(Berlin, 31. Mai 2021, npla).- Bis zum Januar 2021 hat Argentinien über 1,7 Millionen Fälle von Covid-19 und 44.848 Todesfälle in diesem Zusammenhang verzeichnet. Mit 27.350 wurden mehr als die Hälfte der Todesfälle in der nördlichen Provinz Chaco gezählt, obwohl dort nur 2,2 Prozent der argentinischen Bevölkerung leben und die Bevölkerungsdichte extrem niedrig ist. Kurz nach der Ankunft des Virus im Mai 2020 waren nach offiziellen Angaben ein Viertel der mit dem Coronavirus Infizierten im Chaco Indigene der Qom. Nichtregierungsorganisationen wie die Junta Unida de Misiones (JUM), die die indigene Bevölkerung des Chaco seit Jahrzehnten unterstützen, mussten ihre Arbeit binnen kurzer Zeit der neuen Situation anpassen.
Seit Beginn der Corona-Pandemie biete die Organisation eine 24/7-Telefon-Hotline mit Rechtsberatung für Indigene an, berichtet Raul Romero, Leiter der Organisation. Außerdem werde durch Anträge auf staatliche Fördergelder versucht, Möglichkeiten zur landwirtschaftlichen Selbstversorgung der indigenen Gemeinschaften der Qom, Mocovie und Wichí im Chaco zu organisieren.
Indigene Territorien in der Pandemie besonders gefährdet
Die bisherigen Projekte der Organisation laufen wenn möglich weiter, so auch die Arbeit mit indigenen Jugendlichen. Davon berichtet auch die junge Qom-Indigene Claudia Yuni, die in einem Video der Organisation JUM hinter ihrer Maske vor dem Gesicht lächelt: „Wir sind jung und sollten daher bei allen Aktivitäten mitmachen, besonders wenn es um unsere Rechte der freien Meinungsäußerung und um unsere Landrechte geht. Ich weiß dass wir in diesem Moment einige unserer Territorien verlieren, aber als Jugendliche müssen wir dagegen aufstehen. Deswegen bitte ich auch andere Jugendliche mitzumachen, denn jeden Tag können wir etwas neues lernen.“
Yuni verweist in dieser Zeit der Pandemie nicht zufällig auf das Problem der Verluste indigener Territorien, denn auch Romero beteuert: „Mir scheint es so, dass die Orte, an denen es heute noch Wald gibt, die Orte sind, wo die indigenen Gemeinschaften leben. Und genau das sind die Gebiete, auf die es so viele abgesehen haben. Die großen Herausforderungen sind daher – heute mehr denn je – die Umsetzung der indigenen Landrechte und der Umweltschutz. Wir beobachten die räumliche Ausbreitung der Viehzucht, Landwirtschaft und die Übermacht der Großgrundbesitzer mit großer Sorge.“
Die Krise stärkt den Agrarsektor und schwächt die Menschenrechte
Während die indigene Bevölkerung in der Covid-19-Pandemie in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt ist, zeigen Satellitenbilder laut Greenpeace deutlich, dass in den nördlichen Regionen Argentiniens Reihen von Bulldozern die erzwungene Quarantäne ignorieren. Es scheint, sie nutzten die Abwesenheit von Menschen um breite Schneisen in die Wälder zu schlagen.
Das bereits seit Jahrzehnten bestehende Problem der nicht ausgehändigten Besitztitel an indigene Gemeinschaften bleibt unterdessen bestehen, so Romero: „Oft sind die indigenen Familien in ihren Territorien geblieben und der Staat hat ihnen keine neuen Gebiete gegeben. Sagen wir mal es waren früher fünf indigene Familien und heute sind es vielleicht 20. An einem Ort von 200 oder 300 Hektar. Und das im Monte Impenetrable, wo die Erden nicht sehr produktiv sind und es kaum Wasser gibt.“ Die Wirtschaftskrise Argentiniens, die durch die Covid-19-Pandemie noch verschärft wurde, hat den Agrarsektor erneut gestärkt, da er als einzige Möglichkeit gesehen wird, die argentinische Wirtschaft anzukurbeln und die Gier des Staates nach US-Dollar zu stillen – um den Wertabfall des argentinsichen Pesos zu verringern und die sich abermals verschärfende Armut im Land zu lindern.
Romero erzählt: „Die Pandemie brachte auch Hunger mit sich. Das macht uns seither am meisten Sorgen. Wir haben Lebensmittelrationen verteilt, um einigen indigenen Gemeinschaften akut helfen zu können, vor allem großen Familien, die weit entfernt der Städte leben. In der Pandemie können sie nicht mehr das verkaufen, womit sie vorher ein Einkommen hatten.“
Diskriminierung und Stigmatisierung indigen geprägter Stadtviertel
Eine urbane Siedlung von Qom-Indigenen, das Barrio Gran Toba in Resistencia rückte bezüglich der Corona-Pandemie im Mai 2020 in den Mittelpunkt der medialen Aufmerksamkeit. In dem kaum urbanisierten Stadtviertel leben mehr als 4.500 Personen in einfachsten Verhältnissen. Als dort bei einer Gesamtzahl von 780 Fällen in der gesamten Provinz Chaco über 600 Personen positiv auf das Coronavirus getestet wurden, löste dies eine Welle von Ressentiments und diskriminierenden Aktionen aus.
Nachdem die ersten Fälle in der Region Gran Toba auftraten, war keine persönliche Schutzausrüstung verfügbar. Die Bewohner*innen teilten ihren Mate-Tee, traditionell mit demselben Strohhalm, und hielten keine Abstände ein. Doch die in Städten des Chaco, wie der Hauptstadt Resistencia, lebenden indigenen Gemeinschaften waren nicht nur gesundheitlich von dem Virus betroffen.
Die Pandemie fördert den alten Rassismus zu Tage
In einer Radiosendung des argentinischen Online-Radios Futuröck legten verschiedene indigene Bewohner*innen der Barrio Gran Toba Zeugnis über ihre Erfahrungen ab. So auch Belén Perreira: „Ich brauchte dringend eine neue Bankkarte. Deshalb bin ich zur Bank gegangen um sie abzuholen. Und mein Ausweis lag schon auf dem Tisch, weil ihn die Mitarbeiterin der Bank am Eingang genommen hatte. Mein Name ist Perreira Belén, hier aus Resistencia dem Barrio Toba. Und als die Frau auf meinen Ausweis schaute und sah, dass da „Barrio Toba“ stand, forderte sie mich auf die Bank zu verlassen. Sie wurde aggressiver und rief, dass ich abhauen sollte. Sie schrie, damit ich verschwinde. Sie sagte ich dürfe nicht da bleiben, weil ich ansteckend sein könnte.“
Die Kommentatorin von Radio Futuröck resümiert, dass zu den bestehenden und strukturellen Problemen einer urbanen Qom-Gemeinschaft noch das gesundheitliche Problem hinzukäme, wenn das Coronavirus dort auftritt. Die frühere rassistische Stigmatisierung verbinde sich nun mit neuen Ressentiments und die Bewohner*innen würden als „Kranke“ und „Infizierte“ beschimpft. So berichteten andere Personen aus dem Barrio, nicht in Supermärkte oder zur Arbeit gelassen worden zu sein.
Medien verbreiteten rassistische Ressentiments
Nach dem Bekanntwerden des Ausbruchs des Coronavirus im Stadtteil Gran Toba beschloss die Regierung, das Gebiet mit Erdbarrikaden und Zäunen abzusperren. Bis auf zwei Eingänge, die von der Polizei kontrolliert wurden, waren alle anderen Zugänge gesperrt. „Die Leute haben sich sehr erschrocken, als die Polizei das Barrio Gran Toba rundherum abschloss. Sie haben alle möglichen Eingänge unseres Viertels mit Erde zugeschüttet“, erzählt Perreira.
Die Bilder des abgeriegelten Gebietes wurden je nach Einstellung der jeweiligen Medien begrüßt oder als diskriminierende Behandlung kritisiert. Unterschwellige Vorurteile waren in den Berichten der Mainstream-Zeitungen zu finden. In La Nación etwa wurden die steigenden Infektionszahlen in der Region Gran Toba als Folgen angeblich problematischer kultureller Unterschiede – der sogenannten brecha cultural – gedeutet.
Innerhalb des Gebietes bewegten sich die Menschen ohne Einschränkungen. Auch wenn diese Maßnahmen mit der späteren Einrichtung von Gesundheits- und Quarantäne-Zentren innerhalb des Viertels einhergingen, erschwerten die Barrikaden die Zufahrt für Krankenwägen und Müllabfuhren. Daraufhin gründete sich in Gran Toba ein indigenes Notstandskomitee, das als Bindeglied zwischen der Gemeinschaft und den Behörden dient. Es kümmert sich seither vor allem um die Themen Lebensmittelversorgung und Gesundheitsfürsorge, aber auch um die Unterstützung der am meisten gefährdeten Familien beim Zugang zu Notfallprogrammen der nationalen Regierung. Ebenso fungieren Mitglieder des Komitees als Mediator*innen in der lokalen Sprache der Qom, Qomla’ctaq und für kulturelle Aspekte der Gemeinschaft.
Rassistische Marginalisierung und Mechanismen des globalen Marktes gehen Hand in Hand
Vertrieben aus ihren ländlichen Territorien und in der städtischen Peripherie in oft überfüllte Räume gedrängt, wird die indigene und mestizische Landbevölkerung marginalisiert. Und das hat auch mit der globalen Wirtschaft zu tun, denn der massive Sojaanbau und die Fleischproduktion sind für die europäischen, chinesischen und US-amerikanischen Märkte bestimmt.
Eine weitere Folge der Pandemie war es, dass indigene Organisationen, wie das Movimiento Nacional Campesino Indígena oder die Umweltschutzorganisation Somos MONTE Chaco nicht auf den Straßen Resistencias demonstrieren durften. Daher versuchen sie verstärkt über das Internet zu mobilisieren und ihre politische Arbeit für Landrechte und Umweltschutz fortzusetzen.
„Pandemien sind eine Folge von Extraktivismus und Agrobusiness“
Somos MONTE Chaco veröffentlichte auf ihrer Facebook-Seite zum Beispiel folgende Botschaft: „Der Chaco ist eine der Provinzen, in denen wir am besten sehen, dass Extraktivismus und Agrobusiness ein Horror für unsere Gesellschaft sind. Mit Familien, die von Abgasen betroffen sind, die an Krebs, Fehlgeburten und Missbildungen leiden. Mit Rodungen, die seit Beginn der Geschichte der Provinz nicht aufgehört haben, die Folter und Zwangsmigrationen für kleine indigene und Criollo-Produzenten bedeuten, die alle dort lebenden wilden Tiere töten. Und was ist geblieben? Krankheiten, vergiftetes Wasser, Rauch, Wüstenbildung, versalzenes Wasser, Dürre, Überschwemmungen, soziale Konflikte, Schmerz, Ungerechtigkeit, ein Staat, der Geld investiert, um die Probleme zu beheben. Und Pandemien. Denn auch Pandemien sind eine Folge von Extraktivismus und Agrobusiness.“
Auch Raul Romero von der Organisation JUM zieht ein alarmierendes Resümé: „Es scheint mir, dass die Menschheit in der globalisierten Welt, in der wir leben, eine extreme Wende machen muss, da der Schutz der Erde und der Schutz der Umwelt nur von Bauern und Indigenen geleistet werden kann. Denn die großen Unternehmen sind mit einem extraktivistischen System, aber nicht mit der Sorge um Mutter Erde beschäftigt.“
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Ausgrenzung und Widerstand – Qom-Indigene in der Pandemie von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
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