(Asunción, 14. August 2023, agenciapresentes).- In einem von Hass geprägten, politischen Kontext hat Paraguay eine neue Regierung gewählt. Der neue Präsident Santiago Peña ist seit dem 15. August im Amt. Aller Voraussicht nach wird er versuchen, ein EU-Abkommen aufzuheben, das Sozialhilfen für Kinder finanziert. Außerdem spricht er davon, Ministerien zusammenzulegen und die “Genderideologie” zu bekämpfen.
Bereits der Wahlkampf wurde durch Falschinformationen bezüglich Geschlechtsidentitäten und sexueller Orientierung bestimmt. Nachdem die Colorado-Partei (Der „Partido Colorado„ ist eine nationalistisch-konservative Partei Paraguays. Sie stellt seit 75 Jahren fast durchgehend den Präsidenten, hält im neuen Parlament eine absolute und im Senat eine einfache Mehrheit.) ihre fast ununterbrochene Hegemonie für weitere fünf Jahre sicherstellen konnte, stellte Peña erste Amtshandlungen vor. Darunter befindet sich ein Plan, die Ministerien für Frauen, Kinder und Jugendliche zu streichen. Darüber hinaus verkündete er, ein Abkommen mit der Europäischen Union rückgängig zu machen, das bislang Bildung im Land finanziert.
„Die Regierung nimmt Kindern das Mittagessen weg“
Nach Diskursen rund um “den Schutz des Lebens und der Familie”, “dem Verlust der Macht des Vaterlandes” und der “Geschlechterideologie” im Bildungssektor stimmten 70 Abgeordnete über das Gesetz 6.659/20 ab. Das Ergebnis: Das Gesetz, das bislang die Grundlage für ein Bildungsabkommen mit der EU bildete, wird nun abgeschafft. Das Bildungs- und Kulturministerium Paraguays verzichtet damit auf 38 Millionen Euro, die in Schulmaterialien, Mahlzeiten und Infrastruktur investiert wurden.
Ende 2022 und damit mitten im Wahlkampf war das Aufhebungsdokument verabschiedet worden. Der Senat war zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht beschlussfähig, um die Entscheidung zu bestätigen. Vergangene Woche nahmen sich die Gesetzgeber*innen fast drei Stunden Zeit zum Debattieren und um sich ihrer Position sicher zu sein. Von den 70 Stimmen gab es auch sechs, die die Finanzierung beibehalten wollten, und eine Enthaltung.
Nun wird der Gesetzentwurf zur Aufhebung des Abkommens zurück an den Senat gehen. Dort ist eine absolute Mehrheit von 30 Stimmen erforderlich, um das Gesetz endgültig zu revidieren. Am Morgen des 14. August erklärte der gewählte Präsident Santiago Peña, er werde die Aufhebung des Abkommens in Kraft setzen.
Der aktuelle Bildungs- und Kulturminister Nicolás Zárate äußerte sich in diesem Kontext kritisch. Er sagte, dass die Regierung den Kindern das Mittagessen wegnehme. “Dieses Thema macht mich wirklich wütend, es ärgert mich extrem. Wegen unsensibler Abgeordneter, die dem Volk nicht das geben wollen, was es braucht, haben sie nun Spenden abgelehnt. Das ist das Geld der Kinder!”, meinte Zárate in einem Interview.
“Sie üben Attentate auf unsere Rechte aus”
Die Entscheidung gegen die EU-Finanzierung greift zwar nicht in den Lehrplan an öffentlichen Bildungseinrichtungen ein. Trotzdem hat sich der Staat schon seit dem vergangenen Jahr darum gekümmert, Lügen im Bildungssystem zu verbreiten. Denn: Für viele Paraguayaner*innen legt dieses Gesetz den Grundstein für eine westlich geprägte Bildung und die “Genderideologie”.
Unter den schwerwiegendsten Unwahrheiten ist die Behauptung, dass versucht werde, Kinder und Jugendliche zu “homosexualisieren”. Die EU mische sich in die Bildung Paraguays ein und habe die Genderideologie im Bildungsapparat eingeführt. Damit reagieren die Konservativen auf Forderungen wie beispielsweise denen von “Antirechtler*innen” wie Pastor Miguel Ortigoza. Er ist zu einer der führenden Stimmen im Kampf gegen die Geschlechtergleichheit geworden.
Einer genau entgegengesetzten Meinung ist die Senatorin Blanca Ovelar, eigentlich auch Teil der Colorado-Partei. Wegen der Eindringlichkeit ihrer Argumente gegen christliche Parteigenoss*innen sind ihre Äußerungen viral gegangen. “Ich will der Gesellschaft sagen, dass das eine Lüge ist, dass sie die Kinder instrumentalisieren werden. Es stimmt nicht, dass ihnen jemand beibringen wird, homosexuell zu sein. Das ist verantwortungsloser Quatsch von Ungebildeten, die die Wählerschaft aufheizen wollen”, so Ovelar.
In derselben Mitteilung erklärte sie, dass das Lügenkonstrukt im Rahmen der letzten Wahlkampagne im Dezember 2022 für die internen Wahlen der Coloradas inszeniert wurde, um Stimmen zu gewinnen. “Sie vermischen ihre rechtsextremen Meinungen mit religiösem Glauben. Und so wollen sie gegen die Rechte von Minderheiten vorgehen – Menschen mit Behinderung, Frauen und Menschen mit einer anderen sexuellen Orientierung. Was wir brauchen, ist eine Gesellschaft, die die Freiheiten der Mitmenschen respektiert. Welche Alternative bieten sie denn an? Uns alle umzubringen?”
Der Abgeordnete Yamil Esgaib von der Colorado-Partei sagte hingegen auf einer Pressekonferenz, das Wort “Geschlecht” würde genutzt, “um die Realität zu verzerren”. Ein Geschlecht sei “entweder maskulin oder feminin. Wir werden das nicht anders annehmen, weil das die Zukunft meiner Kinder verändert”, bekräftigte er. Im Parlament legte er zudem fest, dass Paraguay “weder Almosen noch Spenden” zulassen wollen werde, “die die Zukunft unserer Kinder und unserer Familie in Abhängigkeit stellen.” Weiterhin erklärte er, dass die EU Paraguay nicht belehren dürfe, wie das Land seine Kinder zu erziehen habe. In der neuen Legislaturperiode werde “viel Geld übrig” sein. Obwohl die Gesetzesabschaffung nun Schulden in Höhe von fast 14 Millionen Euro im Bildungsministerium produziert, will das die nächste Regierung ausgleichen.
50.000 Schüler*innen in der Hauptstadt bekommen kein Mittagessen mehr
Das Geld, das Paraguay ablehnt, ist Geld, mit dem schon verschiedene Programme rechnen. Sie finanzieren damit eigentlich Pakete mit Schulmaterialien und Schulbücher. Die Parlamentarier*innen, die für die Gesetzesabschaffung stimmten, schlugen keine Alternative vor, wie nun der öffentliche Bildungssektor finanziert werden soll. Damit zeigten sie: Eine Lösung für die Bedürfnisse von 476.872 Kindern und Jugendlichen, die nun nicht mehr zur Schule gehen können, suchen sie nicht. Auch in der Hauptstadt Asunción sind es rund 50.000 Schülerinnen und Schüler, die ab September dieses Jahres nichts mehr zum Mittag essen können.
Der Abgeordnete Basilio Núñez, der auch für seine machistischen und hasserfüllten Aussagen bekannt ist, sagte: “Dieser Kampf hat am 22. November begonnen. Ich war einer der Parlamentarier, der vorgeschlagen hat, das Gesetz abzuschaffen. Ein Gesetz, das diese Genderideologie mit sich brachte. Wer sich outen möchte, der kann das mit 18 Jahren machen. Sie sollen sich aber fernhalten von unseren Kindern und paraguayischen Familien.”
“Wir werden das Abkommen abschaffen und uns mit der EU einigen”, so Núñez. Seiner Ansicht nach liegt die Lösung darin, “die öffentlichen Ausgaben zu verbessern”. Dafür zieht er auch in Erwägung, Staatsbedienstete zu entlassen. “Diese Regierung hat 70.000 Angestellte. Wir werden 30.000 Beamten kündigen, und statt diese Gehälter zu zahlen, werden wir das Geld in die Kinder investieren.” Neben dieser Idee liegen jedoch auch “Alternativen” vor. Vizepräsident Pedro Aliana schlug zum Beispiel einen Nachtrag vor, den Haushalt zu korrigieren, oder ein anderes Abkommen mit der EU zu schließen. Noch ist jedoch völlig unklar, wie das Problem gelöst werden soll.
Diverse Organisationen, die sich für Menschen- und Kinderrechte einsetzen, protestieren nun gegen die Meinungen der Abgeordneten. In einer Pressemitteilung der NGO Coordinadora por los Derechos de la Infancia y la Adolescencia hieß es: “Die Behinderung des Zugangs zu Mitteln der internationalen Entwicklungszusammenarbeit, insbesondere für gefährdete Bevölkerungsgruppen, stellt eine Verletzung der Menschenrechte dar.” Auch Aireana [eine Organisation, die sich für die Rechte von Lesben einsetzt] und Psicofem [eine Organisation, die sich für die mentale Gesundheit von Frauen einsetzt] positionierten sich klar gegen die Abschaffung des Gesetzes.
Verbot der „Genderideologie“ in der Bildung
Auf einem interinstitutionellen Treffen befasste sich währenddessen die Kommission der Kinder und Jugendlichen am 1. August mit einem weiteren konservativen Gesetzesvorschlag. Dieser sieht vor, “die Förderung und die Lehre über Geschlechtsidentitäten an Bildungseinrichtungen” zu verbieten. Die Colorado-Abgeordneten Lizarella Valiente, Gustavo Leite, Natalicio Chase, Carlos Giménez und Orlando Penner gelten als Initiator*innen dieses Projekts. Auf dem Treffen sagte Valiente, dass “Paraguay nicht machistisch” sei. Stattdessen würden Frauen die Männer falsch erziehen. Auch hier manifestierten sich viele Unwahrheiten.
Lizarella Valientes’ Intention mit ihrem Gesetzesvorschlag ist, die “Indoktrinierung der Homosexualität” im Bildungssystem unter Strafe zu stellen. In anderen Worten: Valiente will kriminalisieren, dass Kinder die Rechte von queeren Menschen und geschlechtsspezifische Unterschiede kennen lernen. Der Begriff der “Genderideologie” ist nicht mehr in Valientes’ Projekt enthalten. Sie selbst korrigierte sich einst und gab zu, dass das Wort irreführend sei. “Geschlechtsperspektive” soll den Begriff nun ersetzen. Doch auch mit dieser Anpassung weist die Initiative gravierende technische Mängel auf.
Die Anwältinnen Mirta Moragas Mereles, María José Durán Leite und Cecilia Balbuena del Pino des Consultorio Jurídico Feminista (CJF) haben das Projekt tiefgreifend analysiert. Sie erklären, dass es verfassungswidrig ist, da es sich beim Begriff der „Geschlechterperspektive“ um eine sozialwissenschaftliche Analysekategorie handelt, die zur Untersuchung von Machtasymmetrien zwischen den Geschlechtern verwendet wird. Den Begriff zu verbieten sei verfassungswidrig, da die Initiative Valiente damit gegen die Meinungs- und Pressefreiheit in Artikel 26 verstoße. Außerdem würde das Gesetz diverse Abkommen Paraguays missachten, darunter die “UN-Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau”. Das Projekt definiert bislang zudem keine Strategie, wie das Gesetz eingehalten werden soll. Stattdessen, so die Anwältinnen, diene die Idee eines solchen Verbots eines anderen, größeren Ziels: eine generelle Panik zu füttern.
Valientes ist jedoch nicht die einzige, die Falschinformationen verbreitet. Dannia Ríos Nacif ist eigentlich Anwältin und Steuerfachgehilfin in Ciudad del Este. Die Zeitung El Puente ernannte sie jedoch auch zur Stimme des Hasses und der Desinformation in Bezug auf Genderthemen. So behauptete Ríos Nacif beispielsweise, dass Kinder anderer Länder verstümmelt und Immunisierungen unterzogen würden. “Den Mädchen entfernen sie die Brüste, den Jungs ihre Genitalien. Den Mädchen auch ihre Eierstöcke und Gebärmutter. In Ländern wie Spanien wurde das Gesundheitsministerium schon angezeigt, weil sie so etwas gefördert haben. In den USA zeigen sie Ärzte an, die Brüste, Eierstöcke und Gebärmutter entfernt haben. Ich finde, in Paraguay haben wir noch Zeit, diesen Wahnsinn zu stoppen”, erklärte sie.
Ríos Nacif kandidierte als Gründerin ihrer Partei Partido Nacional Vida y Familia bei den letzten Wahlen als Senatorin, ohne ihren Beruf im Rechtswesen außer Acht zu lassen. Darüber hinaus stellte sie am 19. April eine Initiative vor. Dessen Titel: “Genderideologie ist Kindesmissbrauch”. Der Gesetzesvorschlag sieht vor, den Artikel 135 des Strafgesetzbuches zu ändern. Schulmaterialien oder Aktivitäten zu fördern, die “die natürliche Wahrnehmung der Kinder in Bezug auf Sexualität stören” will Ríos Nacif damit unter “Kindesmissbrauch” fallen lassen.
Während das Parlament über die Abschaffung des Abkommens mit der EU debattierte, war die Senatorin Valientes auf der Plaza de Armas zu sehen. An der Seite von Pastor Miguel Ortigoza und einer Gruppe an Fundamentalist*innen und Konservativen trug sie ein T-Shirt mit dem Aufdruck “Wir sind noch viele, viele mehr”. Worte wie “Politik für das Leben”, “Nein zum Genderfokus” und “Nein zur Geschlechtergleichstellung” zierten die Schilder der Demonstrierenden.
Neues Familienministerium zum Schutz der traditionellen Familie
Die Fraktion der Colorados schreibt sich noch eine weitere Entscheidung auf die Fahne: Das Zusammenlegen von drei Ministerien: dem der Kinder und Jugendlichen, dem der Frauen und dem Sekretariats für die Jugend. An dessen Stelle soll nun ein gemeinsames Gremium treten, das Familienministerium. Der neue Präsident des Parlamentes, Raúl Latorre, gab schon am 7. Juli bekannt, dass ein solches Projekt unter den Ideen des neugewählten Präsidenten Santiago Peña sei.
“Der neugewählte Präsident hat mir auch die Intention dahinter erklärt, ein gemeinsames Familienministerium ins Leben zu rufen. Damit will er seine Linie, seine Politik und die Ansicht seiner Partei verfolgen in Bezug auf den Schutz des Lebens. Dafür ist der Schutz der Familie der erste Schritt, Paraguay zu fördern und zu unterstützen”, so informierte er in einer Pressekonferenz.
Unter anderem die Menschenrechtsorganisation Coordinadora de Derechos Humanos del Paraguay drückte ihre Sorgen angesichts dieser Entscheidung aus. Verschwinden die bisherigen Ministerien und werden durch ein generelles Familienministerium ersetzt, so sei das ein bedenklicher Rückschritt in Sachen Frauen-, Kinder- und Jugendrechten. Das wiederum könnte sich sogar auf die Demokratie Paraguays auswirken.
“Uns macht es große Sorgen, dass dieser Schritt dafür genutzt wird, den hasserfüllten Diskurs gegenüber vulnerablen Randgruppen zu vertiefen. Davon sind beispielsweise indigene und queere Menschen betroffen. Dass die Regierung die Vielfalt in Familienkonstellationen leugnet und bestimmten Personen ihre Menschenrechte verwehrt, ist alarmierend”, heißt es in ihrer Pressemitteilung.
Ein weiterer problematischer Aspekt sei die Definition des Begriffs “Familie”, die die neue Regierung nutzen wird. Darauf weist die Anwältin, Feministin und Aktivistin für Menschenrechte Emilia Yugovich hin. Es sei davon auszugehen – darauf deutet die Haltung der Partei hin –, dass die Regierung nun nur noch eine Familienkonstellation, bestehend aus Vater, Mutter und Kindern, anerkennen wird.
Welche Funktion genau das Familienministerium haben wird, und wer Familienminister*in wird, das ist noch unklar. Ebenso weiß noch niemand, was mit den Entscheidungen passieren wird, die das Kinder- und Jugendministerium oder das Frauenministerium in den letzten Jahren gefällt haben. „Wenn diese Ministerien einem anderen Ministerium unterworfen werden, das sich auf etwas Breiteres konzentriert, dann werden die Probleme von Kindern und Frauen anderen Problemen untergestellt. Das lässt letztendlich die Menschen außen vor, lässt die Menschen unversorgt durch den Staat“, reflektierte Yugovich.
#ElOtro15A: für unsere Rechte und gegen die Narkopolitik
Unter dem Motto “Kämpfend wird es uns besser gehen” protestierten am 15. August, am Tag des Amtseinstandes des neuen Präsidenten, daher verschiedene soziale und politische Organisationen. Auch diverse Gremien für Menschenrechte, Bäuerinnen, Indigene, Frauen und Feminist*innen waren zugegen. “Der andere 15. August” gilt eine Antwort auf den Amtsbeginn der neuen Regierung und Santiago Peña.
Schon bei der Ankündigung der Proteste hieß es: “Wir sind davon überzeugt, dass die Einheit und die Mobilisierung das effektivste Mittel sind, unsere Rechte zu erhalten, die Narkopolitik zu bremsen und auf die willkürliche Vergabe von Machtpositionen an Colorados-Funktionär*innen aufmerksam zu machen.” Neben den Protesten gab es auch einen Markt, ein offenes Mikrofon, künstlerische Aufführungen, Musik und karu guasu [Traditionelles Festmahl vor dem Fasten in familiärem Ambiente].
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