig dafür rechtfertigen muss. Inzwischen ist es besser, aber eine Zeitlang wurde er richtig gedisst. Yasky sagt, dass er Sexarbeiterinnen, die sich organisieren, auf keinen Fall ausschließen würde, und schon gar nicht bei all‘ dem, was die Polizei uns antut. Wir mussten jahrelang erklären, warum wir Arbeitsrechte wollen, auch in der Gleichstellungsstelle, und jeder Genossin und jedem Genossen unsere Forderungen, unsere Art zu leben erklären, damit sie verstehen, dass unser Kampf legitim ist. Ich bin kein „gefallenes Mädchen“, ich will keinen anderen Job, also versuchen Sie nicht, mich zu überzeugen.
APU: Würden Sie sagen, Sexarbeit hat gute und schlechte Seiten, so wie jede andere Arbeit auch?
GO: Ich würde keinen Job romantisieren, ich erlaube mir zu behaupten, dass alle Jobs scheiße sind. So etwas wie menschenwürdige Arbeit gibt es nicht. Viele Leute meinen, dass wir vom Staat menschenwürdige Arbeit fordern müssen, aber was soll das sein? Wer geht jeden Tag glücklich zur Arbeit, freut sich über sein Gehalt und liebt seinen Chef? Das gibt es nicht, wir leben in einem kapitalistischen System, das uns alle unterdrückt, in dem jeder ausgebeutet wird. Was mich und meine Kolleginnen nervt, ist, dass wir ständig erklären müssen, dass unsere Ausbeutung sich nicht von der Ausbeutung eines Arbeiters oder einer Hausangestellten unterscheidet und genauso legitim ist. Recht auf Urlaub, Weihnachtsgeld, Rente und Sozialversicherung: Die Forderung existiert doch für ganz viele Jobs. Wir reden oft mit anderen Frauen über Arbeitsbedingungen und Arbeitsalltag. Ich würde nicht im Traum daran denken, so einen „normalen“ Job zu machen, aber weil unser Job mit Sex zu tun hat, haftet ihm ein Stigma an, es geht immer schnell um Moral und sexuelle Kontrolle. Viele Leute meinen, Sex habe nichts mit Geld zu tun, sondern mit Liebe oder sogar mit Dankbarkeit! Ich glaube, es stört sie vor allem, dass wir uns bezahlen lassen, und ich finde es viel ehrlicher, wenn sie das auch zugeben. Wenn Sie mit dem Argument kommen, dass es diesen Job nicht geben müsste, wenn wir in einer fairen, freien und egalitären Gesellschaft leben würden: Ich wäre die Erste, die für die Abschaffung der Lohnarbeit stimmen würde, dann bräuchte niemand mehr zu arbeiten. Doch die Realität sagt mir, dass ich Miete zahlen und für mein Kind sorgen muss. Irgendwas muss ich tun, um meinen Lebensunterhalt zu bestreiten, dafür mache ich Sexarbeit. Ich werde es niemals bereuen, dass ich mich für Sex bezahlen lasse, denn das ermöglicht mir ein würdiges Leben, ein Dach überm Kopf, ich kann für mein Kind sorgen und verbringe weniger Zeit mit Arbeiten. Statt zwölf Stunden in einer Fabrik herumstehen, stehe ich lieber drei, vier Stunden an der Ecke und habe mehr Zeit für die Dinge, die ich mag, zum Beispiel militante Politik.
APU: Sie waren an dem Film Alanís beteiligt.
GO: AMMAR hat an dem Film von Anahí Berneri mit Sofía Gala mitgearbeitet. Sie sind an uns herangetreten, es war das erste Mal, dass jemand die Idee hatte, einen Film über Sexarbeit zu machen. Wir durften am Drehbuch mitschreiben, und es ist sehr gut geworden, die Berufsgruppe der Sexarbeiterinnen wird sehr gut dargestellt. Uns gefiel, dass die Hauptfigur Mutter ist, und Sofía Gala hat sich sehr mutig positioniert. Ich denke, wenn man überzeugt ist von dem, was man tut, wird man weniger diffamiert, und der Eklat hält sich in Grenzen. Wir hatten den Eindruck, dass Sofía fand, es sei an Zeit, die Realität der Sexarbeiterinnen zu problematisieren, deshalb war es für sie ok, sich mit diesem Film so zu exponieren.
APU: Es gibt eine Szene, in der sie misshandelt wird, während sie Toiletten putzt.
GO: Stimmt, das gehört zu den Dingen, die einige von uns erlebt haben. Viele denken, dass wir nie etwas anderes gemacht haben als Sexarbeit. Dabei haben wir natürlich einen Haufen andere Jobs gemacht. Ich habe einen Monat lang in einer Metallfabrik gearbeitet, dann habe ich aufgehört, weil die Arbeitszeiten nicht mit den Öffnungszeiten des Kindergartens vereinbar waren. Wir hatten zwar ausgemacht, dass meine Arbeitszeit um 9 Uhr beginnt und nachmittags um 16 Uhr endet, aber dann blieb es nicht dabei. Da habe ich richtig begonnen, die Sexarbeit zu schätzen, denn bis dahin standen auch bei mir Schuld und Scham im Vordergrund. Und jetzt: Wenn ein Kunde mich für eine Stunde bucht, tue ich zunächst mal alles, um die Zeit zu verkürzen, und wenn er plötzlich länger bleiben will – sein Pech. Man muss die Bedingungen von Anfang an klarmachen, das Hotel hat auch feste Zeiten, und das schätze ich mittlerweise sehr. Meinem Chef konnte ich schlecht sagen, dass ich schon Feierabend habe, wenn der um 16 Uhr noch wollte, dass ich irgendwelche Daten in eine Excel-Tabelle einpflege, weil er mich sonst gefeuert hätte. Und immer wieder sollte ich Sachen tun, die nicht zu den Aufgaben einer Verwaltungsangestellten gehörten, wie Kaffee kochen. Einmal sollte ich auch die Toilette putzen. Wenn ich mehr verdient hätte, dann wäre ich geblieben, kein Problem. Aber ich mache nun mal nicht gerne Küchenarbeit. Trotzdem: Ich habe mir Mühe gegeben und ihnen ihren Kaffee gekocht, aber er schmeckte nun mal schlimm. Mein Chef hat ihn probiert und dann ganz laut gesagt, ich soll neuen kochen. Daraufhin haben alle ihre halbvollen Tassen vor mir abgestellt und mich missbilligend angesehen. Wenn jetzt ein Kunde meckert, weil ihm etwas nicht passt, ist mir das egal. Er hat im Voraus bezahlt, und ich werde ihm das Geld sicher nicht zurückgeben.
APU: Also genau gegenläufig zu den Gesetzen des freien Markts.
GO: Genau. Und ich hätte keine Zeit gehabt, mich zu organisieren. Auf der Straße lebe ich von einem Tag auf den anderen, nehme so viel Geld ein, wie ich jeden Tag brauchte. Dreißig Tage Arbeit für den Lebensunterhalt empfand ich als Sklaverei, und das jeden Monat. Bei der Sexarbeit bin ich einen Tag viel unterwegs, und dann habe ich erstmal genug zum Leben. Als ich meinem Boss sagte, dass der Job nichts für mich sei, versuchten sie, mich zum Bleiben zu überreden und alles so zu drehen, als sei es meine Schuld, dass ich mich in dem Arbeitsverhältnis nicht wohlfühle. „Warum willst du denn zurück auf die Straße? Hier hast du wenigstens Sozialversicherung und Rentenbeiträge.“ Klar, ein richtiger Job hat Vorteile. Aber auf der Straße habe ich den Mut zu gehen, wenn mir etwas nicht gefällt. In der Firma waren meine persönlichen Grenzen uninteressant, und dann kamen noch die Arbeitszeiten und die schlechte Bezahlung obendrauf. Ein paar von den Feministinnen finden es schrecklich, wenn wir so argumentieren, aber um was geht es denn vor allem beim Arbeiten, doch wohl um Geld, oder? Wenn man gut bezahlt wird, bleibt man, wenn nicht, sucht man sich einen anderen Job. Ihr wollt gut leben ‑ wir auch. Warum wollt ihr, dass wir in prekären Job bleiben, in denen wir uns unwohl fühlen und schlecht bezahlt werden? Es ist ja auch nicht so, als würde ich auf eine Villa sparen, ich habe immerhin ein Klassenbewusstsein. Ich will nicht hungern, ich will nicht, dass mein Sohn hungert, und die Sexarbeit hat mir die Möglichkeit gegeben, innerhalb des Systems der Ungleichheit, in dem wir leben, so gut wie möglich über die Runden zu kommen.
APU: Können Sie sich vorstellen, dass die Regierung die Sexarbeit als Teil des marktwirtschaftlichen Systems legalisiert?
GO: Bis jetzt habe ich noch nichts gehört, darüber brauchen wir uns erstmal keine Gedanken machen. Was uns derzeit mehr Sorgen macht und zu Diskussionen innerhalb unserer Organisation führt, ist die virtuelle Sexarbeit. Es gibt da mittlerweile mehrere Plattformen, die einen sind bekannt, die anderen nicht so. Viele Leute, die dort aktiv sind, geben sich nicht als Sexarbeiterinnen zu erkennen, sondern bezeichnen sich als Content Creators oder Webcam-Models. Das ist gesellschaftlich viel stärker akzeptiert, niemand ist geschockt, viele finden es sogar cool. Es ist keine echte Sexarbeit, es gibt keinen physischen Kundenkontakt, man ist nicht auf der Straße, sondern verkauft ein Bild, lädt Inhalte hoch und verdient damit Geld. Es ist zugleich eine Klassenfrage, denn wer das macht, ist meist weiß, entspricht dem gängigen Schönheitsideal und repräsentiert ein Stereotyp, das in diesem System voll und ganz gebilligt wird. Meist sind das bürgerliche Mittelklasse-Mädels, die auch nicht zwangsläufig arm sind, viele verdienen sich mit der virtuellen Arbeit einfach was dazu, um ihren Status zu halten.
APU: Es besteht also ein Unterschied zur Sexarbeit auf der Straße.
GO: Definitiv. Und der Klassenunterschied ist das Auffälligste. Die Frauen, Lesben, Travestis und Transsexuellen, die Sexarbeit auf der Straße leisten, stören nun noch mehr, auch hier im Viertel Constitución, und das finden wir beunruhigend.
APU: Außerdem ist bei der digitalen Sexarbeit die gewerkschaftliche Organisierung ausgehebelt.
GO: Genau. Die ganze Idee, was Arbeit überhaupt bedeutet, wird gar nicht mehr mitgedacht, und diese Leerstelle füllt nun das Unternehmertum. Alles Kollektive wird ausgelöscht, und alle bilden sich ein, dass sie damit am Staat vorbeiarbeiten können. Ich habe viele Leute sagen hören, dass sie nichts weiter brauchen als einen Computer mit Kamera, gutes Licht und einen Internetanschluss, aber auch wenn du dich gar nicht als Sexarbeiterin zu erkennen gibst, kommst du um den Staat nicht herum. Die Ausweitung der Dollarwährung hängt mit der argentinischen Außenhandelspolitik zusammen, und die wiederum hat mit dem IWF-Abkommen zu tun. Aber du bekommst dein Geld nicht einfach so in Dollar ausbezahlt. Viele Frauen beschweren sich, dass sie ihr virtuelles Geld nicht einfach abheben können, weil der Außenhandel der Bank ihr Guthaben aufgefressen hat. Dann soll man eine Rechnung vorlegen, an der erkennbar ist, welche Leistung erbracht wurde. Du musst also als Sexarbeiterin auftreten, die persönliche Dienstleistungen erbracht und dafür soundso viel Geld in Rechnung gestellt hat. Und schon ist der Staat doch wieder beteiligt.
APU: Die Idee, um unsere Anerkennung als Selbstständige zu kämpfen, kommt reichlich spät.

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GO: Sicher. Und ich sage auch nicht, dass Prostitution der Weg aus der Armut ist. Ich bin arm, ich gehöre nicht zu den Reichen, nichtmal zur Mittelschicht, und ich schäme mich nicht, arm zu sein. Ich habe eine winzige Wohnung in Constitución, mein Sohn geht auf eine öffentliche Schule. Aber ich möchte eine Rente haben, so wie alle meine Kolleginnen, die über 60 Jahre alt sind und weiterhin unter sehr prekären Bedingungen Sexarbeit machen. Wir wollen soziale Absicherung und eine staatliche Stelle, bei der wir die Übergriffe der Polizei anzeigen können. Wir wollen nicht mehr auf die Polizeiwache gehen oder vergeblich versuchen, vor Gericht unser Recht zu bekommen. Wir wollen nicht dauernd Schwierigkeiten haben, weil wir diese Art von Arbeit machen, die immer wieder ins Heimliche und Verborgene abgedrängt wird, und wir wollen nicht ständig kriminalisiert werden. Wir brauchen eine offene Debatte, das ist unsere Forderung an die Politik. Schluss mit der Heuchelei, davon haben wir schon genung, wenn es um Sexarbeit geht. Viele Leute arbeiten mit einem Zuhälter, der wird bezahlt und muss sich deshalb nicht verstecken. Warum wird gerade denen, die ganz unten sind, alles so schwergemacht? Ich verlange ja nicht, dass mir jemand einen Urlaub in Marbella bezahlt, ein Pauschalurlaub in Evitas Ferienanlagen von Chapadmalal tut’s auch. Ich will, dass der Staat Verantwortung übernimmt, und zwar nicht nur für uns, sondern auch für die anderen informellen Arbeiter*innen. Die Politik muss ehrlicher werden und mit der Heuchelei aufhören und uns nicht immer nur vormachen, dass sie die Guten sind.
APU: …denn das sind sie nicht.
GO: „Die“ Guten und „die“ Bösen gibt es ja auch nicht, aber es gibt definitiv Menschen, deren Arbeit nicht anerkannt wird. Erstens müssen wir gehört werden, zweitens brauchen wir eine ehrliche Debatte, in der auch wir zu Wort kommen. Im Frauenministerium, als Teil der Regierung also, saßen diejenigen, die die Prostitution abschaffen wollten. Und nun siehst du, was dabei herausgekommen ist. Erst lassen sie alles vor die Hunde gehen, und dann kommen sie an und wollen über Würde reden. Solange sie noch Teil des Systems waren, hätten sie die Chance gehabt, die Lebensrealität von Sexarbeiter*innen zu verbessern, aber diese Chance haben sie nicht genutzt, und nicht zuletzt deshalb schlafen heute so viele von uns auf der Straße. Die verbotsorientierte Politik ist gescheitert, und die Leute, die anschaffen gehen, werden immer ärmer, älter, kaputter und ihre Lebensrealitäten immer prekärer. Ich werde kein Ministerium verteidigen, das nicht funktioniert hat. Wir brauchen einen Staat, der präsent ist, der funktioniert, aber wir müssen darüber reden, welche Art von Einmischung wir fordern und welche Stereotypen zu unserer Person wir ablehnen.
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Vielen Dank für diesen Beitrag! Ich habe ihn auf prostitutionspolitik.net erneut gepostet, natürlich mit CC-BY-SA. Ich hoffe, das passt so!
Danke für den Kommentar und die Verlinkung!