von Gerd Goertz, Mexiko-Stadt
(Berlin, 09. November 2014, npl).- Die Glaubwürdigkeitskrise der mexikanischen Regierung könnte kaum größer sein. Am vergangenen Freitag präsentierte der mexikanische Generalbundesstaatsanwalt Jesús Murillo Karam die Zeugenaussagen dreier mutmaßlicher Mitglieder des Drogenkartells Guerreros Unidos (Vereinigte Krieger). Diese Aussagen legen nahe, dass die seit der Nacht vom 26. auf den 27. September verschwundenen 43 Studenten der pädagogischen Landhochschule von Ayotzinapa im mexikanischen Bundesstaat Guerrero wenige Stunden, nachdem die kommunale Polizei der Städte Iguala und Cocula sie an das Drogenkartell übergeben hatte, hingerichtet wurden.
Asche und Knochenreste in Plastiksäcken in den Fluss geworfen
Im Anschluss wurden die Leichen den Erklärungen nach so lange verbrannt, bis nur noch Asche und Knochenreste von ihnen übrig waren. Die zum Teil aufgefundenen Überreste sollen in Plastiksäcke verpackt in den Fluss San Juan geworfen worden sein.
Doch die vermeintliche Aufklärung des Verbrechens hat den Zorn der Familienangehörigen nur noch verstärkt. Zudem protestierten nach der Massendemonstration vom vergangenen Mittwoch auch am Wochenende wieder in der Mehrzahl der mexikanischen Bundesstaaten und in der Hauptstadt Schüler*innen, Student*innen und andere Teile der mexikanischen Zivilgesellschaft. Neben friedlichen Protesten stand in Guerrero zeitweise der lokale Regierungssitz in der Landeshauptstadt Chilpancingo in Flammen. In Mexiko-Stadt schlugen Demonstrant*innen auf das Hauptportal des überwiegend zu zeremoniellen Zwecken genutzten Nationalpalastes im Stadtzentrum ein und entfachten ein Feuer vor dem Tor.
Kaum Vertrauen in Ermittlungen
Die anhaltende Empörung hat mehrere Gründe. Ständig wechselnde Ermittlungsprozeduren haben die Angehörigen in den zurückliegenden Wochen verzweifeln lassen. Ihr Vertrauen in die Regierung ist gleich Null. Zu oft haben mexikanische Behörden in den vergangenen Jahren Untersuchungserfolge vorgetäuscht. Der Vater eines der Opfer bezeichnete das Regierungsvorgehen am Wochenende als eine „unverschämte Folter“. Letzte Gewissheit über die Herkunft der Knochen- und Aschenfunde wird es wohl erst nach langwierigen DNA-Analysen geben. Die Regierung will die Proben an die Speziallabors der Universität Innsbruck schicken. Die Familienangehörigen der Studenten setzen aber auf das unabhängige argentinische Forensikerteam, das bereits die DNA-Proben von in den vergangenen Wochen im Umkreis von Iguala in geheimen Massengräbern entdeckten Leichen untersucht.
Generalbundesstaatsanwalt Murillo versicherte am Freitag auf der Pressekonferenz, es gäbe keine Belege dafür, dass „die Studenten von Ayotzinapa irgendeiner kriminellen Gruppe angehören oder ihr helfen“. Unterschwellig ließ der erfahrende Politiker so wohlkalkuliert einen Verdacht stehen. Dagegen erklärte er in Anspielung auf die Fusion der lokalen Politik mit dem organisierten Verbrechen in Iguala: „Iguala ist nicht der mexikanische Staat“. Für viele Mexikaner*innen ein Versuch der Zentralregierung, sich aus der Verantwortung zu stehlen.
Generalbundesstaatsanwalt: „Ich bin schon müde“
Nicht unweit der Attacken auf die Studenten übten sich am Abend des 26. September in Iguala stationierte Soldaten und Bundespolizisten im aktiven Nichtstun. Über das nach einmonatiger Flucht inzwischen verhaftete kriminelle Bürgermeisterehepaar von Iguala lagen seit langem Informationen vor – wie in vielen ähnlich gelagerten Fällen im ganzen Land. Doch der Staat griff nicht ein.
Die Pressekonferenz beendete Murillo mit den Worten „ich bin schon müde“. Ein weiterer Affront gegenüber den Familienangehörigen. Ebenso wenig hilfreich ist es, dass Präsident Enrique Peña Nieto sich in der aktuellen Situation zu einer einwöchigen Auslandsreise nach Australien und China aufgemacht hat. Erst vor wenigen Tagen war es zu einem ersten Treffen zwischen Familienangehörigen und dem Präsidenten gekommen. Die gut fünfstündige Begegnung fand in einer angespannten und reservierten Atmosphäre statt.
Explosive Stimmung im Land
Auch nach dem vergangenen Freitag ist der meistgehörte Ruf auf den Demonstrationen immer noch „Lebend haben sie sie genommen, leben wollen wir sie zurück“. Dazu kommen Sprüche wie „Es war der Staat“ oder „Ayotzinapa lebt. Der Staat ist tot.“ Vor allem an den Schulen und den Universitäten gärt es. Die Stimmung in weiten Teilen des Landes ist explosiv.
Mögliche Hinrichtung und Verbrennung der 43 verschwundenen Studenten von Ayotzinapa: Statt endgültiger Aufklärung noch mehr Zweifel und noch mehr Wut von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
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