(Rio de Janeiro, 26. Oktober 2018, taz).- Der Platz vor den Arcos da Lapa (Bögen von Lapa) im Zentrum von Rio de Janeiro quillt über. Nur mit Mühe schlängeln sich die unzähligen ambulanten Händler*innen und Verkäufer*innen durch die Menge. Großzügig werden Aufkleber mit der Zahl 13 – der Kennziffer der Arbeiterpartei PT– und mit dem Slogan #EleNão (#DerNicht) verteilt. Überall rote T-Shirts der PT und das Lila der Aktivist*innen. Die Stimmung ist kämpferisch. Doch bei vielen ist Anspannung zu spüren. Einigen gelingt es kaum, die ständig aufkeimende Angst vor dem, was kommen könnte, zu unterdrücken.
Zehntausende sind zur letzten Wahlkampfveranstaltung von Fernando Haddad gekommen. Der Kandidat der Arbeiterpartei liegt im Umfragen rund 14 Prozentpunkte hinter dem Rechtsextremisten Jair Bolsonaro. „Doch, es ist noch möglich, das Ruder herumzureißen. Wir müssen mit den Menschen reden, jeden Einzelnen überzeugen“, sagt ein älterer Mann. Er versucht nicht, seinen Zweckoptimismus zu verbergen. „Bolsonaro predigt Hass gegen Frauen, gegen Schwarze und gegen alle Minderheiten. Wenn er regieren sollte, wird es noch mehr Gewalt geben. Vor allem Polizeigewalt in Armenviertel“, ruft eine junge Frau. Auf dem Platz und unter den Linken und bürgerlichen Demokrat*innen ist Konsens, dass ein Sieg Bolsonaros Brasilien in Richtung Faschismus rücken würde.
„Unser Problem ist die Blindheit“
Wenig später sind plötzlich einige Pfiffe zu hören. Nach anderen Künstler*innen und Sänger*innen hat der Rapper Mano Brown auf der Bühne das Wort ergriffen. „Wenn es der PT nicht gelingt, die Sprache der einfachen Leute zu sprechen, dann wird sie eben verlieren!“ Ein Misston, der auf Veranstaltungen der Arbeiterpartei selten zu hören ist. „Mir gefällt diese Feierstimmung nicht“, fährt Brown mit ernster Stimme fort. „Unser Problem ist die Blindheit, Fanatismus. Wir müssen verstehen, was die Leute bewegt. Wenn wir dies nicht wissen, geht zurück an die Basis und hört zu!“
Denjenigen, die Haddad wählen werden, nicht weil sondern obwohl er die Arbeiterpartei vertritt, spricht Brown aus dem Herzen. Nach 14 Jahren an der Macht (2003-2016) und der Absetzung von Dilma Rousseff durch ein umstrittenes Amtsenthebungsverfahren weigert sich die Partei, die eigene Krise anzuerkennen und Selbstkritik zu üben. Augen zu und durch, ist die Devise. Einst entstanden als breite Sammlungsbewegung gegen die Militärdiktatur (1964-1985) ist die PT längst eine Partei mit den typischen Merkmalen des Politsystems Brasiliens: Hierarchische Struktur im Inneren, fragwürdige Allianzen statt Inhalte, Machterhalt um jeden Preis.
Die PT ist für viele unwählbar
Die schwerste Bürde ist die Korruption, konkret die Parteienfinanzierung durch überteuerte Auftragsvergabe in Staatsunternehmen oder als Gegenleistung für politische Gefälligkeiten an Großunternehmen. Zwar ist der Einwand richtig, dass es Korruption immer schon gab und dass die Konservativen ebenso viel oder noch mehr abzweigten. Doch die PT regierte in den Jahren, in denen das Fass überlief. Die Kritik, dass die Rechte die Korruptionsermittlungen als politisches Kampfmittel nutzen, ist ebenso richtig wie unzureichend, das eigene Verhalten zu rechtfertigen.
Für viele ist die PT deswegen unwählbar. Gefühlt ist sie für manche auch für die lang anhaltende Wirtschaftskrise verantwortlich, für die ausufernde Gewalt vor allem in den Großstädten, für die Arbeitslosigkeit. Dies wird der Erfolgsgeschichte der PT-Regierung zwar nicht gerecht, ist aber der wunde Punkt, den der populäre Rapper ansprach: Eine Partei, die gerade die Armen hinter sich weiß, und trotz heftigem medialen Gegenwind vier Präsidentschaftswahlen nacheinander gewann, muss ist der Lage sein, auf die Menschen zuzugehen statt sie rechter Bauernfängerei zu überlassen.
Laut Meinungsforscher*innen war es just der Stimmenzuwachs in ärmeren Schichten, der Bolsonaro den deutlichen Sieg mit 46 Prozent im ersten Wahlgang Anfang Oktober brachte. Nur im verarmten Nordosten lag Haddad unangefochten vorne. Im Rest des Landes mit über 200 Millionen Einwohner*innen und gerade auch in den Armenviertel großer Städte hatte der Ex-Militär die Nase vorn.
Wirtschaftsliberal und unternehmerfreundlich
Bolsonaro macht keinen Hehl daraus, dass er sich als Kandidat der Bessergestellten und der angeblich allein gelassenen Mittelschicht versteht. Er plädiert für einen Einheits-Steuersatz, hält die meisten Sozialprogramme für überflüssig und orientiert sein Wirtschaftsprogramm an den Ratschlägen von Unternehmensverbänden. Kurz vor der Stichwahl am Sonntag gingen auch seine Fans auf die Straße, am schicken Copacabana-Strand. Kein einziger roten Punkt ist zu sehen, dafür beherrschen die Nationalfarben grün und gelb das Geschehen. Tausende sind gekommen, um dem „Mythos“ Bolsonaro zu huldigen. Auf Transparenten und T-Shirts prangt das Motto seiner Wahlkampagne „Brasilien über alles, Gott über alle“. Andere Sprüche wirken wie eine Warnung: „Stell dich drauf ein, bald ist Bolsonaro dran“. Er selbst bläst auf Kundgebungen bereits zur Jagd auf seine Gegner*innen. Er werde Brasilien „von Linken und PT-Anhängern säubern“. Sein Kontrahent Haddad werde ins Ausland gehen oder „wie sein Idol Lula im Gefängnis landen“.
Am Rand der Demonstration stehen einige von denen, die diese Schicksalswahl voraussichtlich entscheiden werden. Keine Bolsoninios, wie seine überzeugten Wähler*innen und aktiven Unterstützer*innen genannt werden, aber eher konservativ und auf alle Fälle PT-Gegner*innen. „Mein Kandidat hat es nicht in den zweiten Wahlgang geschafft. Ich wähle nun Bolsonaro, was soll ich anderes tun?“ sagt die Bankangestellte Amelia Silva. Ja, es sei erschreckend, was der Kandidat manchmal von sich gibt. „Aber wir müssen doch auch an die Wirtschaft denken! Seit Bolsonaro in Führung liegt, sind Börse und der Kurs der Währung im Aufwind.“ Um das Ansehen Brasiliens unter einem solchen Präsidenten macht sich Silva schon Sorgen. „Es ist eine schreckliche Wahl“, murmelt sie und wendet sich ab.
„Brasilien über alles“
Viele fragen sich, wie es kommt kann, dass in einem so großen und eigentlich weltoffenem Land wie Brasilien plötzlich über 80 Millionen Menschen für einen offen faschistoiden Politiker stimmen wollen. Enrique Douglas verlangsamt seinen Schritt, nachdem er zuerst zügig von dem Bolsoninio-Aufzug fortkommen wollte. „Brasilien ist nicht so, wie es von außen wirkt. Es ist ein zutiefst rassistisches Land, in dem die Sklavenzeit bis heute fortwirkt.“ Dies sei die Ursache für die extreme Ungleichheit und zugleich für eine Elite, die Amok laufe, seitdem die PT ihr die Macht aus den Händen nahm. „Viele Pitbulls wurden von der Leine gelassen, um die alte Ordnung wieder herzustellen. Doch die Pitbulls beginnen schon jetzt, ihre eigenen Herrchen in die Wade zu beißen“, sinniert Douglas.
Douglas lebt in der Rocinha, einer der größten Favelas auf den Hügeln direkt am Rande der Reichenviertel. Ihn überrascht nicht, dass Bolsonaro so viel Zulauf hat. „Seine Stimmen bekommt er von drei Gruppen: Zum einen diejenigen, die genau wie er erzkonservative Werte haben und diese mit Ausgrenzung und Gewalt durchsetzen wollen.“ Die zweite Gruppe seien die Anhänger*innen evangelikaler Kirchen, die explizit zur Wahl Bolsonaros aufrufen und mit ihm ihre Heilsversprechen verbinden. „Und dann noch die Uninformierten, die sich durch seine Favoritenrolle blenden lassen, ihm seinen Sicherheitsdiskurs abnehmen oder durch Fake News – ein in dieser Form völlig neues Phänomen in Brasilien – beeinflusst werden.“
Diese drei Wählergruppen gebe es in allen Schichten, aber unterschiedlich ausgeprägt. Überzeugte gibt es mehr in der Mittelschicht, evangelikale Bolsonaro-Wähler*innen mehr in den Armenvierteln, analysiert der 42-jährige Grundschullehrer. „Und wenn der Groll vieler Unentschiedener gegen die PT bestehen bleibt, heißt Brasiliens nächster Präsident Jair Messias Bolsonaro.“
Am Donnerstag Abend (25.10.) sagte das Umfrageinstitut Datafolha nur noch 56 Prozent der Stimmen für Bolsonaro voraus, ein Minus von drei Prozent innerhalb einer Woche. Ein Wendepunkt, der vielleicht zu spät kommt. Doch die Stimmung im Land scheint sich zu wandeln. Mehrere namhafte Politiker der Mitte wandten sich inzwischen von Bolsonaro ab und werben nun für Stimmen gegen Ultrarechts. Auf den Straßen wird um jede Stimme gerungen. Brasilien steht ein dramatisches Wochenende bevor.
Unterstützt von Pitbulls, Predigern und Fake News greift Bolsonaro nach der Macht von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
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