(Santiago de Chile, 1. Dezember 2021, npla).- Chile hat gewählt und das Land scheint polarisiert. Nach der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen liegt der extrem rechte José Antonio Kast knapp vor dem linken Kandidaten Gabriel Boric. Am 19. Dezember treten beide in einer Stichwahl direkt gegeneinander an. Nach Jahren einer breiten gesellschaftlichen Protestbewegung und der Pandemie werden die Chilen*innen mit dieser Wahl darüber entscheiden, in welche Richtung das Land in den kommenden Jahren geht. Auch für die Arbeit des Verfassungskonvents, der die Aufgabe hat, eine neue Verfassung auszuarbeiten, wird diese Entscheidung gravierende Auswirkungen haben.
Am Abend des 21. November sind in einem großen Wahllokal in der Katholischen Universität von Santiago de Chile viele Wahltische aufgebaut. Auf jedem Tisch stehen vier große durchsichtige Kästen, die als Wahlurnen dienen: für die Präsidentschaftswahl, für die Sitze im Senat und im Abgeordnetenhaus und für die Regionalräte. Ab kurz nach 18 Uhr zählen die Verantwortlichen der einzelnen Wahltische alle dort abgegebenen Stimmen. Zuerst ausgezählt werden die Wahlzettel der Präsidentschaftswahl: „Boric, Sichel, Kast, Provoste …“, hallt es durch den großen Raum.
In diesem Wahllokal im gut situierten Santiaguiner Stadtteil Providencia liegt José Antonio Kast deutlich vorne. Doch insgesamt ist das Ergebnis des ersten Wahlgangs der Präsidentschaftswahl äußert knapp. Landesweit erreichte der extrem rechte José Antonio Kast rund 28 Prozent der abgegebenen Stimmen. Er liegt damit knapp vor dem linken Kandidaten Gabriel Boric vom Bündnis aus Frente Amplio und kommunistischer Partei, der etwa 26 Prozent der Stimmen erhielt. Die Stichwahl zwischen beiden am 19. Dezember wird darüber entscheiden, wer Chiles Präsident werden wird. Auch für die aktuell laufende Ausarbeitung einer neuen Verfassung wird diese Entscheidung gravierende Auswirkungen haben.
Auffällig ist der Unterschied zwischen Stadt und Land. Im Großraum Santiago liegt Boric fünf Prozentpunkte vor Kast. In ländlichen Regionen und in den Städten im Norden und Süden des Landes hingegen führt Kast deutlich. Nach der Wahl zur Hälfte der Sitze im Senat und zum gesamten Abgeordnetenhaus halten sich die linken und die rechten Kräfte dort jeweils etwa die Waage. Entscheidungen werden von einigen nicht eindeutig zu verortenden Abgeordneten abhängen.
Katholizismus, autoritäre Ordnung und Freiheit der Wirtschaft
Bei seiner letzten Wahlkampfveranstaltung feiern José Antonio Kasts Fans ihn schon. Inhaltlich bedient er, der sich selbst als Bewunderer des brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro bezeichnete, einen Diskurs des Katholizismus, der Freiheit der Wirtschaft und der autoritären Ordnung: „Falls die die Linke an die Macht kommen sollte, gibt es keinen Weg mehr zurück. Dann werden sich Wut und Gewalt ausbreiten. Das sind die politischen Methoden der Linken“, so spricht der extrem rechte Präsidentschaftskandidat zu seinen Anhänger*innen und schließt mit: „Das werden wir ihnen Nie Wieder erlauben“. Es ist das „Nie Wieder“(„Nunca Más“), das mit der chilenischen Diktatur abschließen und für immer verhindern sollte, dass sich so etwas wiederholt – nun in anderem Sinne verwendet: Das Publikum klatscht und johlt.
José Antonio Kast ist Sohn eines nach Chile eingewanderten früheren Offiziers der deutschen Wehrmacht. Der 55 Jahre alte Rechtsanwalt ist Katholik und Anhänger der Glaubensgemeinschaft der Schönstattbewegung, die ihren Hauptsitz in Deutschland hat und als international aufgestellte Institution auch religiöse Einrichtungen und Privatschulen in Chile unterhält. Kast ist ein strikter Gegner von Abtreibungen und gleichgeschlechtlicher Ehe. Aktuell fordert er gar, finanzielle Unterstützung für Frauen mit Kindern dürfe ausschließlich an verheiratete Frauen gezahlt werden.
Republikanisches Weltbild
Im Jahr 2019 gründete Kast die Republikanische Partei und den ThinkTank Republikanische Ideen, der die „Ideen der Rechten“ repräsentieren soll. Er ist Anhänger eines neoliberalen Wirtschaftsmodells. Sein älterer Bruder Miguel hatte dieses als Vertreter der ökonomischen Schule der „Chicago Boys“ in den 1970er Jahren in Chile mit eingeführt: als Minister unter Diktator Augusto Pinochet und als Chef der chilenischen Zentralbank.
Wäre der Ex-Diktator Pinochet noch am Leben, würde er Kast wählen – das zumindest vermutet der extrem rechte Präsidentschaftskandidat. Er bezweifelte die Legitimität von Urteilen gegen Militärs der Diktatur, etwa das gegen den chilenischen Ex-Offizier Miguel Krassnoff, der für Vebrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt worden ist. Aktuell stellt Kast sich öffentlichkeitswirksam auf die Seite derjenigen Polizisten, die wegen illegalen Verhaftungen oder Misshandlungen im Rahmen der Einsätze gegen die soziale Protestbewegung juristisch belangt werden.
Soziale Protestbewegung
Die Forderung nach einem Leben in Würde hat seit 2019 in Chile breite Teile der Gesellschaft erfasst. Feministische Parolen, Forderungen nach Rechten für Indigene und soziale Forderungen kamen unter dem Motto „Chile despertó“ (Chile ist aufgewacht) zusammen. Die Coronapandemie legte die Proteste weitgehend lahm und verdeutlichte nochmals die Dringlichkeit der Forderungen nach Zugang zu guter Gesundheitsversorgung und Bildung für alle sowie nach gerechten Löhnen und Renten.
Für diese Positionen steht der Zweitplatzierte Gabriel Boric von der Bewegung Frente Amplio. Der gerade mal 35 Jahre alte Boric ist eine der politischen Persönlichkeiten, die aus der Schüler*innen- und Studierendenbewegung der 2000er und 2010er Jahren hervorgegangen ist. Am Abend nach dem ersten Wahlgang ruft er zu einem breiten Bündnis demokratischer Kräfte auf.
Die Herausforderung, für die Demokratie zu streiten
„Seit heute stehen wir vor einer Herausforderung und einer enormen Verantwortung. Wir haben die Aufgabe, für die Demokratie zu streiten, und für eine Gesellschaft, die inklusiv und gerecht ist, und die allen ein Leben in Würde ermöglicht“, sagt er, umringt von Mitstreiter*innen der Frente Amplio und der Kommunistischen Partei.
Denn diese sind ein Bündnis eingegangen, „Apruebo Dignidad“, eine Wortverbindung aus „Apruebo“, dem Stichwort für die Zustimmung zur Ausarbeitung einer Neuen Verfassung, und „Dignidad“, also „Würde“ – dem Stichwort der Protestbewegung, die ein Leben in Würde forderte. Boric gedenkt an diesem Abend derer, die im Rahmen dieser Proteste und der sozialen Kämpfe gestorben sind. „Solange wir uns weiter für unsere Überzeugungen einsetzen, werden sie immer bei uns sein“, und bezieht sich explizit auch auf die früheren Generationen, die gegen die Diktatur gekämpft haben. Er ergänzt: „Jeder weitere Sieg und auch jede weitere Niederlage haben uns dahin gebracht, wo wir heute stehen“.
Die Hoffnung stärker machen als die Angst
Boric erinnert auch an diejenigen, „die heute nicht mehr sind, weil sie Opfer der Pandemie wurden. 40.000 Familien trauern noch um ihre verstorbenen Angehörigen, wir werden sie nicht vergessen“. Als Konsequenz aus der prekären Gesundheitsversorgung der Mehrzahl der Chilen*innen fordert die Linke ein gutes und für alle zugängliches Gesundheitssystem.
„Es gibt keine Zeit zu verlieren“, betont Boric: „Wir müssen den Klimawandel aufhalten, die Umwelt schützen, das Recht auf Wasser für alle sichern. Für uns und die folgenden Generationen. Wir sind angetreten, um Hoffnung, Dialog und Einheit voranzutreiben. Wir werden ins ganze Land ausschwärmen, bis in den letzten Winkel Chiles, und alles dafür tun, dass die Hoffnung stärker wird als die Angst.“
Die Wahlbeteiligung im ersten Durchgang lag bei lediglich 47 Prozent. Mehr Menschen zur Teilnahme an der Stichwahl zu bewegen, scheint der entscheidende Faktor für den Wahlsieg.
Ein breites Spektrum von Mitte-Links- und christdemokratischen Parteien hat für die Stichwahl inzwischen zur Wahl Borics aufgerufen. Die 12 Prozent der Wähler*innen, die im ersten Wahlgang für Sebastián Sichel aus dem Lager des aktuellen Präsidenten Piñera gestimmt hatten, dürften im Dezember für Kast stimmen. Diejenigen, die für den in den USA lebenden drittplatzierten Franco Parisi gestimmt hatten, sind schwerer einzuschätzen.
Feministinnen stellen Kritik momentan zurück
Viele gemäßigtere Wähler*innen halten Boric insbesondere in Bezug auf Sicherheits- und Wirtschaftsangelegenheiten für zu unerfahren. Radikaleren Teilen der Protestbewegung gelten Boric und seine Frente Amplio als zu etabliert.
Vor allem aber hatte Boric in November 2019 in der Hochzeit der Protestbewegung ohne Abstimmung in seiner Partei einem Abkommen für eine Neue Verfassung zugestimmt. Damit startete der verfassungsgebende Prozess, mit einem Referendum und Wahlen zum Verfassungskonvent, der den neuen Verfassungstext bis Mitte 2022 schreiben wird. Doch zugleich verschaffte dieses Abkommen Präsident Piñera Luft und er konnte sich im Amt halten. Kast wiederum trat mehrfach als Gegner einer neuen Verfassung auf. Diese soll die 1980 in Zeiten der Diktatur geschriebene und bis heute gültige Verfassung ersetzen.
In Anbetracht der knappen und richtungsweisenden Wahl zwischen Boric und Kast stellen feministische Organisationen diesen Konflikt zurück. Bei einer Demonstration gegen Gewalt an Frauen am 25. November zogen sie zu Tausenden durch die Straßen Santiagos und riefen dabei offensiv zur Wahl für Boric auf. Denn auch für sie steht viel auf dem Spiel.
Zu diesem Text gibt es auch einen wunderbaren Audiobeitrag!
Vor der Stichwahl – „Die Hoffnung stärker machen als die Angst“ von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
[…] Schauen wir einmal, ob diese Familien nicht nur denselben Ursprung, sondern auch andere Gemeinsamkeiten in ihrer Weltanschauung haben und versuchen wir, daraus Schlussfolgerungen zu ziehen. Denn einer der gegenwärtigen Nachkommen dieser Familien schickt sich gerade an, die Macht über unser Land zu übernehmen: José Antonio Kast. Der Rechtsextremist hat die erste Runde der Präsidentschaftswahlen gewonnen und tritt am 19. Dezember gegen den linken Kandidaten Gabriel Boric an. […]