(23. Oktober 2019, aporrea.org).- Der ehemalige Richter Baltasar Garzón, der vor 20 Jahren entscheidend zur Verhaftung des chilenischen Ex-Diktators Augusto Pinochet in London beitrug, hat einen offenen Brief an den derzeitigen chilenischen Präsidenten Sebastián Piñera verfasst. Themen des Briefes: die soziale Explosion in Chile als Reaktion auf soziale Ungleichheit sowie seine Kritik am erklärten Ausnahmezustand und der Anweisung, die Militärs auf die Straße zu holen.
Im Folgenden der Brief „Was passiert in Chile?“
Herr Präsident,
ich bin Baltasar Garzón, der spanische Richter, der Augusto Pinochets Verhaftung am 16. Oktober 1998 in London anordnete. Ich kenne Sie nicht und habe mich auch nie darum bemüht, Sie kennenzulernen. Alle anderen Präsidenten Ihres Landes, das mir so viel bedeutet, habe ich sehr wohl kennengelernt. Vielleicht aus Zuneigung zur chilenischen Bevölkerung, oder aus meiner Haltung, immer die Opfer, die Schwächsten und Verwundbarsten und auch die indigenen Völker zu verteidigen – auf jeden Fall habe ich entschieden, Ihnen aus tiefer Empörung und Schmerz über das, was in Chile passiert, diesen Brief zu schreiben.
Herr Präsident, die Chileninnen und Chilenen sagen laut und deutlich: Es reicht, basta! Wir sehen eine spontane soziale Explosion, die von keiner politischen Partei gesteuert wird. Ein einfacher Protest der Studierenden gegen die Preiserhöhung der U-Bahn-Tickets, heftig bekämpft von der chilenischen Polizei, die nur ausführte, was die Regierung befahl, wurde zur Lunte, die den in dreißig Jahren aufgestauten Zorn entzündete.
Herr Präsident, Sie werden wohl mit mir darin übereinstimmen, dass sich hinter dem – Pinochet zugeschriebenen und als Entwicklungsmodell beim Übergang Chiles in die Demokratie beibehaltenen – angeblichen Wirtschaftswunder tatsächlich ein trauriger Rekord sozialer Ungleichheit verbirgt: Chile ist unter den zehn Ländern dieser Erde mit der größten sozialen Ungleichheit, auf demselben Niveau wie Ruanda. So sagt es der Gini-Index, den auch die Weltbank [zur Abbildung der Ungleichheit der Einkommensverteilung, Anm. Übers.] verwendet.
In Chile gibt es tatsächlich Entwicklung und viel Reichtum, der jedoch nur einer kleinen politischen und wirtschaftlichen Elite zugänglich ist. Chile kann eine nicht zu übertreffende makroökonomische Zahlen und ein über Jahrzehnte anhaltendes Wachstum vorweisen. Allerdings verarmt die große Mehrheit der Bevölkerung dabei langsam aber stetig und verschuldet sich.
Nach Presseberichten und sogar laut Angaben der Zentralbank hat diese Entwicklung in diesem Jahr einen historischen Höhepunkt erreicht. Herr Präsident, Ihr Land fand vor Jahren Zutritt in den erlauchten Club der reichen Länder, die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Dass der Neuling unter den entwickelten Staaten mit hoher Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit glänzen konnte, hatte natürlich seinen Preis: ein niedriges Lohnniveau und den fast vollständige Verzicht auf die soziale Absicherung der Bevölkerung.
Sie als höchste politische Instanz wissen , dass die in Chile aktuell gültige Verfassung aus der Diktatur stammt: eingeführt mithilfe eines Referendums, das abgehalten wurde, während Pinochets Schergen Oppositionspolitiker folterten, mordeten und gewaltsam verschwinden ließen. Diese Verfassung erfuhr mehrere Anpassungen, um den Transformationsprozess, den Übergang zur Demokratie zu ermöglichen. Auch später noch wurde sie zu zahlreichen Gelegenheiten verändert. Aber ihr Geist und ihre Ausrichtung sind gleich geblieben.
Es gibt keinen „sozialen“ und „demokratischen“ Rechtsstaat, sondern einen „liberalen“ oder „neoliberalen“ und „subsidiären“, gewissermaßen „behelfsmäßigen“ Rechtsstaat. Das bedeutet, dass die staatlichen Dienstleistungen – von wenigen Ausnahmen abgesehen – von schlechter Qualität sind, und Armen und Mittellosen zuteilwerden sollen.
Vielleicht gefällt es Ihnen nicht, das zu hören, aber dennoch: Angesichts des sozialen Protests eines unter demokratischen Verhältnissen bisher ungeahnten Ausmaßes ist Ihnen, dem Präsidenten, und den neoliberalen Erben Pinochets, die heute das Land regieren, nichts besseres eingefallen, als diese alte, Ihnen nur zu gut bekannte Strategie anzuwenden. Sie haben auf das Militär zurückgegriffen. Wieder einmal sollten Soldaten auf die Straße gehen, um die Menschen zu unterdrücken.
Es versteht sich von selbst, dass Gewalt neue Gewalt erzeugt, dass Feuer nicht mit Benzin gelöscht werden kann, und dass es über kurz oder lang viele Schwerverletzte und Tote geben wird, wenn Soldaten die Straße beherrschen. Das Militär ist nicht darauf vorbereitet, die öffentliche Ordnung zu kontrollieren, sondern darauf, Krieg zu führen, den Feind zu bezwingen oder zu zerstören. Immer wenn Soldaten auf die Straße gingen, wurde alles nur noch schlimmer – auch wenn sie in einem angeblichen Krieg gegen Verbrecher „kämpfen“ sollten. Kriminalität, Plünderungen und Ausschreitungen nehmen nicht ab; stattdessen kommt die ungebremste staatliche Gewalt hinzu, die im Nachhinein auf übelste Art vertuscht wird, um Straflosigkeit zu garantieren. Aber, Herr Präsident, Sie und die im Amt befindliche Regierung irren, was das Ziel Ihrer Aktionen angeht: Die Bevölkerung ist nicht der Feind, sondern das Opfer; man muss sie beschützen, statt sie mit Methoden des Ausnahmezustands zu bestrafen.
„Wir haben unsere Angst verloren!“ sagen Chileninnen und Chilenen in den sozialen Netzwerken. „Chile ist aufgewacht!“ ist einer der Slogans dieser spontanen sozialen Protestbewegung, die anfängt, sich zu organisieren, „Es hat gerade erst angefangen!“ ein anderer. „Wir müssen weitermachen!“ sagt auch ein Landarbeiter, als er sieht, wie angesichts der Proteste auf einmal wieder reichlich Wasser fließt, wo am Vortag noch ein ausgetrockneter Fluss war. Ein großes Unternehmen hatte den Lauf des Wassers wieder freigegeben, nachdem sie es ungerechterweise denjenigen entzogen hatten, die von der Landwirtschaft leben.
Jetzt und in Zukunft verfolgen wir sehr aufmerksam, was in Chile passiert. Seien Sie gewiss, dass die Menschenrechtsverletzungen und die Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung, die jetzt begangen werden, dieses Mal nicht straflos bleiben werden. Denn außer der chilenischen Staatsanwaltschaft und dem Nationalen Institut für Menschenrechte (INDH), gibt es inzwischen das „Weltrechtsprinzip“ [Prinzip der universellen Gerichtsbarkeit für Menschenrechtsverbrechen, Anm. d. Übers.], den Internationalen Strafgerichtshof und das Interamerikanische Menschenrechtssystem. Außerdem beobachtet die internationale Gemeinschaft die Entwicklung aufmerksam und wird nicht zulassen, dass sich die Schrecken der Vergangenheit in Chile wiederholen.
Um alle Zweifel auszuräumen, Herr Präsident: Wir teilen nicht die Ansicht des Generalsekretärs der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), der die Schuld für alles, was in Lateinamerika passiert, Kuba, Venezuela, Rafael Correa, Lula da Silva, Cristina Fernández de Kirchner, Alberto Fernández und all denen gibt, die sich der neoliberalen Welle entgegenstellen. Dieser Welle, die wie in den 70er Jahren unter der Vorherrschaft des Nordens wieder den Kontinent zerstört. Diesmal werden wir uns von denjenigen, die den demokratischen Ausdruck und Widerstand der Bevölkerung erneut unterwerfen und beenden wollen, nicht täuschen und auch nicht demütigen lassen.
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Baltasar Garzón, ehemaliger Richter, Mitglied des Lateinamerikanischen Rats für Gerechtigkeit und Demokratie
Übersetzung: Ute Löhning
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