Mord-Epidemie im Cauca

(Berlin, 12. Juli 2020, poonal).- In diesem Jahr – vor allem seit Beginn der Coronapandemie – haben die Gewalttaten und Morde an sozialen Führungspersonen in Kolumbien seitens legaler und illegaler bewaffneter Gruppen alarmierend zugenommen. Besonders betroffen ist das Department Cauca im Südwesten des Landes, dessen Bevölkerung durch indigene und afrokolumbianische Gemeinschaften geprägt ist. Nach der Unterzeichnung des Friedensabkommens im September 2016 war dort etwas Ruhe und Hoffnung eingekehrt, in den vergangenen Monaten hat die Intensität der kriegerischen Auseinandersetzungen jedoch wieder stark zugenommen.

Zuletzt hatten die Ermordungen von Vanessa del Carmen Mena Ortiz und Armando Suárez Rodríguez für Aufsehen gesorgt. Die beiden Afrokolumbianer*innen waren am 5. Juli in der Ortschaft Betania im Bezirk El Tambo in einem Abstand von nur sechs Stunden  erschossen worden. Wie die Stiftung Sumapaz per Twitter mitteilte, waren beide im Gemeinderat Afrorenacer im Micay-Tal aktiv. Zwei Tage später wurde dort eine weitere Person erschossen.

Auseinandersetzungen zwischen Disidencias, Armee und ELN

Hintergrund der Gewalttaten ist ein neu aufgeflammter Krieg zwischen der Guerrilla-Bewegung ELN, Abspaltungen der FARC-Guerilla und der kolumbianischen Armee. Vor wenigen Monaten haben sich mehrere Einheiten von Abspaltungen der FARC, sogenannte Disidencias, zum „Koordinationskommando des Westens“ (Comando Coordinador de Occidente) vereinigt. Seitdem kämpfen sie im Cauca gegen die ELN-Einheit „José María Becerra“. Dabei soll es vor allem um die Kontrolle über die Drogenrouten im Süden des Departments gehen.

Dieser Kampf wird in erster Linie im Micay-Tal ausgetragen. Es umfasst die Gemeinden Argelia, El Tambo, López del Micay und Timbiquí und wird vom Fluss San Juan del Micay durchzogen, der in den Pazifik mündet. Das Micay-Tal ist eines der größten Koka-Anbaugebiete des Cauca; 90 Prozent der dortigen Wirtschaft hängen davon ab. Allein in den Gemeinden Argelia und El Tambo wird auf über 15.000 Hektar Koka gepflanzt. „Argelia ist eine Goldgrube für illegale Gruppen”, erklärte der Sprecher der Landarbeitervereinigung von Argelia ASCAMTA (Asociación Campesina de Trabajadores de Argelia), Guillermo Mosquera. „Durch dieses Tal werden monatlich zwischen 3.000 und 6.000 Kilo exportfähiges Kokain transportiert. Das bedeutet zehn bis 15 Milliarden Pesos (2,4 bis 3,7 Millionen Euro) pro Woche allein an Steuern. Wer die Kontrolle über dieses Gebiet hat, hat die Kontrolle über das Geld.“

Der Staat ist abwesend

Zum Teil werden die Bäuer*innen der Gegend zum Anbau gezwungen, zum Teil sehen sie auch keine alternative Lebensgrundlage. Staatliche Programme zur Substitution der Kokapflanzen werden nur ungenügend oder gar nicht eingesetzt. Eine Organisation, die sich für eine freiwillige Substitution einsetzt, ist der Gemeinderat Afrorenacer de Micay. Angesichts der Abwesenheit des Staates haben mehrere afrokolumbianische Gemeinden im Jahr 2013 beschlossen, sich selbst zu regieren. Sie haben sich im Gemeinderat organisiert, lösen gemeinsam ihre Probleme und kümmern sich unter anderem um den Bau von Straßen, Schulen und Gesundheitsstationen.

Doch nach der Hoffnung nach dem Friedensschluss 2016 befänden sich die organisierten Gemeinden im Cauca nun in großer Unsicherheit, beklagt Magaly Pino, Menschenrechtsbeauftragte des Nationalen Landverbandes CNA (Coordinadora Nacional Agraria). Diese Gebiete würden ständig von paramilitärischen Gruppen im Dienst der Drogenmafia angegriffen, die sich gegen die Substitution von illegalen Pflanzungen wenden.

Marihuana im Norden, Koka im Süden

Das Micay-Tal ist wichtig, da es den Transport der Drogen zum Meer erleichtert, wo sie an das mexikanische Sinaloa-Kartell verkauft werden sollen. Hier ist seit 2015 die ELN aktiv, nachdem die Front „Jacobo Arenas“ der FARC im Rahmen der Friedensverhandlungen mit der Regierung aus der Gegend abgezogen ist. Bis zum vergangenen Jahr bekämpften sich die Disidencias der FARC gegenseitig um die Kontrolle der Koka-Anbaugebiete, bis sie Anfang 2020 einen Pakt schlossen. Unter dem „Koordinationskommando des Westens” sind die Auseinandersetzungen wieder aufgeflammt. Diese neue Allianz soll laut der Wochenzeitung Semana den Zweck haben, den ganzen Drogenhandel im Department zu kontrollieren: Marihuana im Norden und Koka im Süden.

Die Allianz teilt laut Semana nicht die politischen Ansichten der bekannteren FARC-Abspaltung „Segunda Marquetalia“, die sie als Verräter ansehen. Die FARC-Front „Carolina Ramírez” versuchte in einer Erklärung klarzustellen, dass es „bewaffnete Strukturen” gebe, die „in vielen Fällen den Namen und das Logo unserer Organisation verwenden, um die Bevölkerung der Provinz anzugreifen“. Diese seien in Wirklichkeit „Narco-Paramilitärs im Dienst des Mafiastaates.“

Gemeinden im Kreuzfeuer

Anfang März begannen die Gefechte zwischen Disidencias, ELN und der Armee. Die Disidencia „Carlos Patiño“ kam von Süden über Balboa in den Cauca und hat sich mit den Disidencias “ „Dagoberto Ramos“ und „Jaime Martínez“ aus dem Norden des Cauca vereint, um gegen die ELN zu kämpfen. Insgesamt sollen sich mehrere Hundert Paramilitärs in dem Gebiet aufhalten. Viele Aktivist*innen glauben, dass sie Unterstützung von der Armee bekommen haben. Ihnen sind die neue Uniformen und neue Waffen aufgefallen, wie sie sonst nur die Armee hat. Bei den Kämpfen, die bis zum 30. März andauerten, sollen sogar Drohnen eingesetzt worden sein. Über 700 Menschen flohen aus dem Kampfgebiet.

Schließlich gelang es der Einheit „Carlos Patiño”, große Teile des Gebietes zu erobern und die ELN zu vertreiben. Sie stellten neue Regeln auf, berichtet Guillermo Mosquera: „Diese drei Disidencias haben eine Übereinkunft geschlossen und haben nun die militärische und finanzielle Kontrolle über das ganze Micay-Tal. Sie setzen sich dort fest und dabei gibt es etwas sehr beunruhigendes: ihre systematische Aggression gegen die wiedereingeliederten Kämpfer*innen und gegen soziale Organisationen wie ASCAMTA.”

Bedroht werden nicht nur Gemeindeaktivist*innen, sondern auch Indigene und demoblisierte FARC-Kämpfer*innen. In El Tambo darf niemand ohne Erlaubnis das Haus verlassen. Die Disidencias verlangen, dass mehr Koka angepflanzt wird, üben eine starke gesellschaftliche Kontrolle aus und setzen soziale Säuberungen durch. Unverhohlen kündigte die Einheit „Carlos Patiño” an, den Vorstand von Afrorenacer umbringen zu wollen.

Am 15. April gerieten acht Kämpfer*innen der Einheit „Dagoberto Ramos“ im ländlichen Teil von Argelia in einen Hinterhalt und wurden erschossen. Bei dem Angriff starben nicht nur zwei Minderjährige, 14 und 17 Jahre alt, sondern auch „Beto“, ein Kommandant, der einen Großteil von Toribío kontrolliert haben soll. Er wird für die Morde an der indigenen Verwaltungschefin Cristina Bautista und fünf weiteren Gemeindemitgliedern aus Tacueyó im Oktober 2019 verantwortlich gemacht. Die Armee reklamierte den Angriff für sich; Anwohner*innen hingegen vermuten, Drogengangster seien für den Hinterhalt verantwortlich.

Paramilitärs morden, vertreiben und bedrohen

Nach dem 15. April kam es in Argelia und El Tambo verstärkt zu Übergriffen. Am 18. April kündigte die Einheit „Carlos Patiño“ Aktionen gegen zehn Anführer*innen von Gemeinderäten und Bauernorganisationen des Micay-Tals an. Sie behaupteten, diese stünden der ELN nahe, hätten dem „Feind“ Informationen zukommen lassen und gaben ihnen die Schuld an dem Angriff vom 15. April.

Noch am selben Nachmittag erschossen sie in Betania Teodomiro Sotelo, einen angesehenen Bauernführer der Organisation Afrorenacer. Er war eine der treibenden Kräfte hinter dem Versuch, die illegalen Kokapflanzungen durch staatlich geförderte legale Pflanzen zu ersetzen. Kurz darauf erschossen die Bewaffneten den Händler Andrés Caicimance. In der Nacht kamen sie in die Bezirke Honduras und San Juan, um die übrigen acht Sprecher*innen zu ermorden, doch diese konnten durch einen dichten Wald aus der Schlucht entkommen. Mosquera berichtet: „Eine Gruppe von 100 Disidentes marschierte völlig ungehindert und suchte Haus für Haus nach zwei Wiedereingegliederten und mehreren Anführer*innen, um sie zu erschießen. Weder Polizei noch Armee hinderten sie daran, obwohl dies eine der am meisten militarisierten Gegenden ist. Und im Tiefland sieht es ähnlich aus.“

Tatsächlich fällt auf, dass sich die Paramilitärs im Cauca relativ frei bewegen können, obwohl dort über 7.000 Soldaten stationiert sind. Viele vermuten einen Nichtangriffspakt zwischen Disidencias und Armee und versichern, dass sich Militäraktionen ausschließlich gegen die ELN richteten.

Solche Vorwürfe weist Militärkommandant Wilson Chawez Mahecha zurück und betont, die Armee habe den Auftrag, alle bewaffneten Gruppen zu bekämpfen und habe Kämpfer*innen beider Seiten verhaftet oder getötet. Aber tatsächlich ist das Misstrauen gegenüber dem Militär groß. Nicht nur werden immer wieder Zivilist*innen von Soldaten getötet – diese sind auch für die Vernichtung der Kokapflanzen zuständig, die für viele Bäuer*innen die Lebensgrundlage sind. Trotz aller Versprechen hat es die Regierung nicht geschafft, einen ausreichenden Ersatz zu schaffen.

 „Die Armee tut nichts”

„Den eigentlichen Krieg gegen die Drogenmafia kämpfen die Gemeinden”, resümiert das Portal Colombia Plural, während die Regierung zuschaue. „Es gibt immer wieder Hinweise, dass die Armee nichts tut, um die illegalen Gruppen aufzulösen, stattdessen toleriert sie die Ermordung der sozialen Führungspersonen.”

Am 22. April trafen sich Vertreter*innen von Afrorenacer und der Guardia Cimarrona (ein selbstorganisierter Zivilschutz der Schwarzen Gemeinden) in El Tambo, um die gefährliche Situation zu besprechen. Doch die Disidencias tauchten bei dem Treffen auf und erschossen vor den Augen der Teilnehmenden die Aktivisten Jesús Albeiro Riascos und Andrés Sabino.

Viele Gemeindaktivist*innen sind inzwischen aus El Tambo geflohen, einige in die Hafenstadt Buenaventura. „Je mehr Terror es gibt, desto leichter ist es, eine Gemeinschaft zu unterwerfen”, resümiert Mosquera. „Wenn sie in ein Dorf wie El Tambo kommen, zwei Sprecher aus ihren Häusern zerren und sie vor der gesamten Dorfgemeinschaft erschießen, dann hat das einen Grund. Niemand traut sich mehr, etwas gegen sie zu unternehmen. Und der Terror bleibt.“ Und dann sagt er noch was: „Man muss auch klar sagen, dass das eine Strategie ist, um den Ruf der Paramilitärs reinzuwaschen. Sie bezeichnen sich als Guerilleros um zu töten, zu foltern und verschwinden zu lassen, so wie es die Paramilitärs gemacht haben.“

María Leonor Yonda, Aktivistin von Afrorenacer, sieht das ähnlich: “Diese Gruppen verhalten sich nicht wie eine Guerilla; es handelt sich um Paramilitärs mit dem Abzeichen der FARC. Sie dienen dem Drogenhandel und die Substitution von Kokapflanzen und andere soziale Projekte kommen ihnen in die Quere”, so Leonor, die Initiativen zur freiwilligen Substitution in Huisito, El Tambo leitete und ebenfalls vor den Disidencias fliehen musste.

Was steckt dahinter?

Das Micay-Tal verfügt über eine hohe Biodiversität und einen wasserreichen Fluss. 17 multinationale Konzerne haben Bergbaukonzessionen beantragt, um Gold, Silber und Kupfer abbauen zu können. Und dann gibt es noch den geplanten Staudamm Arrieros de Micay. Unternehmer*innen wollen ihn auf dem kollektiven Land der Gemeinde bauen. Die Organisation Afrorenacer befürchtet massive Umweltschäden und ist dagegen.

„Die Rolle des Koka ist, für Infrastruktur zu sorgen, die Wälder, Flüsse und Tierarten zu vernichten, damit die Multis kommen und sagen können: Die Kokaplantagen haben die Umwelt vernichtet, aber wir kommen, um sie zu retten. Und andererseits braucht man auch die illegalen Gruppen, um Terror zu verbreiten, die Bauern zu entwurzeln und so den Bau dieser Megaprojekte für die Zukunft zu erleichtern.“

Auch Magaly Pino von der CNA sieht dahinter ein landesweit angewendetes System: „Einschüchterungen seitens bewaffneter Organisationen, die keine autonome Entwicklung der Gemeinden erlauben; Verfolgung, Stigmatisierung und Drohungen seitens des Staates. Wenn diese Mechanismen nicht reichen, tauchen paramilitärische Gruppen auf, um die Anführer*innen zu bedrohen, zu vertreiben und zu ermorden.”

Marsch für die Würde

Nach Angaben des Studienzentrums für Fortschritt und Frieden INDEPAZ (Instituto de Estudios para el Desarrollo y la Paz) sind in Kolumbien im Jahr 2020 bislang 157 soziale Führungspersonen und Menschenrechtsverteidiger*innen ermordet worden. Cauca ist mit 51 Mordopfern am schlimmsten betroffen, neun von ihnen sind Afrokolumbianer*innen.

Die Bewohner*innen des Cauca haben zahlreiche Anzeigen erstattet, aber sie fühlen sich vom Staat nicht geschützt. 28 Abgeordnete des Europaparlaments haben inzwischen einen Brief an die Regierung von Ivań Duque geschrieben, in dem sie ihre Besorgnis über den Anstieg der Gewalt zum Ausdruck bringen.

Zuletzt fand in Kolumbien der „Marsch für die Würde“ statt, um auf die Mordwelle aufmerksam zu machen und Schutzmaßnahmen und ein effektives Handeln seitens der Regierung zu fordern. Der 600 Kilometer lange Marsch startete Ende Juni in Popayán, der Hauptstadt des Cauca und erreichte am 10. Juli die kolumbianische Hauptstadt Bogotá.

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