2020: ein schwieriges Jahr für antikapitalistische Bewegungen

(Montevideo, 14. Dezember 2020, desinformémonos).- Im Jahr 2020 haben Hindernisse von unterschiedlichen Seiten die Arbeit antikapitalistischer Bewegungen erschwert: Zunehmende Militarisierung, immer mehr staatliche Kontrolle, auch im digitalen Bereich, bis hin zur Durchsetzung von Ausgangssperren, haben die Mobilität gemindert und Isolation und Individualisierung verstärkt. Ein Gemisch verschiedener Unterdrückungsformen, wie wir es seit langer Zeit nicht mehr erlebt haben. Durch den Ausbruch der Pandemie sahen sich politische Aktivist*innen außerdem vor völlig neue Herausforderungen gestellt.

Die Bewegung setzt auf Rückzug und Schutz gegen die Ausbreitung der Pandemie

Die in der Bevölkerung und insbesondere auch in Aktivist*innenkreisen spürbaren Beschränkungen sowie der nachlässige Umgang des Staates mit seiner Verantwortung haben die sozialen Bewegungen weitestgehend zum Rückzug gezwungen. Um die Mobilisierung wieder aufnehmen zu können und die kommunalen Strukturen zu stärken, mussten neue Kräfte gesammelt werden. Außerdem sollten hohe Ansteckungszahlen in den indigenen Gebieten unbedingt vermieden werden. Den selbstorganisierten Verteidigungsinstanzen fiel dabei eine besonders wichtige Rolle zu, sowohl in städtischen Gebieten wie Cherán oder in der Gemeinde Acapatzingo in Iztapalapa, ein Stadtbezirk von Mexiko-Stadt, als auch in ländlichen Regionen. Der EZLN in Mexiko, der Regionale Indigene Rat des Cauca in Kolumbien, die autonomen Regierungen von Amazonas-Völkern, Mapuche-, Palenque- und Quilombo-Gemeinden sowie Bauernorganisationen richteten selbst lokale Posten ein, um den Eintritt von Menschen aus den Städten zu regulieren oder zu verhindern und die Pandemie in den Griff zu bekommen. In vielen dieser Regionen herrscht staatliche und parastaatliche Gewalt, die in Teilen von Chiapas und im kolumbianischen Cauca besonders häufig Todesopfer fordert. Dank des Rückzugs und der Zugangskontrollen konnten schwerwiegende interne Destabilisierungen abgewendet die nächste Mobilisierung vorbereitet werden.

Hungerstreik der Mapuche läutet Mitte des Jahres neue Protestwelle ein

Ab Mitte des Jahres regte sich die Bewegung erneut. Hier und da gelang es, sich gegen militärische Repression und mediale Verunglimpfung durchzusetzen. Im Juli machte der Hungerstreik von 27 Mapuche-Gefangenen im Süden Chiles auf die landesweite Unterdrückung der Mapuche in Chile aufmerksam und sorgte für eine Welle von Protesten und der Solidarität mit den Gefangenen von Temuco, Lebu und Angol. Mit Streikaktionen wurde die Prüfung präventiver Haftanordnung und die Einhaltung der ILO-Konvention 169 gefordert, die es Indigenen erlaubt, Strafen innerhalb ihrer Gemeinden abzubüßen. Außerdem wurde gegen die unmenschliche Situation in den Gefängnissen protestiert. Trotz der erschwerten Bedingungen durch die wachsende Militarisierung und die Pandemie kam es im Norden, im Zentrum und im Süden Chiles zu Demonstrationen. Anlass war unter anderem auch die Verfolgung der Verkäufer*innen von Gemüse und Cochayuyo, einer sehr nährstoffreichen Alge.

Proteste auch in Bolivien und Costa Rica

In Bolivien blockierten in den ersten August-Tagen Indigene und Bäuer*innen an ca. 70 Stellen die Autobahnen, um gegen die erneute Verschiebung der Wahlen durch die Putsch-Regierung von Jeanine Añez zu protestieren. Erst als die Regierung einlenkte und den Wahltermin auf den 18. Oktober festsetzte, wurden die Blockaden aufgehoben. Die Partei MAS (Bewegung für den Sozialismus) konnte die Wahl mit 55% der Stimmen für sich entscheiden und das angezweifelte Ergebnis vom Vorjahr deutlich übertreffen.

Am 30. September formierten sich in Costo Rica Proteste gegen ein Abkommen mit dem Internationalen Währungsfonds, in dem Steuererhöhung und Kürzung der öffentlichen Ausgaben festgelegt wurden. Als Reaktion auf die Protestwelle unterbrach die Regierung am 4. Oktober die Verhandlungen, um einen Dialog zu eröffnen und die Position zu überdenken.

EZLN: Tournee durch mehrere Kontinente angekündigt

Am 5. Oktober versendete der Rat des EZLN das erste Kommuniqué seit der pandemiebedingten Schließung der Caracoles am 16. März 2020. Darin teilte er mit, dass bisher zwölf Menschen in der Region an COVID-19 gestorben waren, und übernahmen dafür die Verantwortung, anders als die mexikanische Regierung. Man werde „der Bedrohung durch die Pandemie als Gemeinschaft und nicht als Individuen entgegentreten“, hieß es in dem Kommuniqué. Die Situation erfordere eine weltweite Mobilisierung gegen das Kapital. Ferner kündigte der EZLN seine nächste Tour an, die im April 2021 in Europa beginnen und dann auf andere Kontinente ausgeweitet werden soll. Die große Delegation werde überwiegend aus Frauen bestehen. „Es ist Zeit, dass die Herzen wieder tanzen, und weder ihre Musik noch ihre Schritte sollen von Leid und Resignation erzählen“.

Starker Zulauf: Mingas im Cauca, Kolumbien

Ende Oktober mobilisierten sich in Kolumbien Indigene, Schwarze und Bäuer*innen in einer sogenannten Minga, einem Protest für das Gemeinwohl. Die Aktion startete im Südwesten, im Cauca, führte dann über Cali und weitere Städte und Dörfer, um acht Tage später in Bogotá anzukommen. Auf ihrer Reise durch das Land, das durch die militärische, paramilitärische und Drogen-Gewalt zu verbluten droht und in dem Hunderte von Aktivist*innen ermordet wurden, kamen die Teilnehmenden der Minga immer wieder mit der Bevölkerung ins Gespräch und stellten fest, dass sehr viele Menschen unter den gleichen Problemen leiden. Die Minga in Richtung Bogotá mit ihren achttausend Teilnehmenden wurde beschützt von indigenen und bäuerlichen Wacheinheiten, der Guardia Indígena, der Guardia Cimarrona und der Guardia Campesina, in denen Frauen und Jugendliche eine besondere Rolle spielen. Die Minga wurde von Tausenden Menschen empfangen und begleitet, die gegen die staatliche und militärische Repression kämpfen. Mehrere brutale Polizeiübergriffe sorgten zwischen dem 9. und dem 11. September für Unruhen. Dutzende Polizeistationen wurden angezündet oder durch Vandalismus zerstört.

Highlight in Chile: der klare Volksentscheid für eine neue Verfassung

In Chile gingen am 18. Oktober Tausende Menschen auf die Straßen, um an den Beginn der sozialen Proteste 2019 zu erinnern. Es kam zu 580 Festnahmen; ein Mensch starb durch Polizeigewalt. Am 25. Oktober stürmte das chilenische Volk die Wahllokale, um über die Durchführung einer Verfassungsreform zu entscheiden. Statt der erwarteten 60% stimmten 80% für die Abschaffung der Verfassung aus der Pinochet-Diktatur. Mit der Mobilisierung für das Referendum wurde der Protest des Vorjahres weitergeführt und die neoliberale und repressive Politik erneut kritisiert.

„Heißer Herbst“ in Peru und Guatemala

Viel Aufmerksamkeit erregten in Peru die Proteste gegen die illegitime Amtsenthebung des Präsidenten Martín Vizcarra, der durch eine korrupte Regierung ersetzt wurde. Die Bevölkerung betrachtet das Vorgehen als Putsch, da die absolute Mehrheit der Parlamentarier*innen unter Korruptionsverdacht steht. Nach einer Woche mit täglichen Großdemonstrationen musste Manuel Merino die Präsidentschaft niederlegen und hinterließ das Land in großer politischer Ungewissheit.

Am 21. November versammelten sich Tausende Menschen in Guatemala-Stadt, um gegen den vom Kongress verabschiedeten Haushalt zu protestieren, der eine Kürzung der Ausgaben in den Bereichen Bildung, Bekämpfung des Hungers, Schutz der Menschenrechte und Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie vorsieht. Die Demonstrierenden verschafften sich Zutritt zum Sitz des Kongresses und setzten Teile der Einrichtung in Brand.

Es gäbe noch viel zu erzählen. Was diese Beispiele allerdings beweisen, ist, dass die Menschen in Bewegung, die sozialen und antikapitalistischen Bewegungen weit davon entfernt sind, sich von der größten staatlichen Repressionsoffensive seit Jahrzehnten unterkriegen zu lassen.

Übersetzung: Malin Gütschow

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