(Bogotá, 3. Dezember 2023, colombia informa).- Im November feierte der Proceso de Comunidades Negras (PCN), eine Referenzorganisation der Schwarzen Bewegung in Kolumbien, sein 30-jähriges Bestehen. Colombia Informa sprach darüber mit Amanda Hurtado, Anthropologin und Mitglied der Organisation, im Rahmen des Zehnten Nationalrats von Palenque.
Colombia Informa: Welche waren die wichtigsten Aspekte, die beim Zehnten Nationalrat von Palenque zur Sprache kamen?
Amanda Hurtado: Der PCN hat in diesem Rahmen versucht, die politische Agenda der afrokolumbianischen Bewegung der letzten 30 Jahre mit der Arbeit an der Basis in Bezug zu setzen. In den Organisationen, Gemeinderäten und Arbeitsgruppen wurden vor allem vier grundlegende Themen diskutiert.
Erstens: die Beteiligung der sozialen Bewegung an der Wahlpolitik, vor allem aber das Verhältnis zwischen sozialen Bewegungen und Parteiensystemen, das traditionell konfliktbehaftet ist. Die soziale Bewegung tendiert dazu, sich von den politischen Parteien zu distanzieren. Der PCN wurde in den 1990er Jahren bei der ersten Versammlung in Perico Negro gegründet. ‚Keine Mitarbeit in politischen Parteien‘, war eins seiner zentralen Postulate. In jüngster Zeit hat die Position von Francia Márquez als Vizepräsidentin des Landes und Vorsitzende des PCN das Thema in ein neues Licht gerückt. Es stellt sich die Frage, ob das Anti-Wahl-Prinzip des PCN für uns noch aktuell ist oder ob wir die Frage neu diskutieren müssen. Im Moment sieht es so aus, dass der PCN versuchen wird, sich für eine politischen Beteiligung an Wahlen zu öffnen. Genau wissen wir das aber erst nach der Sechsten Vollversammlung im nächsten Jahr. Im Moment sieht es so aus: Ein Teil sagt, dass wir als soziale Bewegung das generelle Anti-Wahlprinzip beibehalten sollen, wobei einige Leute aus dem PCN am Wahlprozess teilnehmen können. Andere sind der Meinung, dass wir uns als gesamte Organisation für eine politische Beteiligung an Wahlen öffnen sollten.
Die zweite Debatte bezieht sich auf die strategische und programmatische Ausrichtung des PCN über die Gebietsrechte Schwarzer Gemeinschaften hinaus. Die Rechte der Gemeinderäte, kollektive Beschlüsse, das Recht auf Beteiligung und Konsultation in Umweltfragen und im Allgemeinen sind wichtige Themen. Es ist eine Agenda, die auf nationaler Ebene entscheidende Fortschritte erzielt hat, zum Beispiel bei der Einbeziehung ethnischer Aspekte in die öffentliche Politik. Aber ich glaube, dass sie auch in eine antirassistische Agenda übergehen muss. Rassismus ist eine seit langem bestehende, im System der kapitalistischen Welt verankerte Macht- und Herrschaftsstruktur. Sie zu beseitigen bedeutet, dass man sich von der liberalen Demokratie, der Teilhabe und der Anerkennung wegbewegt, um zwei grundlegende Fragen anzugehen: Macht und Umverteilung. Die liberale Demokratie ist tatsächlich nicht in der Lage, den Rassismus zu beenden. Wir haben Fortschritte bei der Anerkennung von Gebietsrechten für Schwarze Gemeinschaften gemacht, aber wir haben trotzdem die höchsten Raten an Zwangsvertreibungen. Das wirft die Frage auf, wie die Strategie aussehen soll. Die andere Sache ist, dass der Kampf gegen Rassismus zugleich einen Kampf gegen den Kapitalismus und gegen das Patriarchat impliziert, und ich weiß nicht, wie weit wir damit gehen können. Denn der antirassistische Kampf impliziert auch eine Neudefinition strategischer Allianzen. Hier sind die Bündnisse nicht mehr so klar, auch nicht im akademischen Bereich, weil hier die Privilegien und Interessen der verschiedenen Klassen und Ethnien berührt werden. Eine politische Neuordnung würde eine andere Vorgehensweise erfordern, und ich weiß nicht, inwieweit der PCN diesen Schritt gehen will. In einem offen antirassistischen Kampf voranzukommen, aufzuhören, Rassismus als Menschenrechtsproblem zu behandeln, und zwar in einer marxistischen, strukturalistischen Dimension, die es erlaubt, die Regeln, Praxen und die Logik zu lesen, die hinter diesem System stehen – diese Fragen sind Gegenstand der Debatte, aber wir wissen nicht, wie sie weitergehen wird.
Die dritte Diskussion, die auf der Veranstaltung geführt wurde, betraf die Frage, ob die Vereinten Nationen tatsächlich der richtige Ort für die Mobilisierung der Rechtsagenda sind. Hierzu gibt es zwei Positionen: Die eine Fraktion besteht darauf, dass die UN weiterhin ein Mechanismus für unsere Forderungen sind. Die zweite Gruppe, zu der ich gehöre, ist nach dem Völkermord am palästinensischen Volk der Meinung, dass die UN nicht der richtige Ort sind, weil sie als imperialistisches Organ imperialistischen Befehlen und einer imperialistischen Logik folgt. Es gibt noch eine andere, sehr intensive Debatte, mit der wir ebenfalls nicht sehr weitgekommen sind, denn die Räte von Palenque sind dazu da, programmatische Agenden vorzuschlagen, die politischen Linien werden in der Nationalversammlung definiert. Auf dem Kogress wurden zumindest einige Debatten angerissen, die aber nicht sehr tief gingen.
Bei der vierten Diskussion ging es um geschlechtsspezifische Gewalt. Die Vorstellung des PCN-Gender-Protokolls hat sehr heftige Debatten ausgelöst. Die ältere Generation ist teils sehr reaktionär und hat entsprechend abweisend auf die von den Genossinnen vorgestellten Ideen reagiert. Hier gibt es immer noch einen sehr starken Widerstand. Wir reden kaum über Gender, wir haben noch nicht einmal über Feminismus gesprochen, selbst bei der Gender-Politik, die sogar bei den Liberalen ihren Raum hat, wird gemauert. Stellen Sie sich mal vor, wenn wir mit radikalfeministischen Themen kämen, was das erst für Debatten geben würde.
Dies sind im Wesentlichen die Themen, die auf den Tisch kamen. Das Umweltthema steht weiterhin im Mittelpunkt der Agenda des PCN, der Klimawandel und die Frage, wie man Einfluss auf internationale, multilaterale Organisationen nehmen kann, die zum Klimawandel und zum Umweltschutz arbeiten. Dabei geht es um eine internationale Agenda, die in den multilateralen Sektoren und nicht in der globalen Bewegung verankert ist. Es besteht ein sehr starkes Spannungsverhältnis, das sich auch in allen anderen strategischen Fragen der PCN widerspiegelt.
C.I.: Um auf den programmatischen Einsatz des PCN einzugehen: Ein wichtiger Erfolg der Schwarzen Bewegung war das Gesetz 70 aus 1993. Bis zur gesetzlichen Anerkennung [der Landrechte Schwarzer Gemeinden, Anm. d. Übers.] war es ein schwieriger und mühsamer Weg, und immer noch wird dieses Gesetz diskutiert, zum einen, weil es nicht für alle Schwarzen Gemeinden des Landes gilt, sondern in erster Linie für die Gemeinschaften an der kolumbianischen Pazifikküste, wie die Raizal- oder die Palenquero-Gemeinschaften [Raizales: Selbstbezeichnung der einheimischen Bevölkerung der Inseln San Andrés, Providencia und Santa Catalina, Anm. d. Übers.]. Wie hat sich der Kampf um die Anerkennung aller Gemeinschaften im Gesetz 70 gestaltet, und was ist Ihrer Meinung nach notwendig, damit mehr Menschen von dem Gesetz profitieren?
Amanda Hurtado: Das Gesetz 70 von 1993 war ursprünglich für Schwarze bäuerliche Gemeinschaften an der Küste gedacht, aber im Zuge der organisatorischen und politischen Entwicklung der Bewegung ist es nun ein nationales Gesetz. Es ist nicht nur auf die Pazifikregion beschränkt, obwohl diese ein sehr wichtiger Schauplatz war. Sie war so etwas wie die politische Avantgarde für dieses Gesetz, dort hat es sich über die Zeit entwickelt. Heute haben wir Gemeinderäte im Amazonasgebiet, in Guaviare, im Orinoco, hier, in Cundinamarca, in Boyacá, usw. Es geht also um eine politische Forderung auf Landesebene. Das Gesetz 70 von 1993 hat es geschafft, öffentlich zur Kenntnis genommen zu werden, und das ist sehr wertvoll. Vor dem Gesetz 70 gab es auch schon grundlegende organisatorische Statements, aber seit den 1990er Jahren erlebt die Einforderung von Rechten einen bedeutenden Fortschritt. Ein entscheidender Punkt war vor allem die kollektive Anerkennung von Land, eine historische nationale Forderung, die mit dem Gesetz 70 umgesetzt werden konnte, und heute gibt es diese Möglichkeiten nicht nur für die Pazifikküste, sondern für das gesamte Staatsgebiet. Unser Anliegen hat sich also zu einer nationalen Forderung entwickelt.
C.I.: Sie erwähnten vorher die Verbindung mit anderen sozialen Organisationen. Wie hat sich die Verbindung des PCN mit politischen Entwicklungen und anderen Schwarzen Organisationen entwickelt? Es gibt ja noch mehr Schwarze Initiativen.
Amanda Hurtado: Seit seiner Gründung unterhält der PCN strategische Allianzen mit der indigenen Bewegung. Eine Folge davon war die Teilnahme an der verfassungsgebenden Versammlung. Es gab auch Verbindungen zu breiten sozialen Bewegungen, zum Beispiel zur Initiative Cumbre Agraria, Étnica y Popular, wo der PCN eine wichtige Rolle spielte. Und schließlich ist da das Bündnis mit dem Pacto Histórico. Der PCN hat sich also immer als Teil der linken Indigenen- und Landarbeiter*inneninitiativen verstanden und den Aufbau einer landesweiten sozialen Bewegung mit unterstützt. Innerhalb der Schwarzen Bewegung gibt es immer wieder Spannungen, wir sind keine politisch homogene Gruppe, sondern vielstimmig und durchzogen von Wechselwirkungen zwischen den unterschiedlichen Kräften. Es gibt Bereiche, die gegen den PCN sind und keine gemeinsame Agenda formulieren wollen. Andere sind eher strategische Verbündete in grundlegenden Bereichen, wie der CONPA, der Nationale Afrokolumbianische Friedensrat, wo es eine Friedensagenda gibt. Dort tauschen wir uns mit einigen verbündeten Gruppen aus und schaffen es, gemeinsame Ziele zu formulieren.
C.I.: Eine große Forderung hat mit dem Aufbau und der Stärkung der Autonomie zu tun: Der Staat soll so wenig wie möglich oder am besten gar nicht in Entscheidungen der Volkssektoren und die Politik der sozialen Bewegung eingreifen. Wie hat sich die Stärkung der Autonomie im Fall des PCN gestaltet und wie kann sie noch weiter gestärkt werden?
Amanda Hurtado: Bei der Autonomie ging es eher um den Aufbau von Gemeinderäten, um den dauerhaften Bestand autonomer Lebensräume zu sichern, selbstverwaltete Räume zu schaffen, in denen auch Bildung mit einem Fokus auf ein ethnisches Bewusstsein Platz hat.
C.I.: Ein weiterer Erfolg der Schwarzen Bewegung in Kolumbien ist die Affirmative Action, die im Fall der Schwarzen Gemeinden als historische Wiedergutmachung bezeichnet wird. Das wird sehr ernst genommen und als wichtige Ausdrucksform des Kampfs gegen Rassismus betrachtet. Trotzdem besteht der strukturelle Rassismus fort. Was also können wir tun, um Rassismus in unserer Gesellschaft zu beseitigen?
Amanda Hurtado: Ein wichtiges strategisches Ziel war das Gesetz 70. Ursprünglich ging es darum, Respekt für die historischen Siedlungsräume, die Schwarzen Gemeinschaften und die afrokolumbianische Bevölkerung an sich einzufordern. Damit sollte der strukturelle Rassismus abgebaut werden, der teils darauf gründete, dass das Land, das wir schon immer bewohnt hatten, uns nicht gehörte. Da gibt es einige spannende kollektiver Strategien im Kampf gegen den Rassismus.
Zudem haben wir vor den Obersten Gerichtshöfen, einschließlich des Verfassungsgerichts, sehr nachdrücklich darauf gedrängt und dafür plädiert, Mobilisierungen zu erlauben und neue Rechte zu schaffen, […] wie z.B. die Verordnung 005 von 2009, die den Zusammenhang zwischen Rassismus und dem bewaffneten Konflikt betrifft. Tatsächlich hat der bewaffnete Konflikt eine wichtige ethnische Komponente, denn in Gebieten, die von afrokolumbianischen Mehrheiten oder Schwarzen Gemeinschaften bewohnt werden, gibt es deutlich mehr Massaker und Zwangsvertreibungen mit dem Ziel, die seit langem bestehenden Gemeinschaftsstrukturen zu zerschlagen. Und schließlich: Die Strategie der 2006 gegründeten Beobachtungsstelle für ethnische Diskriminierung, deren Direktorin ich derzeit bin, zielt darauf ab, die Regeln, Praxen und die Logik dieses Schwarzen-feindlichen Rassismus zu analysieren als Form und Ausdruck einer sozialen Struktur, die die sozialen Beziehungen rassistisch auflädt. Wir sind also dabei, an möglichen Strategien und Optionen zu arbeiten.
C.I.: Sie sagten, eine der Schwierigkeiten bei der Auseinandersetzung mit dem Rassismus auf dem Zehnten Palenque-Rat habe darin bestanden zu überlegen, wie man die Agenda für die Beseitigung von Rassismus in das PCN-Programm aufnehmen kann. Dies führt zwangsläufig in den akademischen Bereich, der eindeutig immer noch nach einer weißen Logik funktioniert. Sie haben vor kurzem das Kolumbianische Institut für Anthropologie und Geschichte (ICANH) öffentlich angeprangert, weil es Ihre Arbeit zu den Werken von Aquiles Escalante [kolumbianischer Anthropologie 1923-2003, Pionierforschung zu afrokolumbianischen Gemeinschaften, Anm. d. Übers.] abgelehnt hat. Was wird von Menschen, die in der Wissenschaft als Schwarz gelesen werden, getan, um diesen Rassismus abzubauen, und was ist Ihrer Meinung nach auch künftig notwendig?
Amanda Hurtado: Ich glaube, dass die Wissenschaft nach wie vor ein institutionalisiertes System ist, das der Logik des epistemischen Rassismus und rassischer Hierarchisierung folgt. Außerdem ist sie nach wie vor ein sehr weißes Feld, und immer noch ist die Vorstellung von Sein, von Wissen und von Macht kolonialistisch geprägt. Ich denke, die Wissenschaft bedarf einer antirassistischen Umstrukturierung, es ist an der Zeit, dass die hegemonial, eurozentrisch, weiß und patriarchalisch geprägten Lehrpläne verändert werden, dass die Vielfalt unter den Lehrkräften zunimmt. Die meisten sind weiß, es gibt kaum Schwarze Frauen oder Männer, auch indigene Frauen sind so gut wie nicht vertreten. Die Volkssektoren sind zunehmend von den Machtbereichen getrennt, zu denen auch die Wissenschaft gehört. Wir brauchen eine Wissenschaft, die die Angehörigen der Volkssektoren, die Schwarzen, Indigenen und Landarbeiter*innen einbezieht und ins Zentrum des Wissensaustauschs stellt.
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