Sergio Maldonado – „Es gibt noch viele Santiagos“

(Berlin, 23. Juni 2022, npla).- Der Tod und das gewaltsame Verschwindenlassen des Umweltaktivisten Santiago Maldonado am 1. August 2017 liegen nun fünf Jahre zurück. Am 23. Juni sprachen wir in Berlin mit seinem Bruder Sergio Maldonado über den aktuellen Stand des Falles, die Zentralisierung der juristischen Macht und das Fortbestehen einer allmächtigen, antidemokratischen und zerstörerischen Rechten in Argentinien.

NPLA: Hallo Sergio, danke, dass wir mit dir sprechen können. Bitte stell dich nochmal kurz vor und erklär uns kurz, was du hier in Berlin machst.

Sergio Maldonado: Ich heiße Sergio und bin der Bruder von Santiago Maldonado. Wir wollen hier auf den aktuellen Stand des Verfahrens zu seinem Tod aufmerksam machen. Denn da steht alles total still. Am 1. August wird das erzwungene Verschwindenlassen und Santiagos Tod fünf Jahre her sein. Bereits vor drei Jahren habe ich hier in Berlin die Möglichkeit gehabt, mit vielen in Berlin lebenden Argentinier*innen und Lateinamerikaner*innen darüber zu sprechen.

Nach seinem Verschwinden und dem Fund seiner Leiche wurden viele Forderungen nach Aufklärung und Gerechtigkeit laut. Der Fall bekam zuerst viel Aufmerksamkeit, doch dann immer weniger. Wird heute in Argentinien über diesen Fall gesprochen und berichtet? Wie ist der heutige Stand in Santiagos Fall?

Ich denke, es war der wichtigste Fall der vergangenen Jahre. Aber es ist schon fünf Jahre her und die Arbeiten an dem Verfahren sind komplett zum Erliegen gekommen. Seit März 2020 liegt das Verfahren beim Obersten Gerichtshof Argentiniens und es bewegt sich gar nichts. Nicht einmal die Ereignisse vom 1. August 2017 wurden rekonstruiert. Es wurde seither nichts recherchiert und nichts unternommen. Dass dieser Fall bisher so straflos geblieben ist, hat folgenden Hintergrund: Bei jeder Nachricht oder neuen Erkenntnissen beginnen die Verantwortlichen, die zu dieser Zeit in der Regierung von Mauricio Macri waren, erneut in den sozialen Medien zu verbreiten, dass sich Santiago selbst ertränkt hätte oder die Justiz schon ihre Arbeit getan hätte.

Vor zwei Monaten zum Beispiel ist eine neue Zeugin aufgetreten, die Teil des Gesundheitspersonals der Polizei ist, die alles, was wir seit langem zur Anzeige bringen, bestätigt. Sie macht genaue Angaben, berichtet über genaue Zeitpunkte und erklärt detailliert, wer beteiligt war. Sie verweist sogar auf die direkt Verantwortlichen für die Ermordung an Santiago. Aber es gibt einfach keinen Richter und deshalb bewegt sich nichts. Das bedroht die Möglichkeit Zeugnis abzulegen und die juristische Behandlung weiterer Erkenntnisse in dem Fall.

Santiago engagierte sich bis zu seinem Tod auch für die territorialen Forderungen der Mapuche in Argentinien. Bist du selbst mit den Mapuche oder anderen indigenen Gruppen verbunden bzw. unterstützt du selbst ihre Kämpfe?

Nein, daran nehme ich nicht teil. Als im vergangenen Jahr ein Junge aus einer Mapuche-Gemeinschaft ermordet wurde, bin ich in Kontakt getreten, ebenso in einem Fall einer Rückforderung von Land, in der auch noch ein Junge verletzt wurde. Da habe ich mich solidarisiert. Aber es ist nichts, an dem ich aktiv teilnehme. Denn um die Interessen der Mapuche zu verstehen, musst du eben Mapuche sein. Da ich diese Befugnis nicht habe, kann ich mich nicht für eine Sache einsetzen, für die Santiago eingetreten ist. Es wäre, als würde ich mich auf einem Gebiet einmischen, in dem ich mich nicht auskenne und in dem ich mich auch nicht einmischen sollte. Ich engagiere mich für die Forderung nach Gerechtigkeit für Santiago. Und ich unterstütze andere Fälle, von denen ich glaube, dass ich sie verstehe und ich daran teilnehmen kann.

Ich persönlich glaube noch immer an den Staat, denn von genau dem fordere ich Gerechtigkeit für Santiago. Und die indigenen Gruppen glauben [teilweise] nicht an den Staat, denn sie haben ihre eigene Art, Forderungen zu stellen. Ich habe mich diesen Forderungen vor Santiagos Tod selbst nicht angeschlossen und kann es daher auch jetzt nicht machen. Das wäre, als würde ich das für mein Anliegen missbrauchen oder könnte es nicht auf die richtige Weise machen. (…) Natürlich solidarisiere ich mich gegen die Repressionen. Aber ich werde nicht die Fahne der indigenen Gruppen schwenken, denn ich gehöre nicht zu einem der pueblos originarios (indigenen Bevölkerungsgruppen). Manchmal musst du wissen, was dein eigener Platz ist und auf welche Weise du dich von dort aus engagierst. Ich nehme teil, indem ich von außen begleite, aber ich mische mich nicht ein. Aus Respekt für die Mapuche und für Santiago selbst.

Vor einiger Zeit wurde hier in Deutschland öffentlich bekannt, dass Luis Esteban Kyburg, ein Mittäter der Verbrechen der argentinischen Militärdiktatur, heute ungestraft in Berlin lebt. Santiago war 78 Tage lang verschwunden, ebenso wie viele Menschen in der argentinischen Militärdiktatur zu Desaparecidos (Verschwundenen) gemacht wurden, indem sie vom Militärregime ermordet worden sind.

Eine Sache sind die Desaparecidos in der Militärdiktatur, deren Ermordung auf den systematischen Plan des „Verschwindenlassens“ der Regierung folgte, die eine Militärregierung war. Der Fall Santiagos passierte erst Jahrzehnte später, in der Amtszeit Mauricio Macris und unter einer demokratischen Regierung. Sicher war Santiago nicht der erste und nicht der letzte Verschwundene in einer Demokratie. Aber sein Fall war der erste, in dem eine demokratische Regierung den Befehl zu einer illegalen Repression gab, in deren Rahmen Santiago verschwunden ist, und diese für richtig befunden hat. Die damalige Sicherheitsministerin Patricia Bullrich, die zu diesen Vorkommnissen befragt wurde, antwortete, sie würde niemals einen Polizisten beschuldigen (Yo no voy tirar a ningun gendarme por la ventana). Das war für mich einfach eine unhaltbare Aussage! Sie stärkte so der Polizei den Rücken, die in Pu Lof in Cushamen einmarschiert war, einem Terriorium, das die Mapuche von der Firma Benetton zurückgefordert und juristisch zugesichert bekommen hatten. Die Polizisten haben also illegal ein Grundstück betreten, wofür sie keinen erkennbaren Grund hatten. Bei dieser Aktion ist Santiago bis auf weiteres für die nächsten 78 Tage verschwunden.

Wenn wir es so betrachten, gibt es in der Demokratie keine direkte Verbindung zwischen Verschwundenen. Es gibt zumindest immer wieder Verschwundene, wie zum Beispiel während der Corona-Pandemie oder in verschiedenen Städten. Doch Santiagos Fall ist anders, weil eine staatliche Macht illegal in ein Gebiet eingedrungen ist und dabei die volle Unterstützung der Regierung bekam. Und darin liegt nun eine Ähnlichkeit mit dem, was damals in der Diktatur passiert ist. Es wurde deutlich, dass das „Nie wieder“ (Nunca más), das wir alle fordern, nicht möglich war. Denn wir haben auf diese Weise wieder einen Desaparecido gehabt. Und das mit solcher Entschlossenheit.

Während der Militärdiktatur, in der die Todesflüge (Vuelos de Muerte) durchgeführt wurden, und alle Desaparecidos wie Ertrunkene erschienen, wurden die Opfer selbst für ihr Verschwinden verantwortlich gemacht. Es gab darüber hinaus eine starke Stigmatisierung der Familien und eine Entmenschlichung der Opfer. Es hieß: „Irgendwas werden sie schon gemacht haben, dass ihnen das passiert ist…“. Genau das ist bei Santiago auch geschehen, als man ihn als „fertigen Hippie“ darstellte, der es nicht anders verdient hätte, der etwas Illegales getan hätte, der geflohen sei und es ja somit richtig gewesen wäre, was die Sicherheitskräfte getan haben.

So wurde es dargestellt, als seine Leiche an einer Stelle im Fluss gefunden wurde, wo das Wasser 50cm tief ist und wo zuvor schon drei mal geharkt worden war. Beim vierten Harken wurde er dann entdeckt, was es sehr wahrscheinlich macht, dass sein Körper dort abgelegt worden ist. Zumal sein Körper Spuren von Kryo-Konservierung [Konservierung durch Einfrieren] aufwies. Wenn wir also den Kontext zusammenführen, in dem all das passierte, dann sehen wir dort schon Parallelen. Denn die Methode der Sicherheitskräfte, die Menschen ermorden und verschwinden lassen, hat sich nie verändert – ob nun in einer Diktatur oder in einer Demokratie.

Hoffen wir, dass die neuen Regierungen gleichermaßen die Erinnerung an die Militärdiktatur wach halten und Sicherheitskräfte für ihre Verbrechen heute zur Rechenschaft gezogen werden…

Das ist auch sehr komplex, denn die Regierungen können nicht direkt die Rechtssprechung beeinflussen. Denn sonst würden sie die Rolle der Justiz übernehmen, die dann nicht unabhängig wäre. Genau das ist während des Macrismo aber passiert, der sich direkt in die Justiz eingemischt hat. Mittlerweile wurde belegt, dass Richter, die gegen uns entschieden haben, mit Mauricio Macri Golf spielten. Etwas, das normalerweise mit Regierungsvertretern nicht stattfindet.

Der Oberste Gerichtshof besteht heute aus vier Personen – für 47 Millionen Einwohner*innen des Landes. Die Macht dieser vier obersten Richter ist extrem groß und lässt sich mit fast keinem anderen Land der Welt vergleichen. Ich finde, das ist eine extreme Machtkonzentration. Es ist unmöglich, mit nur vier obersten Richtern die Judikative eines Landes zu leiten und es lässt sich leider auch nur schwer ändern. Ohne Frage trägt auch die Exekutive, also die Regierungen die Verantwortung dafür, nicht mit einer Justizreform voran zu kommen, damit dies in Zukunft nicht weiter passiert.

Zum Beispiel stecke ich seit mehr als drei Jahren in einem Verfahren, in dem es um illegale Mobilfunküberwachung geht. Ich warte darauf, dass das Oberste Gericht die Entscheidung trifft, ob die illegal erhobenen Daten zerstört werden oder nicht. So weit ist es gekommen, weil es viele Richter gibt, denen es korrekt erschien, dem Bruder [von Santiago Maldonado] das Handy abzuhören. Gleichzeitig fanden die Richter es aber falsch, Audios von Polizisten weiterzugeben, in denen diese über alles was während des Einsatzes geschah, berichteten. Und auch das Verfahren über das gewaltsame Verschwindenlassen und das Ersuchen, dass dieses ein weiterer Richter untersucht, liegt vor dem Obersten Gericht. Beide Fälle liegen seit März 2020 dort und stehen absolut still. Und es gibt noch eine Menge mehr Leute, die ihre Fälle beim Obersten Gerichtshof liegen haben, wo sie ausgebremst sind. Vier Personen haben die Macht über 47 Millionen Argentinier*innen. So darf es nicht sein – es müsste ein viel größeres Tribunal mit mehr Mitgliedern geben, in dem es verschiedene Stimmen gäbe. Hinzu kommt noch, dass alle vier Personen Männer sind, die somit eine patriarchale Rechtssprechung repräsentieren. Und das in einem Land mit einer so starken feministischen Bewegung. Wenn hier ein Fall juristisch verhandelt wird, gibt es viel mehr Einfluss seitens der Männer.

Anmerkung der Redaktion: Nach diesem Interview, am 14. Juli 2022, beschloss der Staatsrichter Daniel Rafeca, den Fall der illegalen Spionage und der Kriminalisierung des sozialen Protests durch den Staat während der Amtszeit von Patricia Bullrich als Leiterin des Sicherheitsministeriums einzustellen. Sergio Maldonado, Myriam Bregman und Matías Aufieri als Mitglieder des Centro de Profesionales por los Derechos Humanos (CeProDH) hatten den Fall im Jahr 2017 angestoßen. In einem mehr als 90-seitigen Schriftsatz erklärte der Leiter des 3. Staatsgerichts der Stadt Buenos Aires den Fall für abgeschlossen – ohne Verbrechen oder Schuldige.

Was machen die Vertreter*innen des Macrismo heute? Wird bezüglich der angesprochenen Vergehen ermittelt?

Es konnte längst nachgewiesen werden, dass diese Leute Waffen nach Bolivien schickten, um einen Aufstand zu unterstützen, der Evo Morales stürzen sollte. Hinzu kommt ihre Aufnahme von Krediten des Internationalen Währungsfonds (IWF), die sie nicht zurück gezahlt haben und deren Gelder sie veruntreut haben. Es gibt so viele offene Fragen! Und trotzdem ist Mauricio Macri bereits dabei, erneut für die Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr zu kandidieren, ebenso wie Patricia Bullrich. Beide leben also in völliger Straffreiheit. Sie werden von allen großen Medien des Landes unterstützt, die die Macht dazu haben, der Öffentlichkeit den Eindruck zu vermitteln, es hätte gar kein Verbrechen gegeben.

So herrscht eine große Ungleichheit im Kampf gegen diese Leute, deren Machenschaften sich bis in die Zeit der Conquista del desierto [1878 -1885] zurück verfolgen lässt. Etwa, wenn wir daran zurück denken, dass damals Julio Roca in Patagonien begann, Mapuche-Gruppen zu töten und zu versklaven. In Buenos Aires wurden die gefangengenommenen Mapuche an einem Ort verkauft, der Patio Bullrich heißt und der heute als Shopping-Mall genutzt wird. Er gehörte den Vorfahren der ehemaligen Sicherheitsministerin Patricia Bullrich, der Beraterin von Ex-Präsident Macri. Sie selbst besitzt Ländereien in Patagonien, wo es unter anderem in den 1920er Jahren zur militärischen Niederschlagung des Arbeiter-Aufstands Patagonia Rebelde kam. Alle Mitglieder der ehemaligen Regierung Mauricio Macris kommen aus diesem Umfeld. Sie alle sind Nachkommen dieser Leute, die so viel Schaden in der Geschichte Argentiniens angerichtet haben.

Es erscheint aus einer deutschen Perspektive unglaublich, besonders da wir in einer Zeit leben, wo sich mehr und mehr Menschen in den Bann von Verschwörungstheorien über Verbindungen von Medienmonopolen und korrupten Regierungen ziehen lassen. Währenddessen scheint diese Art des Machterhalts in Argentinien eine historische Kontinuität darzustellen…

Ja, ich denke in Deutschland muss es auch unvorstellbar erscheinen, dass einem ausländischen Investor ein 20.000 Hektar großes Territorium gehört, was zudem die Grenze eines Nachbarlandes umfasst. In Argentinien passiert das, zum Beispiel im Falle von Levis. Der englische Magnat besitzt 20.000 Hektar Land, ganz in der Nähe von Bariloche. Das Landstück heißt El Bolson und es grenzt an Chile. Er besitzt dort einen See, an dem er ein Heizkraftwerk betreibt und sein Potenzial von dort aus voran treibt. Dann gibt es Luciano Benetton, der etwa 900.000 Hektar in ganz Argentinien besitzt. Das passiert dort als etwas total natürliches. 900.00 Hektar sind die 44-fache Fläche der Stadt Buenos Aires. Und man könnte noch über Soja im Chaco, die neuesten Getreide-Abkommen, Transgenicos und Monsanto sprechen…

Es ist jedenfalls nicht so, als wenn Santiago damals ohne Grund ausgerechnet an diesen Ort gekommen wäre und sich „einfach so“ mit der Wiedererlangung des Mapuche-Territoriums beschäftigt hätte: Er engagierte sich zum Beispiel auch gegen die Mega-Bergbauprojekte (Megaminería). Bei seiner ersten Reise unterstütze er die Guaraníes im Norden des Landes. Er war gegen Monsanto. Er unterstützte die Fischer auf der Insel Chiloé im Süden Chiles in ihrem Kampf gegen die riesigen Lachsfarmen. Es gibt zwischen all dem Verbindungen, weshalb Santiago dann nach Cushamen gelangte. Er hatte bereits sein politisches Engagement vorangebracht – natürlich immer unabhängig, denn er war Anarchist. In all den genannten Bereichen und Gebieten sind die natürlichen Ressourcen bedroht, wobei wir sehen können, dass es hier immer dieselben Akteure sind – nämlich die mächtigen Rechten des Landes. Sie haben den Zugriff auf die Gebiete, die von großem Wert sind, weil sie ihnen wertvolle  natürliche Ressourcen entziehen können.

Es ging Santiago nicht nur um die Rückforderung der Mapuche-Ländereien, sondern um den gesamten Kontext der Menschenrechtsverletzungen, in dem diese stehen. Deshalb ist er Opfer des gewaltsamen Verschwindenlassens geworden. Deshalb hat sein Fall eine solche Relevanz! Denn es gibt noch immer viele Santiagos in dieser Welt, die nicht anonym bleiben dürfen – daher ist es so wichtig, dass die Forderungen nach Gerechtigkeit und Aufklärung seines Falls nicht verstummen.

 

Hier findet ihr einen kurzen Audiobeitrag zu diesem Thema von Radio onda, das Audio und das schriftliche komplette Interview bei Radio matraca auf Spanisch.

 

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