(Santiago, 12. November 2019, medio a medio).- Adriana Guzmán verbindet den bolivianischen antipatriarchalen Feminismus der Volksgemeinschaften mit dem Feminismus des Abya Yala (des amerikanischen Kontinents). Gemeinsam mit anderen Genossinnen schloss sie sich im Jahr 2003 während des Gaskonflikts der Bewegung an: Was Patriarchat bedeutet und wieso der Feminismus ein wichtiges Instrument zur Entwicklung neuer Lebensformen ist, habe sie auf der Straße gelernt, erklärt Guzmán. Aktuell kämpft sie gegen den Vorstoß der Milizen, die ungeniert die Verbrennung der Wiphala, der Flagge der indigenen Völker, feierten. Die Tragweite dieser Symbolik in Worte zu fassen lässt das Herz schwer werden. Guzmán spricht über den Staatsstreich und ruft zum Widerstand und zur Unterstützung der Aktivist*innen auf. Von Claudia Korol.
Wie würdest du den Staatsstreich in Bolivien beschreiben?
Das ist ein bürgerlicher, militärischer fundamentalistischer Staatsstreich, der von der Kaste der Unternehmer*innen unterstützt wird. Die Mobilisierungen begannen nach den Wahlen am 20. Oktober, als Evo Morales nach der Auszählung zehn Prozent mehr Stimmen hatte als Carlos Mesa und von Wahlbetrug gesprochen wurde. Teile der Gesellschaft waren unzufrieden, weil Evo sich wieder als Kandidat hatte aufstellen lassen. Als antipatriarchale Feministinnen der Volksgemeinschaften müssen wir unseren Kritiker*innen in diesem Punkt rechtgeben. Wir glauben, dass man Evos Antritt zur Wahl nochmal überdenken müsste. Aber auf der anderen Seite haben die anderen Parteien auch Dinge für sich beansprucht. Carlos Mesa zum Beispiel ist ein Völkermörder. Er war wesentlich an der Eskalation des Gaskriegs 2003 beteiligt und hat sich trotzdem zur Wahl gestellt. Was ist denn das? Selbst ein Völkermörder kann man sich zur Wahl aufstellen lassen, aber zum dritten Mal wiedergewählt werden kann man nicht?
Wer sind die Protagonist*innen des Staatsstreichs?
Auf der einen Seite ist da die Opposition, die das „demokratische Prinzip“ vertritt und sich über den angeblichen Wahlbetrug empört; an ihrer Spitze steht Carlos Mesa, der Vizepräsident von Gonzalo Sánchez de Losada, mitverantwortlich für die Eskalation des Gaskriegs. Diese rückständigen Oppositionellen, die keine eigenen politischen Ansätze, kein Profil haben und während der Jahre des politischen Wandels immer mehr an Substanz verloren haben. Die Parteien angehören, deren Abkürzungen heutzutage schon keiner mehr kennt – die sammeln sich nun hinter Carlos Mesa und stellen ihn zum Kandidaten auf. Das ist also die so genannte Opposition, die Stimmen derer, die die MAS (Movimiento al Socialismo) infrage stellen.
Die andere Gruppe sind die rechten Faschist*innen des Bürgerkomitees von Santa Cruz, angeführt von Luis Fernando Camacho. Da haben sich die Unternehmer*innen in einer Dachorganisation zusammengeschlossen, um ihre Interessen zu sichern, indem sie auf die Erarbeitung von Gesetzen einzuwirken. Das Bürgerkomitee vertritt Unternehmer*innen, Oligarch*innen, Großgrundbesitzer*innen, Partner*innen von Großkonzernen im Osten Boliviens. Der Osten des Landes wird dominiert von Großgrundbesitzer*innen, die ihren Länderreichtum der Diktatur zu verdanken haben. Die indigenen Völker, die Migrant*innen aus La Paz und aus anderen Regionen, Aymaras und Quechuas mussten die Ländereien für sie bewirtschaften. Es ist die wirtschaftliche Opposition, die den Staatsstreich anführt. Luis Fernando Camacho hat außerdem mit dem organisierten Drogenhandel zu tun. Er ist der Sohn eines Paramilitärs, der für die Diktatur gearbeitet hat. Das sind die Leute, die diesen Staatsstreich angeführt haben.
Nicht überall im politischen Spektrum spricht man von einem Staatstreich. Warum verwendet ihr den Begriff?
Erstens, weil gezielt daran gearbeitet wurde, das Land gesellschaftlich und politisch zu destabilisieren und an verschiedenen Orten mit bewaffneten Gruppen Angst zu schüren. Bewaffnet heißt: mit Schusswaffen, Helmen und Schutzschilden. Hochschulgruppen, halbstaatliche Organisationen, paramilitärische Zusammenhänge, faschistische, rassistische Gruppen, die es seit 2008 gibt, wie die Unión Juvenil Cruceñista [rechtsextreme Jugendorganisation von Santa Cruz] wurden mobilisiert. Angst verbreiten, politische Destabilisierung – das sind die wesentlichen Kennzeichen eines Staatsstreichs. Sich mit der Polizei verbünden, die in den Straßen randaliert. Das Militär hinzuziehen, das sich in den Straßen ausbreitet, angeblich, um das Volk zu schützen. Welches Volk? Das Volk, das Luis Fernando Camacho hinter sich gesammelt hat. Ds sind die Kennzeichen eines Staatsstreichs. Und nach Evos Rücktritt zieht nicht Carlos Mesa in den Regierungspalast ein sondern Luis Fernando Camacho, der Vertreter der Unternehmer*innen, der Kirche, der schlimmsten Fundamentalist*innen des Landes. Er ist es, der die Fahne hisst, die Bibel auf den Tisch knallt und die Militärjunta einberuft und mit den bürgerlichen, „ehrenwerten“ Personen zusammenbringt.
Insofern hat dieser Staatsstreich klassische Aspekte wie die Präsenz des Militärs und der Polizei, aber auch außergewöhnliche wie die Förderung von Zusammenstößen innerhalb der Nachbarschaft durch gezielte Zuspitzung rassistischer Tendenzen. Die Leute sind mit Forderungen wie „Indios und Gauner raus aus der Regierung“ unterwegs. Alle, die indigene Züge im Gesicht tragen, werden der MAS zugeordnet. Besonders wir indigenen Frauen*. Dieser Staatsstreich ist auch ein Angriff auf uns Frauen*, auf die sozialen Organisationen. Deshalb die Einschüchterungen, die Erniedrigungen. Es ist ein doppelter Angriff: Es geht nicht nur gegen den Staat, gegen die Regierung, sondern auch gegen die sozialen Organisationen.
Wie bewertete ihr als antipatriarchale Feministinnen der Volksgemeinschaften die Regierung Evo Morales?
Wir haben den Wandel mitgetragen, wir haben ihn mit ermöglicht. Der antipatriarchale Feminismus der Volksgemeinschaften ist durch diesen Wandel entstanden. Die wichtigsten Debatten haben in der verfassungsgebenden Versammlung stattgefunden. Das Konzept der multinationalen Gesellschaft, die Anerkennung der Völker, unsere Autonomie und unsere Selbstbestimmung. Heute gibt es autonome indigene bäuerliche Gemeinden. Mit vielen beschränkenden Auflagen zwar, aber immerhin: Die Wiedergewinnung unseres Territoriums ist im Prozess; das war es ja, was die Völker sich gewünscht hatten. So wie es in der Verfassung steht: ein gemeinschaftsbasierter Staat, eine gemeinschaftsbasierte Wirtschaft. Artikel 338 spricht von der nicht entlohnten Arbeit von Frauen*, davon, dass Arbeit Reichtum schafft und deshalb durch Staatsgelder ausgeglichen werden muss. Die Ergebnisse der Debatten flossen in die Gesetzgebung ein, die wiederum in Programme und konkretes Handeln.
Aber die Regierung Morales steht doch auch wegen ihrer Haltung zum Extraktivismus in der Kritik, richtig?
Da haben auch wir unsere wesentliche Kritik: im wirtschaftlichen Bereich. Die kapitalistische Grundordnung des Systems wurde nicht verändert, die Interessen der Unternehmer*innen, der großen Vieh- und Holzhändler nicht wirklich beeinträchtigt. Das steht fest. Es gab auch Verträge mit 100-jähriger Laufzeit, und keine politische Entscheidung zur Verstaatlichung der Minen; das war eine unserer Forderungen. Trotzdem sind wir, was die Anerkennung der indigenen Völker angeht, ein großes Stück weitergekommen, auch im Hinblick auf Bildung und unsere politische Organisierung. Veränderungen, die wir erreicht haben, ohne staatliche Unterstützung, manchmal auch gegen den Widerstand des Staates.
Kann eine Feministin einen Präsidenten unterstützen, der als Macho eingeschätzt wird?
Wir Feministinnen haben große Kritik an Evo Morales, wegen seiner Wirtschaftspolitik, wegen des Extraktivismus und auch, weil er ein Macho ist. Trotzdem ist es uns lieber, ihn als Präsidenten zu haben, weil sich etwas von uns in ihm widerspiegelt, anders als bei einem weißen Präsidenten wie Macri, der den Unternehmer*innen und den Oligarch*innen in die Hände spielt. Das ist nicht rein rational, wir spüren diesen Unterschied in unseren Körpern. Uns hat es viel bedeutet, Evo als Präsidenten zu haben. Damit einher ging für uns und unsere sozialen Organisationen ein Prozess der Selbstaufwertung in unserem Alltag, es war ein anderes Gefühl, in den Spiegel zu blicken und uns als das zu sehen, was wir sind. Und genau da setzt dieser Staatsstreich an. Deshalb die Demütigungen, der exemplarische Charakter der Gewalttaten und die Verbrennung der Wiphala.
Welche Bedeutung hat Rassismus als strukturelle Komponente des Staatsstreichs?
Der Umbruch der letzten Jahre stand vor allem im Zeichen der Dekolonisierung. Das war in der Bildung ebenso zu spüren wie in der Politik, auf staatlicher Ebene und in den Organisationen, in der Wiederbelebung alter Traditionen und vor allem in einem epistemologischen Wandel, bei dem es darum ging, unsere Form des Denkens, die Form der Machtausübung zu verändern. Dabei haben wir es trotzdem versäumt, uns mit Rassismus auseinanderzusetzen. Warum? Weil es beim Rassismus um das Ausüben von Privilegien geht. Rassismus bekämpfen bedeutet auch, Privilegien zu beenden, und das betrifft überwiegend die Wirtschaft, die Oligarch*innen, die Großgrundbesitzer*innen, und die waren nicht in der notwendigen Weise gefordert.
Außerdem ist Rassismus ein übergreifendes Phänomen, das sich nicht auf einen bestimmten Bereich oder auf eine Partei beschränkt…
Beispiele für Rassismus findet man auch in Teilen der linken und der feministischen Praxis. Es gibt da eine kolonialistisch geprägte Linke, die denkt, die Indigenen-Verbände, die Bäuerinnen und Bauern seien gut fürs Steinewerfen, für Blockaden, aber nicht, um zu entscheiden, wie wir leben wollen. Das war der Streitpunkt in der verfassungsgebenden Versammlung und auch zwischen dem weißen, bürgerlichen Feminismus der Mittelschicht und dem Feminismus der Volksgemeinschaften. Mit „weiß und bürgerlich“ beziehe ich mich genau auf die Feministinnen, die ihre Kritik mit der Wucht ihrer Klasse, ihrer beruflichen Stellung, ihrer Herkunft, ihres Geldes und ihrer Nachnamen vorgebracht haben. Sie verurteilen die Regierung nicht nur wegen ihrer politischen Fehler sondern wegen ihrer Indígena-Herkunft. Erst gab es den Korruptionsvorwurf, ohne dass ein Wort darüber verloren worden wäre, dass mit dem Gegenkandidat Carlos Mesa ein Völkermörder angetreten war. Im Zuge der darauffolgenden Mobilisierungen wurde das Ganze zur Auseinandersetzung zwischen zwei Typen stilisiert, ohne dass jemand von Rassismus gesprochen hätte. Und nicht nur das. Unsere Proteste gegen Rassismus wurden mit der Behauptung vom Tisch gewischt, der Rassismusvorwurf sei eine von der Regierung gelenkte Kampagne. Als ob unser Land nicht von den Spaniern kolonisiert, überrannt und systematisch geschändet worden wäre. Als könnte man das durch die Gründung einer Partei, in diesem Fall der MAS, einfach auslöschen.
Was verlieren die Frauen* und das Volk durch diesen Staatsstreich?
Was verlieren wir durch diesen Staatsstreich, durch den Angriff auf den plurinationalen Staat, der durch eine christlich-katholische Republik ersetzt werden soll? Es geht darum, eine indígena-geführte Regierung abzustrafen und vermutlich durch eine Militärjunta zu ersetzen, bestehend aus ehrenwerten Persönlichkeiten. Da ist er wieder, der Kolonialismus. Der Indio wird durch Militärs und ehrenwerte Personen ausgewechselt. Der Staatsstreich richtet sich gegen diese Indígena-Regierung, die mit Bauern*organisationen und sozialen Bewegungen zusammenarbeitet. Die wird nun bewusst abgestraft, damit wir nicht noch einmal auf die Idee kommen, dass es möglich sein könnte, sich dem kapitalistischen System zu entziehen, dass es Hoffnung auf ein gutes Leben gibt. Wir sollen uns nicht noch einmal an Selbstbestimmung glauben, uns selbst organisieren und regieren wollen. Wir sollen dieses kapitalistische, neoliberale, patriarchale, kolonialistische System akzeptieren. Das ist die Botschaft.
Wie wird sich das auf die indigenen Volksgemeinschaften auswirken, insbesondere auf die Frauen*?
Wir müssen mit einem absoluten Rückschritt rechnen im Hinblick auf alle unsere Rechte und alles, was wir erreicht haben. Es wird schon über die Streichung bestimmter Gesetze geredet, wie das Gesetz 348, das das Recht auf ein gewaltfreies Leben garantiert und den Femizid als Tatbestand anerkennt. Mit diesem Gesetz waren die Faschist*innen noch nie einverstanden. Für uns stehen alle unsere Errungenschaften, die symbolischen und die realen, auf dem Spiel. Sie werden auch gegen die indigenen Unis vorgehen. Nur durch diesen Umbruch und den Kampf der sozialen Verbände haben wir die indigenen Universitäten, wo die Jugendlichen lernen, was in ihrer Volksgemeinschaft gebraucht wird und danach für die Gemeinschaft arbeiten. Das sind keine Unis, die Unternehmer*innen und Deklassierte hervorbringen, wie die Unis in den Städten. Wir verlieren die Möglichkeit, diesen Umwälzungsprozess gemeinsam mit dem Staat durchzuführen. Aber wir verlieren nicht unsere Hoffnung, unsere Überzeugungen, unsere Träume. In einem faschistischen Staat ist das alles viel schwieriger, aber wir bleiben trotzdem dran.
Wie ist die Lage jetzt, wo Evo Morales im Ausland ist?
Die Putschist*innen übernehmen die Kanäle, die Gemeinschaftsradios und berichten permanent über Plünderungen und Terror im Namen der MAS. Um unseren Widerstand zu delegitimieren und zu verunglimpfen, nutzen sie die Kanäle und behaupten fälschlicherweise, unsere Brüder und Schwestern aus den Volksgemeinschaften seien die Gewalttäter*innen. Die sozialen Verbände plündern nicht, denn sie sind Teil des Volkes, das sich im Widerstand befindet. Sie haben nach La Paz mobilisiert, darauf wurde in der Stadt das Wasser abgestellt. Wir werden uns La Paz zurückholen und unsere Organisation wieder aufbauen.
Was braucht das Volk im Widerstand von anderen Völkern? Was braucht ihr von anderen Feministinnen?
Unsere Botschaft an unsere Freundinnen und Genossinnen jenseits der Grenzen: Wir kennen uns, wir haben einander angeschaut. Wir brauchen vor allem euer Vertrauen in unsere Worte, denn es kursiert die Information, hier habe kein Staatsstreich stattgefunden, es sei alles in Ordnung. Aber es ist ein Staatsstreich, unterstützt von Militärs und Polizei, die die sozialen Verbände einschüchtern. Wir möchten, dass ihr das weitergebt. Dass ihr mit uns fühlt in unserer Erniedrigung, in unserem Schmerz und in unserer Angst vor dem, was die bewaffneten Gruppen hier machen. Wir rufen außerdem zur kritischen Selbstreflexion hinsichtlich der feministischen Positionen auf. Zu denken, es sei überall das gleiche, Evo sei wie alle und das Ganze eine Auseinandersetzung zwischen zwei Machos, beruht auf einer Analyse, die zu kurz greift und die uns blind dafür macht, wie das Patriarchat, der Kapitalismus, die wirtschaftlichen und kolonialen Faktoren arbeiten. Das wesentliche wird übersehen, nämlich, dass man mit dem Faschismus nicht diskutiert. Der Faschismus hört nicht zu, weicht nicht zurück, der Faschismus eliminiert. Mit ihren Demütigungen versuchen sie, unsere Kämpfe zu eliminieren. Wir fordern euch auf, dagegen aufzustehen und einen solidarischen Feminismus der Volksgemeinschaften zu entwickeln, der sich nicht außerhalb von Gut und Böse stellt und der nicht den Rechten in die Hände spielt.
Übersetzung: Lui Lüdicke
Quelle: Página12
Der Staatsstreich spielt Kirchen- und Konzerninteressen in die Hände von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
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