„Verschwinden in der Demokratie“

(Buenos Aires, 3. Juli 2023, Agencia Paco Urondo).- Die linke Journalistin Adriana Meyer hat zu Polizeigewalt in Argentinien geforscht und ist zu dem Schluss gekommen: Die Regierung Macri war von allen die repressivste, sie hat die Familie Santiago Maldonados verunglimpft, und es gab in dieser Zeit die meisten Gewaltvorwürfe gegen Sicherheitskräfte.

APU: Unter welcher Regierung hat es seit der Wiedereinführung der Demokratie die meisten Menschenrechtsverletzungen gegeben?

Adriana Meyer: In meinem Buch „Desaparecer en democracia“ (Verschwinden in der Demokratie) gehe ich nicht speziell auf Menschenrechtsverletzungen ein. Ich konzentriere mich auf das Verschwindenlassen. Nora Cortiñas [Menschenrechtlerin und Mitbegründerin der Madres de Plaza de Mayo] sagte in einer der ersten Demonstrationen nach dem Verschwinden von Santiago Maldonado, in allen demokratischen Regierungen werde mit Verschwindenlassen gearbeitet. […] Das entspricht auch meiner These, dass nämlich für das Verschwindenlassen von Menschen kein so genannter „ideologischer Graben“ existiert.

APU: Geht das gewaltsame Handeln der Sicherheitskräfte auf politische Entscheidungen zurück, oder ist das einfach Teil einer historischen Praxis?

A.M.: Es wird manchmal gesagt, dass die Sicherheitskräfte, insbesondere die von Buenos Aires, ganz unabhängig arbeiten. Andere, die sich mit diesen Fragen auskennen, wie der Journalist Ricardo Ragendorfer oder Soziologen wie Alejandra Vallespir, behaupten, das sei falsch. Sie sprechen hingegen von einer sehr engen Verbindung zwischen den Polizeieinheiten, die für ihre Brutalität bekannt sind, weil sie Kinder unter Druck setzen und in Polizeistationen foltern, und den politischen Vertretern in den jeweiligen Vierteln. Viele denken auch, irrtümlicherweise, würde ich sagen, dass die Schießereien, der Gatillo Fácil, die Morde in Polizeistationen und Gefängnissen und eben das Verschwinden von Menschen ein Erbe der Diktatur sind. Meine Recherchen für mein Buch haben jedoch ergeben, dass es in Wirklichkeit genau umgekehrt ist: Die Diktatur hat sich die Polizeipraktiken zunutze gemacht, die es davor schon gab. Und ich würde sagen, dass diese bestimmte Art der Politik jenseits der Demokratie immer noch existiert, die Art von Politik, die sich bestimmter gewalttätiger Praktiken bedient. Als Sicherheitsminister León Arslanian [Anfang der 2000er Jahre] ankündigte, wegen der zahlreichen Gewaltvorwürfe und Korruptionsfälle den Polizeiapparat einmal gründlich aufzuräumen, hagelte es Anrufe von Richtern und Bürgermeistern, die sie baten, die besagten Polizisten nicht zu entlassen. Offensichtlich brauchen Politik und Justiz diese Polizisten, aber warum? Möglicherweise hat das mehr mit Geld zu tun als mit Ideologie.

APU: Haben Sie in Ihren Untersuchungen einen Zusammenhang zwischen der Zahl der verschwundenen Personen und der jeweiligen Regierung festgestellt?

AM: Natürlich gibt es Nuancen. Zum Beispiel seit Sabrina Friedrich das Sicherheitsressort übernommen hat, wurden schon mehrere Menschenrechtsorganisationen empfangen, darunter CORREPI, die Initiative gegen Polizeigewalt, und mehrere Protokolle der Sicherheitsministerin unter Macri, Patricia Bullrich, wurden aufgehoben. Den vorliegenden Zahlen zufolge war die Regierung Macri bei weitem die repressivste. Alle 19 Stunden starb ein Mensch durch die Hand der Sicherheitskräfte. Man könnte sagen, dass sich die Situation im ersten Jahr der Regierung von Alberto Fernández leicht verbessert hat. Aber während der Pandemie hatten wir sogar alle 17 Stunden eine getötete Person. Daran zeigt sich, dass nicht die ideologische Ausrichtung der ausschlaggebende Faktor der Polizeigewalt ist. Während der staatlich verordneten sozialen Isolierung besaß die Polizei so etwas wie einen Freibrief, und die Zahl der Todesfälle stieg sprunghaft an. Von den 411 Todesfällen im Jahr 2020 während der Pandemie entfielen 70 Prozent auf die erste Phase des Aislamiento Social Preventivo Obligatorio. In diese Zeit fällt auch das Verschwinden von Facundo Astudillo Castro und Luis Espinosa in Tucumán. Sie wurden von der Polizei von Tucumán bzw. Buenos Aires ermordet. Die Zahlen machen deutlich, dass wir viel mehr strukturelle Reformen brauchen. Alle Gesetze, die willkürliche Verhaftungen begünstigen, müssten aufgehoben werden. Das wurde schon im Urteil zum Fall Walter Bulacio beschlossen, aber keine Regierung hat den Beschluss umgesetzt [Der 17-jährige Bulacio wurde 1991 bei einer Razzia verhaftet, obwohl das Jugendschutzgesetz die Inhaftierung von Minderjährigen ohne Einschaltung eines zuständigen Richters verbietet. Nach einer Nacht in Polizeigewahrsam wurde er mit gebrochenem Schädel ins Krankenhaus gebracht, wo er fünf Tage später starb]. Was die jetzige Regierung allerdings erreicht hat: Die Polizei an den Flughäfen trägt keine Waffen mehr, wodurch die Zahl der Gatillos Fáciles zurückging, das ist natürlich gut. Nun sollten andere Bereiche sich ein Beispiel daran nehmen.

APU: Welche waren für Sie die symbolträchtigsten Fälle von Verschwindenlassen?

AM: In meinem Buch gehe ich auf 218 Geschichten ein. Es gibt einige, die eher emblematisch sind. Die erste Person, die in der Demokratie verschwand, war José Luis Franco in der Stadt Rosario, das war im Dezember 1983. Jorge Sivak und Jorge Julio López verschwanden gleich zweimal [während der Diktatur UND der Demokratie]. In meinem Buch gehe ich auch auf die Fälle von Miguel Bru, Sebastián Bordón, Sergio Avalos, Facundo Rivera Alegre in Córdoba und Franco Casco im Litoral ein. Und natürlich auf Santiago Maldonado und auf Iván Torres, dessen Leiche nie gefunden wurde. Ich habe bewusst Fälle aus den 90er Jahren genommen, um sie dem Vergessen zu entreißen, und andere, die wenig bekannt sind und mich schockiert haben. Alejandrito Flores wurde 1991 in Rio Cuarto in Córdoba von einem Streifenwagen überfahren. Die Polizeibeamten aus der Wanne riefen ein paar befreundete Krankenschwestern an, und weil die ihn nicht wiederbeleben konnten, musste seine Leiche verschwinden. Erst 17 Jahre später bekam Alejandritos Familie seine sterblichen Überreste, und das aus Zufall. Man hatte die Leiche in der Nähe des Unfallorts in einem Gully entsorgt. Da seine Hüfte Spuren des Unfalls aufwies, konnte der Vorfall rekonstruiert werden. Die Polizisten hatten den Streifenwagen in eine andere Provinz gebracht, um ihn reparieren zu lassen. Dann war da noch der Fall von Elías Gorosito, verstorben 2002 in Paraná, Entre Ríos. Die Familie hatte zu dem Zeitpunkt schon mehrere Kinder durch Polizeigewalt verloren. Oder Diego Duarte, dessen Geschichte Alicia Dujovne Ortiz zu ihrem Buch „¿Quién mato a Diego Duarte?“ („Wer hat Diego Duarte getötet?“) inspirierte. Der junge Mann hatte auf der Müllkippe von José León Suarez rumgesucht. Ein Polizeibeamter gab den Befehl, ihn mit dem Bulldozer unter dem Müll zu begraben. Diegos Leiche wurde nie gefunden. Und schließlich der Fall von Víctor Balbuena in Concordia im Jahr 2003: Er verließ mit drei Freunden eine Disco und wurde von den Todesschwadronen der Polizei ermordet, die zu dieser Zeit in Entre Río wüteten. Auch seine Freunde wurden gefoltert, nur einer überlebte.

APU: Sie sagen, die Regierungszeit von Mauricio Macri und Patricia Bullrich sei die repressivste gewesen. Könnten Sie das näher erläutern?

AM: Dass die Regierung Macri mit Bullrich als Sicherheitsministerin am repressivsten war, ist eindeutig, und dafür sprechen nicht nur die Zahlen. Denken Sie nur an die Haltung der Regierung im Fall von Santiago Maldonado. Ein Staat, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Familie des vermissten jungen Mannes zu verunglimpfen. Den Fall auf skandalöse Weise zu vertuschen. Die Position der Regierung war einfach schamlos. Denken Sie an die repressiven Protokolle, die erst von der jetzigen Regierung zum Glück wieder aufgehoben wurden, die Chocobar-Doktrin: „Erst schießen, dann fragen“ und „Wer bewaffnet sein will, soll sich bewaffnen“. Diese Regierung hat einfach gemacht, was sie wollte. In dieser Zeit gab es die meisten Fälle institutioneller Gewalt, und dennoch hören wir weiterhin auf ihre Erben und deren Hassreden, die vorschlagen, die Armen zu erschießen, wie Javier Milei, Espert und all diese Leute. Ich kann den Initiativen CELS und CORREPI nur Recht geben: In Bezug auf Unterdrückung und institutionelle Gewalt war die Regierung Macri definitiv die schlimmste demokratisch gewählte Regierung, die wir je hatten.

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