Umstrittenes neues Polizeigesetz verabschiedet

(Buenos Aires, 11. April 2023, anred/poonal).- Nach einer heftigen Debatte hat das chilenische Parlament am 6. April das sogenannte „Naín-Retamal-Gesetz“ verabschiedet, am 10. April wurde es von Präsident Boric in Kraft gesetzt. Das „Ley Nº 21.560“ ist auch bekannt als „ley Gatillo Fácil“. Mit „gatillo fácil“ („schneller Abzug“) ist das Verhalten von Sicherheitskräften gemeint, die vorschnell ihre Schusswaffe einsetzen.

Das umstrittene Gesetz gewährt der berüchtigten Militärpolizei Carabineros und anderen Sicherheitskräften mehr Handlungsspielraum und gibt ihnen das Recht auf eine „privilegierte legitime Verteidigung“. Außerdem werden mit dem Gesetz die Strafen für Angriffe auf Polizeikräfte erhöht.

Während der umstrittenen Abstimmung hat sich die Regierungsallianz aus den Parteiblöcken Apruebo Dignidad (AD) y Socialismo Democrático (SD in zwei Fraktionen gespalten: Die Mehrheit der Kongressabgeordneten aus Kommunistischer Partei und Frente Amplio, die die ursprüngliche Koalition des Präsidenten bilden, lehnten den Gesetzesentwurf ab. Die Parteien der gemäßigten Linken hingegen, die ursprünglich dem Bündnis Concertación (1990-2010) angehörten, stimmten dafür – genau, wie von der Exekutive gewünscht.

Amnesty International: Rückschritt bei Menschenrechten

Vor der Abstimmung hatte der Vorsitzende von Amnesty International Chile, Rodrigo Bustos, noch gewarnt: „Die Stärkung der Polizeikräfte und der Schutz vor Straftaten im Land ist notwendig; aber ein solch komplexes Problem muss ernsthaft, verantwortungsbewusst und auf Grundlage internationaler Menschenrechtsstandards angegangen werden. Das voreilige Durchwinken des sogenannten „Naín-Retamal-Entwurfs“ ist weit davon entfernt, die strukturellen Probleme anzugehen, unter denen die Carabineros leiden und die in der Krise von 2019 auf dramatische Weise zutage getreten sind. Diese opportunistische Antwort bedeutet einen enormen Rückschritt bei den Menschenrechten.“

Kritik kam auch von den Vereinten Nationen. Der Repräsentant der UN-Behörde für Südamerika, Jan Jarab, erklärte, die Vorschläge des Entwurfs für erweiterte polizeiliche Verteidigungsmaßnahmen „sind mit den internationalen Menschenrechten nicht vereinbar“. Auch er beklagte eine übereilte Verabschiedung des Gesetzes.

Kaum wurde das Gesetz im Parlament verabschiedet, gab es bereits zwei Fälle von „gatillo fácil“ in Chile. In der Gemeinde Coronel in der südchilenischen Provinz Bío Bío hat ein Carabinero einem Mann ins Bein geschossen, der ihn mit einem Messer attackiert haben soll. Im zentralchilenischen San Antonio wurde ein Autofahrer von Carabineros erschossen. Er soll eine Polizeikontrolle umfahren und versucht haben, einen Uniformierten zu überfahren.

Die Entstehung des „Naín-Retamal-Gesetzes“

Der Carabinero Eugenio Naín wurde im Oktober 2020 am Rand einer Straßenblockade im südchilenischen Temuco erschossen. Einen Monat später präsentierte die rechtskonservative Partei UDI einen Entwurf für das Gesetz „Naín“. Im Oktober 2022 wurde der Carabinero-Unteroffizier Carlos Retamal getötet. Daraufhin plädierte die konservative Partei Renovación Nacional mit ihrem Gesetzentwurf „Sargento Retamal“ für eine Strafverschärfung für Angriffe auf Polizist*innen und einen erweiterten Handlungsspielraum für diese im Falle eines Angriffs.

Weitere gewaltsame Morde an Carabineros am 14. und 26. März stießen in Chile auf ein enormes Medienecho und erhöhten den Druck auf Präsident Boric und seine Koalition. Bei der Trauerfeier für die getötete Polizistin Rita Olivares wurde Boric ausgebuht. Wiederholt wurde von ihm verlangt, sich für seine Kritik an Polizeigewalt von Carabineros während des Aufstands zu entschuldigen. Am 5. April wurde schließlich ein weiterer Carabinero getötet.

Mapuche befürchten noch mehr Polizeigewalt

Mehrere Organisationen der indigenen Mapuche warnten, das neue Gesetz werde zu mehr Gewalt seitens der Sicherheitskräfte führen. Sie kündigten jedoch an, sich dagegen wehren zu wollen. Die Regierung Boric sei eine „Marionettenregierung“, die lediglich die repressive Politik seines Amtsvorgängers Sebastián Piñera fortsetze, die dieser seit dem Beginn des Aufstands im Oktober 2019 eingeführt habe: „Nicht die Gewaltwelle hat die repressive Politik Piñeras angetrieben, die jetzt von den Medien in ein Spektakel verwandelt wurde; es ging vielmehr darum, der militarisierten Polizei Garantien zu geben, um gewaltsam gegen die Proteste im Rahmen der Revolte vorzugehen.“

Mit dem Scheitern des progressiven Verfassungsentwurfs im September 2022, der auch eine Niederlage für Boric gewesen sei, habe die Rechte wieder die Initiative ergriffen, so die Mapuche: „Die Regierung ist der Sicherheitspolitik der extremen Rechten ausgeliefert, die heute alle politischen Bereiche dem medialen Spektakel unterstellt hat, das die pacos („Bullen“) als arme Opfer des Verbrechens darstellt. Dabei geraten alle Menschenrechtsverbrechen in Vergessenheit, die während des Aufstands (von den Sicherheitskräften) verübt wurden – ganz zu Schweigen von der systematischen Repression, die seit Jahren in Wallmapu (Gebiet der Mapuche, Anm. d. R.) stattfindet.“

Die Mapuche befürchten, dass das neue Gesetz der Polizei „absolute Straffreiheit“ gewährt. Allerdings sie das für sie „nicht allzu wichtig“ da in ihrem Gebiet seit Mai 2022 ohnehin der Ausnahmezustand gilt.

Schließlich weisen die Mapuche noch darauf hin, dass im Mai die mündliche Verhandlung gegen den inhaftierten Mapuche Luis Tranamil beginnen soll. Dieser sei ohne Beweise des Mordes an dem Unteroffizier Naín angeklagt – dem Namensgeber des Gesetzes. Tranamil solle, „einer Strafe zugeführt werden,wie von der bürgerlichen Medienlandschaft erhofft, die von der politischen, wirtschaftlichen und jetzt auch polizeilichen Macht kontrolliert wird.“

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