Keine Hoffnungen in den zweiten Verfassungsprozess

Leonel Yañez Uribe keine Hoffnung neuer Verfassungsprozess Rechte erstarkt
Kundgebung von Gegner:innen der neuen Verfassung im September 2022. Foto: Ute Löhning

(Berlin, 5. Mai 2023, nd/npla).- Am 7. Mai wählt die chilenische Bevölkerung einen neuen Verfassungsrat. Der chilenische Journalist und Kommunikationswissenschaftler Leonel Yañez Uribe erklärt im Interview, wie sich nach dem Scheitern der neuen Verfassung die politischen Kräfteverhältnisse verschoben haben und warum er keine großen Hoffnungen in den aktuellen, den zweiten Anlauf für einen verfassungsgebenden Prozesses hat.

 

Zwar hatten Ende 2019 Millionen von Menschen in Chile für eine Abkehr vom Neoliberalismus und für eine gerechtere Gesellschaft demonstriert. Doch bei einem Referendum am 4. September 2022 stimmten satte 62% gegen den neuen Verfassungsentwurf, der stark ökologisch, sozial und feministisch geprägt war und in den fortschrittliche Kräfte viel Hoffnung gesetzt hatten. Wie ist die politische Konstellation in Chile heute?

Nach dem Scheitern der neuen Verfassung ist die politische Rechte erstarkt. Das war abzusehen. Sowohl die reaktionären Sektoren als auch die angeblich demokratische oder gemäßigtere Rechte sind viel stärker geworden.
Sie treten wieder mehr so auf wie die Rechte aus der Zeit der Diktatur. Sie denken, dass die Bevölkerung hinter ihnen steht und ihre Politik gut findet. Ex-Präsident Piñera ist kürzlich wieder aufgetaucht. Er hat sich mit anderen rechten Präsidenten und Ex-Präsidenten aus Lateinamerika hier in Chile getroffen …

… und sie haben das Rechtsbündnis “Libertad y Democracia”, übersetzt “Freiheit und Demokratie” gegründet.
Wie wirkt sich diese Konstellation auf die Politik der linken Regierung von Gabriel Boric aus? Kann diese ihre Projekte umsetzen und solidarische System in den Bereichen Bildung, Gesundheit, Pflege aufbauen?

Die Regierungsparteien haben im Parlament keine Mehrheit und müssen deshalb mit den rechten Parteien über alle Projekte verhandeln. Die Rechte blockiert aber Projekte der Regierung von Gabriel Boric. Bei der Steuerreform, einem zentralen Projekt der Regierung, haben die Rechten sich geweigert, zu verhandeln. Die Steuerreform ist nicht durchgekommen. Und deshalb gibt es jetzt auch kein Geld für andere Maßnahmen im Sozialbereich, die darüber finanziert werden sollten: zum Beispiel Projekte im Gesundheitsbereich, geplante Programme für Kinder oder für Frauen.

Gibt es denn auch Erfolge der Regierung Boric?

Ja. Die 40-Stundenwoche wurde beschlossen. Damit hängt auch eine Reform des Rentensystems zusammen, die ist aber noch nicht abgeschlossen. Außerdem sind die Zustimmungswerte von Gabriel Boric wieder etwas gestiegen. Bei der Bekämpfung der Waldbrände konnte er etwas punkten, und auch bei den Vorbereitungen zu Aktivitäten rund um den 50. Jahrestag des Putsches am 11. September dieses Jahres.

Ziemliches Aufsehen hat ja ein Gesetz um den Schusswaffeneinsatz der Polizei erregt. Das Gesetz “Naín Retamal” wurde beschlossen. Es trägt die Namen von zwei getöteten Polizisten und wird in der öffentlichen Diskussion auch “gatillo fácil”, übersetzt etwa “schneller Abzug” genannt. Es senkt die Schwelle für den Einsatz von Schusswaffen seitens der Polizei. Wie kam es dazu?

In der öffentlichen Diskussion dreht sich sehr viel um Kriminalität. Es gab Fälle von getöteten Polizisten und zuletzt ging es um eine Polizistin. Nun wurde dieses Notwehrgesetz beschlossen. Es besagt, dass ein Polizist, der bei einem Einsatz jemanden tötet, nicht festgenommen wird, um den Fall zu untersuchen. Sondern, dass er erst festgenommen wird, wenn bewiesen ist, dass er Schuld hat. An diesem Punkt ist es zu einer Trennung des Regierungslagers gekommen: auf der einen Seite sind da die Parteien des sogenannten “demokratischen Sozialismus”, die für dieses Gesetz sind. Auf der anderen Seite stehen die Abgeordneten der Kommunistischen Partei und des Frente Amplio. Die haben im Parlament gegen diesen Artikel des neuen Sicherheitsgesetzes gestimmt. Im Grunde hat die Rechte hier ihre Agenda durchgesetzt.

Dabei war doch eigentlich eine Polizeireform geplant, weil sehr viele Verstöße seitens der Polizei gegen die Menschenrechte registriert wurden.

Die Carabineros, die chilenische Polizei versucht sich hier reinzuwaschen. Obwohl sie sehr stark kritisiert wurden wegen Verstößen gegen die Menschenrechte und wegen brutalen Einsätzen gegen die Protestbewegung. Außerdem auch wegen Unterschlagung von Geldern, da sitzen einige Polizisten sogar in Haft. Scheinbar ist die Notwendigkeit einer Polizeireform damit abgeräumt. Jetzt stellt sich die Polizei selbst als Opfer dar und fordert Gesetze, die ihnen Rückhalt geben.

Lass uns zuletzt noch über den neuen Verfassungsprozess sprechen. Im Januar wurde eine Expert:innenkommission nach den Kräfteverhältnissen der im Parlament vertretenen Parteien besetzt. Am 7. Mai wird ein weiteres Gremium, der sogenannte Verfassungsrat eingesetzt, der wird von der Bevölkerung gewählt. Wie ist da deine Analyse?

Insgesamt ist das Wahlsystem undemokratisch. In Regionen mit wenigen Einwohnern werden teilweise genauso viele Sitze für den Verfassungsrat gewählt wie in Regionen mit sehr vielen Einwohnern. Wir müssen sehen, wie die Wahlen zum Verfassungsrat ausgehen. Denn die 50 Mitglieder des Verfassungsrats werden über die Vorschläge abstimmen, die die Expert:innenkommission macht.
Es könnte passieren, dass am Ende mehr Rechte in den Verfassungsrat kommen als Linke. Und die Strategie der Rechten ist, im Zuge einer neuen Verfassung möglichst wenig Änderungen zuzulassen. Sie wollen nicht, dass Chile zu einem sozialen und demokratischen Rechtsstaat wird. Sondern sie wollen den subsidiären Staat bewahren, das bedeutet, dass der Markt alles regelt und die Vorherrschaft vor dem Staat hat.

Setzt du Hoffnung in den neuen Verfassungsprozess?

Diese Verfassung wird wieder von der politischen Klasse geschrieben. Die ist aber weitgehend delegitimiert, hat eine sehr niedrige Akzeptanz. Das ist paradox, denn genau gegen diese Politik hatte ja die soziale Revolte aufbegehrt.

Hier gibt es das Interview auch als Audio zum Anhören

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