(Santiago de Chile, 5. Juli 2021, poonal).- Am Sonntag den 4. Juli nahm der Verfassungskonvent in Chile seine Arbeit auf. 155 Vertreter*innen waren am 15./16. Mai von der Bevölkerung in das verfassungsgebende Gremium gewählt worden. Dieses hat jetzt ein Jahr Zeit für die Ausarbeitung einer neuen Grundrechtecharta, die den Beginn tiefgreifender Transformationsprozesse in Chile ermöglichen soll. Eine große Herausforderung, dies in Zeiten der Corona-Pandemie zu realisieren und eine Chance zur Gestaltung einer solidarischen, gerechten und nachhaltigen „Neuen Normalität“.
Dass die Mehrheit der Bevölkerung Chiles die aus der Zeit der Pinochet-Diktatur stammende Verfassung von 1980 ersetzen will, ist ein Ergebnis der Revolte vom Oktober 2019. Die feierliche Eröffnungsveranstaltung des Verfassungskonvents im ehemaligen Nationalkongress war allerdings begleitet von Auseinandersetzungen auf der Straße und verlief alles andere als ruhig.
Konflikte im Vorfeld
Im Vorfeld der Einweihung des Verfassungskonvents herrschte eine angespannte Atmosphäre, die gravierende Differenzen zutage brachte. Die meisten Mitglieder des Konvents vertreten soziale und ethnische Gruppen sowie politische Parteien, die gegen die rechte Regierung opponieren. Diese muss jedoch den Rahmen für eine Änderung der aktuellen Verfassung schaffen, in deren Folge es möglich werden könnte, die von Pinochet geerbten institutionellen Rahmenbedingungen zu verändern. Das heißt, die gesamte Logistik und die Infrastruktur für die Kommunikation der Mitglieder des Verfassungskonvents muss von Präsident Piñeras Leuten bereitgestellt, vorbereitet und organisiert werden.
Missachtung indigener Sprachen
In diesem Zusammenhang wurde der (inzwischen erfolgte) Rücktritt von Exekutivsekretär Francisco Encina gefordert, den Piñera für die Organisation des Ablaufs benannt hatte. Encina hatte sich geweigert, die Übersetzung zwischen den indigenen Sprachen und dem Spanischen zu ermöglichen und damit die notwendige gemeinsame Kommunikation unterbunden; immerhin sind 17 Sitze ausschließlich für ethnische Gruppen reserviert. Darüber hinaus zeugt seine Weigerung auch von seiner Ignoranz gegenüber dem kulturellen Reichtum Chiles, der sich in verschiedenen Sprachen ausdrückt. Allein die Sprache der Mapuche, Mapudungún, die „Sprache der Erde“, wird in Chile von einer Viertelmillion Menschen gesprochen.
Mehr Geld für Security als für Teilhabe
Besonders kritisch: Die Ausschreibung der Regierung für den Aufbau eines Sicherheitsapparats für den Verfassungskonvent umfasst knapp eine halbe Million Euro. Das ist etwa so viel, wie für Mechanismen der Bürgerbeteiligung und -kommunikation ausgegeben werden soll. Wenn aber Information und Teilhabe der Bevölkerung und von Organisationen angestrebt sind, ist es sicherlich erforderlich, dafür weitaus höhere Beträge zur Verfügung zu stellen.
„Binnenverhältnisse in der Opposition“
Dass die Arbeit im Verfassungskonvent nicht nur einfach werden wird, lassen auch die „Binnenverhältnisse in der Opposition“ erahnen. Bei der Frage, wer den Vorsitz des Konvents übernehmen soll, konnten sich unabhängige und parteigebundene Linke nicht auf einen gemeinsamen Vorschlag einigen. Bei der im Fernsehen übertragenen Wahl für die Präsidentschaft und deren Vertretung konnte man öffentlich beobachten, wie sich die aus dem linken Spektrum abgegebenen Stimmen verteilten. Im ersten Wahlgang unterstützte der Frente Amplio die Mapuche-Vertreterin Elisa Loncón. Die Kommunistische Partei und die Lista del Pueblo stimmten für die Repräsentantin der indigenen Gemeinschaft der Goya, Isabel Godoy.
Vocería del Pueblo fordert umfassende Kompetenzen für den Verfassungskonvent
Noch vor der Einweihung des Verfassungskonvents hatten sich einige Mitglieder zur Vocería del Pueblo (Stimme der Bevölkerung) zusammenschlossen und mehrere Stellungnahmen veröffentlicht. In einer unter dem Namen „Politik der Würde“ veröffentlichten und von 80 Personen unterzeichneten Erklärung werden sechs Kernforderungen genannt, an denen sich die Konventsmitglieder nach Meinung der Vocería del Pueblo orientieren sollten:
Freilassung der Gefangenen, Wahrheit und Gerechtigkeit, Entschädigung, Demilitarisierung der Araukania-Region oder des Wallmapu [überwiegend von Mapuche bewohntes Gebiet in der Araucanía-Region, Anm.d.Ü.], keine weiteren Ausweisungen von Migrant*innen, Souveränität des verfassungsgebenden Gremiums.
Die letzte Forderung bezieht sich auf die Position der in der Vocería del Pueblo zusammengeschlossenen Konventsmitglieder, die die verfassungsgebende Versammlung als eine „völlig autonome Instanz, die den politischen Charakter der Gesellschaft unter Achtung der Grundrechte neu ordnen soll“, betrachtet. Nach Ansicht der Vocería soll der Verfassungskonvent auch die Funktion haben, die Umgestaltung der Gesellschaft zu betreiben.
So erklärt die Ökofeministin und Konventsangehörige aus Punta Arenas, Elisa Gustinianovich von der Lista de los Pueblos, der Verfassungskonvent sei „von den Bewegungen errungen worden“. Zu seiner Einweihung solle es „hoffentlich auch populäre, künstlerische Ausdrucksformen geben, wie Demonstrationen, Protestmärsche und Kundgebungen“. Es entstehe eine demokratische Umgangsform, die verschiedene Bewegungen und Menschen aus sozio-ökologischen, feministischen und indigenen Kämpfen zusammenbringe. „Der beste Start für einen Prozess wie den, den wir gerade erleben, ist es, ihn in all diese populären Mobilisierungen einzubetten“, so Gustinianovich weiter. Die Zeremonien des Verfassungskonvents sollten daher „mit allen notwendigen Symbolen ausgestattet werden und alle möglichen Kennzeichen von Interkulturalität, Plurinationalität und Ausdrucksformen der Bevölkerung zulassen. Die Behörden müssen garantieren, dass es keine Repression dagegen geben wird.“
Demos auf der Straße begleiten die Zeremonie
Die Konstituierung des Verfassungskonvents war das wichtigste Ereignis im demokratischen Leben der Chilen*innen seit 30 Jahren oder, nach Ansicht mancher Geschichts- und Politikwissenschaftler*innen, seit der Unabhängigkeit und Gründung des Nationalstaats im Jahr 1810, und sie verlief alles andere als reibungslos: Über 20.000 Menschen aus verschiedenen politischen Sektoren und linken Bewegungen hatten sich rund um die zentrale Plaza de Armas versammelt, wo sie von Wasserwerfern mit Tränengas abgedrängt wurden. Es kam zu gewaltsamen Zusammenstößen mit der chilenischen Polizei. Wie schon im Verlauf der „chilenischen Revolte“ hagelte es Kritik aufgrund des provokanten und teilweise korrupten Vorgehens der chilenischen Polizei, der Carabineros de Chile.
Bei der Versammlung des Verfassungskonvents im ehemaligen Nationalkongress wurde die Nationalhymne bereits gesungen, die 155 Konventsmitglieder hatten ihren Eid aber noch nicht abgelegt, als in den sozialen Medien die ersten Klagen über Polizeigewalt gegen Demonstrationen in der Umgebung laut wurden. Daraufhin baten mehrere Mitglieder des Konvents die für den Ablauf der Zeremonie Verantwortliche Carmen Gloria Valladares darum, die Sitzung zu unterbrechen, bis die polizeilichen Repressionsmaßnahmen gegen Demonstrationen in der Umgebung des Gebäudes eingestellt würden.
Für die Demonstrierenden ging es darum, Chile zu verändern. Für América Lobos aus dem populären Stadtteil Quinta Normal war es ein „historischer Tag, in dem jahrelange Kämpfe zusammenfließen“. Es gehe jetzt darum, den „lange nicht vorstellbaren Prozess hin zu einer neuen Verfassung einzuleiten“. América Lobos und ihre Begleiterinnen trugen ein Schild für die Freiheit der politischen Gefangenen: „Alle politischen Gefangenen müssen freigelassen werden, nach Hause kommen und all‘ das ausdrücken, was sie im Gefängnis erlebt haben. Eine*r nach der anderen soll freigelassen werden. Es ist auch unser Kampf, diese jungen Leute sind keine Kriminellen, sie kämpfen für ein besseres, würdevolles und gleichberechtigtes Chile“. Schließlich stimmte die Polizei zu, nicht weiter gegen die Demonstrationen vorzugehen. Die Situation auf der Straße beruhigte sich, und die Demonstrierenden zogen zur Plaza Dignidad, dem symbolträchtigen Platz, an dem der Aufstand begonnen hatte.
Wahl der Präsidentin des Konvents
Die Mitglieder des Konvents schritten derweil zur Wahl der Vorsitzenden für die Dauer von neun oder maximal zwölf Monaten. In einem ersten Wahlgang konnten alle Konventsmitglieder entsprechend ihrer Präferenz für eine*n der acht Kandidat*innen verschiedener politischer Ausrichtung stimmen. In der ersten Runde erreichte Elisa Loncón Antileo die für die absolute Mehrheit benötigten 78 Stimmen noch nicht. Die Vertreter der Regierungsparteien erhielten 36 Stimmen und damit alle ihrer Parteimitglieder. Die 93 Stimmen der Linken mit und ohne Parteizugehörigkeit teilten sich auf zwischen Elisa Loncón (58 Stimmen) und Isabel Godoy (35 Stimmen), beide Vertreterinnen indigener Gemeinschaften.
Im zweiten Wahlgang erhielt Loncón 96 Stimmen und Godoy nur fünf. Offensichtlich hatte also die Mehrzahl der Mitglieder der kommunistischen Partei und der Lista del Pueblo die Wahl Loncóns zur Präsidentin des Konvents mit ihren Stimmen unterstützt. Bemerkenswert: Jedes Mitglied des Konvents brachte die eigene Stimme zur Wahlurne und übergab sie dort an Berichterstatterin Valladares. Diese zeigte bei der Auszählung alle Wahlzettel auch vor der Kamera, die die Prozedur in den Vorgarten des ehemaligen Nationalkongresses übertrug. Gleichzeitig rief Valladares alle 155 Voten einzeln aus. Nur ein Konventsmitglied war zuhause in Quarantäne und stimmte online ab.
Dankesworte in Mapudungún und Spanisch
Nachdem Elisa Loncón als Präsidentin des Verfassungskonvents bestätigt worden war, sprach sie in ihrer Sprache, dem Mapudungún, und in spanischer Übersetzung zu den Anwesenden und weit darüber hinaus:
„An alle Menschen in Chile, die uns zuhören: Hier sind wir! Wir danken denen, die sich verbündet und uns Mapuche ihr Vertrauen geschenkt haben, deren Träume sich auch in unserem Aufruf wiederfinden, eine Mapuche-Frau zu wählen, um die Geschichte dieses Landes neu zu schreiben.
Wir sind glücklich, dadurch gestärkt zu werden. Aber diese Stärke steht allen Teilen der Bevölkerung Chiles zu, allen Sektoren, allen Regionen, allen Nationen und indigenen Gemeinschaften, allen Brüder und Schwestern, allen Organisationen, die uns begleiten. Unsere Grüße und unser Dank richten sich auch an alle diejenigen, die sexuelle Vielfalt und Diversität leben, und an alle Frauen, die gegen das auf Herrschaft basierende System angehen.
Unser Umgang miteinander soll pluralistisch, demokratisch und partizipativ sein“. Der Verfassungskonvent werde Chile zu einem „plurinationalen, interkulturellen Land machen, in dem die Rechte der Frauen, der Care-Arbeitenden und die Mutter Erde geachtet werden“, zu einem Land, das die Verfügungsgewalt über seine Gewässer zurückgewinnt.
„Dieser Traum ist der Traum unserer Vorfahren“
Elisa Loncón schloss ihre Rede mit einem besonderen Gruß an die Mapuche im Wallmapu. „Dies war stets der Traum unserer Vorfahren. Jetzt wird er Wirklichkeit!“. Es sei möglich, Chile neu zu begründen, respektvolle Beziehungen zwischen den Mapuche, den anderen indigenen Gemeinschaften und allen Bewohner*innen des Landes aufzubauen. Das erste Zeichen dafür sei der partizipative Charakter des Verfassungskonvents. Der Vorsitz solle rotieren und kollektiv arbeiten, Demokratie und Teilhabe sollten gestärkt und der Prozess bis in die letzten Winkel Chiles transparent gemacht werden. Das Ziel: Alle sollen an den neuen Regeln des Zusammenlebens mitwirken und über die zukünftige Verfasstheit der Gesellschaft mitbestimmen.
Genaueres zu den Ergebnissen der Wahl zum Verfassungskonvent hört ihr hier
Übersetzung und Ergänzungen: Ute Löhning
Verfassungskonvent wählt Mapuchevertreterin zur Präsidentin von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
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